# taz.de -- Algeriens Geschichte wirkt weiter: Die Kinder von Bab el-Oued | |
> Mit der Kraftprobe zwischen Staatsmacht und Islamisten im Sommer 1991 | |
> begann in Algerien der Krieg, der die Sahelregion bis heute erschüttert. | |
Bild: Studentenproteste in Algier 2019: die Ursachen reichen bis ins Jahr 1991 … | |
Es war ein heißer, schwerer Sommer, in den Straßen mischte sich salzige | |
Mittelmeerluft mit dem süßlichen Gestank verrottender Müllhaufen. Bab | |
el-Oued, der aufrührerische Arbeitervorort von Algier, war damals im Juni | |
1991 noch kein Bürgerkriegsgebiet. Algeriens „Islamische Heilsfront“ (FIS) | |
regierte seit ihrem Sieg bei Algeriens ersten freien Kommunalwahlen 1990 | |
die Gemeinde, in der sie gegründet worden war, als das Regime der | |
Exbefreiungsbewegung FLN (Nationale Befreiungsfront) nach der blutigen | |
Niederschlagung von Sozialprotesten 1988 das Einparteiensystem hatte | |
aufgeben müssen. | |
FLN-Regierung und FIS-Kommunen standen sich feindlich gegenüber, alte gegen | |
neue Zeit. Die Regierung drehte den Kommunen den Geldhahn zu. Die | |
reagierten mit Generalstreik. Die Regierung erklärte den Ausnahmezustand, | |
setzte die für den 27. Juni 1991 vorgesehenen Parlamentswahlen aus und ließ | |
islamische Inschriften an Rathäusern entfernen. Es folgten blutige Unruhen. | |
Ein Vorbote. | |
In Bab el-Oued lebten auf anderthalb Quadratkilometern 200.000 Menschen. | |
Arbeit gab es kaum. In Altbauwohnungen französischen Stils stapelte sich | |
eine Familie pro Zimmer. Die Jugendlichen vertrieben die Zeit auf der | |
Straße und am Strand. Als der Ausnahmezustand kam, durften sie das nicht | |
mehr. Gegen die Armee wehrten sie sich mit Steinen. Die FIS erklärte sich | |
zu ihrem Beschützer. Der Staat erklärte sie zu Terroristen. So entfaltete | |
sich vor 29 Jahren die Bürgerkriegskonstellation, die Algerien im folgenden | |
Jahrzehnt Hunderttausende Tote kosten sollte. | |
Algiers wütende Jugendliche von 1991 unterschieden sich nicht von | |
[1][wütenden Jugendlichen heute]. Wandel lag in der Luft. Islamistischen | |
Terrorismus gab es noch nicht, Verschleierung war die Ausnahme. Die | |
Regierungspartei schwadronierte von Entwicklung und machte das Gegenteil. | |
Die Islamisten schwadronierten vom Paradies, und das nahm man genauso wenig | |
ernst. Als Europäer konnte man sich noch problemlos bewegen. Der Sommer | |
1991, so explosiv er war, war Algeriens letzter Friedenssommer. | |
FIS-Türsteher Mourad vom Rathaus von Bab el-Oued erklärte diesem Autor | |
damals geduldig seine Spinnereien: Die ersten Menschen der Erde seien 31 | |
Meter große Riesen gewesen. Auf der Erde lebten eine Milliarde Juden, die | |
man alle umbringen werde. Die FIS werde Algeriens Wahlen gewinnen, sonst | |
gebe es „totalen Krieg“. | |
## Drohende Barbarei | |
Der letzte dieser Sätze war keine Spinnerei. Aber wer konnte das ahnen? In | |
ihren lauschigen Villen mit Blick auf die Kasbah beklagte zum gleichen | |
Zeitpunkt die intellektuelle Elite bei Whisky und Oliven die Einfalt der | |
Regierenden und die drohende Barbarei. Eine gemeinsame Sprache mit der | |
Jugend suchte sie nicht. Das Unheil nahm seinen Lauf. Der erste Wahlgang | |
der Parlamentswahl fand im Dezember statt, die FIS gewann. Kurz vor dem | |
zweiten Wahlgang putschte im Januar 1992 die Armee. Die antikolonialen | |
Befreier wollten „ihr“ Algerien nicht ihren ungezogenen Kindern überlassen. | |
Die FIS ging in den Untergrund. Sie wollte die wütende Jugend mitnehmen und | |
von unten ihr neues Algerien gründen. Es dauerte, bevor sich daraus der | |
„totale Krieg“ entwickelte. Aber jede Familie der Vorstädte wurde | |
zerrissen. Man musste sich entscheiden: für die Armee oder für den | |
Untergrund. Eine Perspektive bot keiner, nur Erpressung. Auf beiden Seiten | |
kehrten viele Jugendlichen nie zurück. Algerien hat sich von diesen dunklen | |
Jahren nie erholt. | |
Für manche Beteiligten ist [2][dieser Krieg nicht zu Ende.] Am 3. Juni 2020 | |
starb der letzte noch aktive islamistische Kriegsführer jener ersten | |
FIS-Generation. Abdelmalek Droukdel, Chef der „Al-Qaida im Islamischen | |
Maghreb“ (AQMI), fiel in Mali einem französischen Angriff zum Opfer. | |
Droukdel war im Sommer 1991 einer der wütenden Jugendlichen, ein | |
21-jähriger Mathematikstudent aus Meftah am Fuße der Berge auf der | |
stadtfernen Seite des Flughafens von Algier. Man sieht von dort die | |
Flugzeuge in den Himmel über dem Meer aufsteigen, zu Reisen, die für | |
Algiers Jugend mangels Visa unerreichbar sind. Der junge Droukdel schloss | |
sich 1994 dem bewaffneten Kampf an. Zehn Jahre später wurde er „Emir“ der | |
„Salafistischen Gruppe für Predigt und Kampf“ (GSPC), die er 2007 zum | |
Maghreb-Arm von al-Qaida erklärte. | |
Diese Internationalisierung war logisch. Der Krieg in Algerien war | |
verloren, die Islamisten hatten aber in Europa noch Unterstützernetzwerke | |
in der Diaspora, und sie flüchteten über Algeriens Grenzen tief nach Afrika | |
hinein. 2012 übernahm AQMI kurzzeitig die Macht im Norden Malis. Seit 2013 | |
kämpft dort Frankreichs Armee, inzwischen hat der Krieg auch andere Länder | |
erreicht. Westafrikas Sahelregion ist heute Kriegszone. | |
Aus der Machtprobe in Algerien hat sich ein grenzenloser Dreißigjähriger | |
Krieg entwickelt. Die Nachfolger der FIS haben Algerien aufgeben müssen, | |
aber nun bekämpfen sie den Westen auf zwei Kontinenten. Lokale Armeen sind | |
überfordert, Antiterrormilizen wüten genauso brutal wie einst in Algerien, | |
wo für die staatstreuen Milizen im „totalen Krieg“ der Begriff | |
„Ausradierer“ (éradicateurs) geprägt wurde. | |
## Areligiös und modern | |
Ausradiert wurde in Algerien der systemsprengende Islamismus, nicht aber | |
die [3][Hoffnung auf ein besseres Leben], aus der die FIS überhaupt erst | |
entstanden war. Eine neue Jugendprotestbewegung hat 2019 den letzten | |
Präsidenten der antikolonialen Generation zu Fall gebracht und macht | |
weiter. Sie ist areligiös und modern, während das System das alte geblieben | |
ist. | |
Den Krieg in Algerien gewannen die Generäle, nicht aber den Frieden. Sie | |
versprachen dem eigenen Volk immer: Lasst uns in Ruhe, im Gegenzug bekommt | |
ihr Ölgeld ab. Irgendwann sagte das Volk Nein. In den viel ärmeren | |
Sahelstaaten funktioniert nicht einmal das. Weder gewinnt das Militär den | |
Krieg, noch hat die Regierungselite etwas zu verteilen. Die Zeichen stehen | |
auf Sturm. | |
22 Jun 2020 | |
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## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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