# taz.de -- Überlebende über NS-Zeit und das Danach: „Nach 1945 waren die L… | |
> Die Jüdin Marione Ingram hat den Hamburger Feuersturm erlebt und im | |
> Versteck überlebt. Heute agitiert sie in den USA gegen Rassismus. Ein | |
> Protokoll. | |
Bild: Engagiert wie einst ihr Vater: Marione Ingram | |
Die Diskriminierung begann sehr früh in meinem Leben. Als ich drei Jahre | |
alt war, sagte meine Freundin Monika, die im selben Haus wohnte, sie würde | |
nie mehr mit mir spielen, weil ich ein „Judenschwein“ sei. Ich wusste gar | |
nicht, was sie meinte, und habe zu meiner Mutter gesagt: „Ich hab ein Bad | |
genommen, ich bin doch nicht schmutzig. Und ich bin doch kein Schwein, | |
sondern ein Mädchen.“ Meine Mutter hat mir dann erklärt, das wir jetzt | |
diskriminiert würden, dass ich niemandem sagen darf, was ich zu Hause höre. | |
Sie hat mich nie mehr allein nach draußen gelassen. | |
Im selben Jahr wurde mein Vater an eine Straßenlaterne gefesselt und fast | |
totgeschlagen. Mein Vater war kein Jude, und sie wollten, dass er seine | |
jüdische Frau verlässt. Er hat sich geweigert, und da wollten sie ihn | |
zwingen, zur Luftwaffe zu gehen. Er ist aber in den Untergrund abgetaucht. | |
Er war Kommunist – aber nur bis zum [1][Hitler-Stalin-Pakt]. Dann hat er | |
damit aufgehört. | |
Ich wusste schon früh, dass ich vorsichtig sein musste. Im Nachbarhaus zum | |
Beispiel wohnte ein siebenjähriger Junge. Seine Eltern waren vielleicht | |
Antifaschisten, jedenfalls kamen Leute von der Gestapo und sagten zu ihm: | |
„Wenn du erzählst, was deine Eltern reden, kriegst du ein Fahrrad.“ Das hat | |
er getan. Da haben sie die ganze Familie abgeholt und umgebracht. | |
Das muss 1940 gewesen sein. 1941 wurden mein Onkel und andere Verwandte | |
meiner Mutter nach [2][Minsk] deportiert. Eine Woche später meine Oma, | |
einen Tag vor meinem sechsten Geburtstag. Keiner ist zurückgekommen. Auch | |
für uns wurde es immer gefährlicher, weil auch die jüdischen PartnerInnen | |
in „Mischehen“ nicht mehr geschützt waren. Irgendwann haben meine Eltern | |
entschieden, dass wenigstens eine von uns überleben sollte: meine Schwester | |
Helga. Sie war blond und blauäugig, sah sehr „arisch“ aus und würde nicht | |
auffallen. | |
Mein Vater hat sie in Hamburg-Rahlstedt bei Familie Pimber untergebracht. | |
Sie waren Kommunisten und Antifaschisten, aber nicht speziell pro-jüdisch. | |
Deshalb hat mein Vater ihnen erst nicht gesagt, dass Helga Jüdin war. Die | |
Pimbers hatten keine eigenen Kinder und haben sich total in Helga verliebt. | |
Sie hatte es gut bei ihnen. Irgendwann musste mein Vater ihnen dann doch | |
sagen, dass seine Familie jüdisch ist und versteckt werden muss. | |
Das war kurz nach einem einschneidenden Erlebnis: Eines Tages, im Sommer | |
1943, sagte meine Mutter, ich solle meine jüngste Schwester Rena in ihrem | |
Kinderwagen zu einer Cousine meines Vaters in einem anderen Stadtteil | |
bringen. Das kam mir komisch vor, weil ich ja eigentlich nicht rausgehen | |
durfte. Unterwegs kam ich an einem Park vorbei mit einem Schild, auf dem | |
stand „Nur für arische Kinder“. Ich hab die Zunge rausgestreckt und bin auf | |
die Schaukel geklettert. Während ich schaukelte, dachte ich: Irgendwas | |
stimmt nicht zu Hause. Ich hatte auch gehört, dass meine Mutter weinte. | |
Ich bin sofort zurückgegangen. Die Wohnungstür war nur angelehnt. Ich habe | |
sie mit aller Kraft aufgedrückt – und dann roch ich Gas und fand meine | |
Mutter im Gasofen. Ich hab sie rausgezogen, habe die wegen der | |
Bombenangriffe geschlossenen Vorhänge und Fenster geöffnet. Ich hab ihr | |
Rena auf die Brust gelegt, hab ihren Namen gerufen. Ich hab Kartoffeln | |
gekocht, hab alles Mögliche versucht. Endlich sah ich, dass sie wieder | |
atmete. | |
Am nächsten Tag kam die Cousine zu uns und erzählte, dass ein Jude in ihrem | |
Haus Selbstmord verübt hatte. Er hatte den Befehl bekommen, sich für die | |
Deportation nach [3][Theresienstadt] zu melden. Da sagte meine Mutter: „Ich | |
auch. Wir sollen uns in zwei Tagen melden.“ Die Cousine hat Rena genommen, | |
wollte auch mich mitnehmen und in Sicherheit bringen. Ich habe mich | |
geweigert und bin bei meiner Mutter geblieben. | |
Am nächsten Tag begannen die Bombenangriffe auf Hamburg, zehn Nächte und | |
zehn Tage. Es nannte sich [4][“Feuersturm“] oder „Operation Gomorrha“. … | |
eine Bombe unser Dach traf, sind wir runtergerannt, wollten wir in den | |
Luftschutzkeller. Aber der Bunkerwart hat uns nicht reingelassen. Auch die | |
anderen wollten das nicht, und ein grausamer Mann sagte: „Diese Juden sind | |
verantwortlich für alles, die haben uns verraten, du musst sie rauswerfen.“ | |
Danach sind wir Tag und Nacht durch die Flammen geirrt. Sind in eine Kirche | |
gegangen, wurden rausgeworfen. Ich hab so viele Leichen gesehen, in ganz | |
verschiedenen Formen – so, wie sie verbrannt waren. Ich hab auch gesehen, | |
wie brennende Menschen in die Kanäle sprangen. Als sie wieder hochkamen, | |
brannten sie weiter. Später hörte ich, dass die Engländer bei diesem | |
Angriff wirklich Phosphor eingesetzt haben, was kriegsrechtlich verboten | |
ist. | |
Ich selbst habe eine schwere Rauchvergiftung bekommen. Wir waren dann kurz | |
in Hof, und wie wir zurück nach Hamburg kamen, weiß ich nicht. Ich habe | |
klare Bilder vor Augen, weiß aber nicht, ob sie real sind: Ich saß mit | |
meiner Mutter in einem Zug, in dem eine Frau ihr Kind bekam. Um sie herum | |
standen Soldaten, und als das Kind geboren war, haben sie es aus dem Zug | |
geworfen und die Frau geschlagen und beleidigt. | |
## Das Schweigen der Mutter | |
Meine Mutter hat diesen Moment genutzt, um mich aus dem Zug zu werfen und | |
selbst rauszuspringen. Ich wollte meine Mutter später immer fragen: War das | |
so? Erinnere ich mich richtig? Aber sie hat sich ihr Leben lang geweigert, | |
mit mir über diese Zeit zu sprechen. Obwohl wir sie doch gemeinsam erlebt | |
hatten. Ich habe viele Jahre gebraucht, um ihr dieses Schweigen zu | |
vergeben. | |
Nach der Rückkehr aus Hof wachte ich in einem Erdloch auf. Wir waren bei | |
den Pimbers, die jetzt auch uns versteckten. Sie hatten einen kleinen | |
Bauernhof mit einer Gartenhütte. Darin stand ein Bett, in dem meine Mutter, | |
meine Schwester Rena und ich schliefen. In das Erdloch gingen wir, wenn | |
Frau Pimber eine bestimmte Lampe einschaltete. Dann kamen Leute zu Besuch, | |
und wir mussten verschwinden. | |
Wir blieben bis 1945 bei den Pimbers. Welches Risiko sie eingingen, hab ich | |
erst als Erwachsene verstanden. Als Kind mochte ich Frau Pimber nicht. Sie | |
gab uns wenig zu essen und war nicht nett zu meiner Mutter. Einmal, nachdem | |
ich gesehen hatte, wie sie eine Katze ertränkte, bin ich – was mir streng | |
verboten war – rübergehüpft zu einem Weizenfeld. Die Halme waren so hoch, | |
dass man mich nicht sehen konnte. Und da waren so schöne Margeriten, dass | |
ich meiner Mutter – sie hieß Margarete – welche bringen wollte. Ich | |
pflückte und pflückte und dachte, sie wird sich freuen. | |
Auf dem Rückweg fiel mir ein, dass ich ihr die Blumen nicht geben konnte, | |
denn dann würde sie wissen, dass ich nicht gehorsam war. Ich hätte fast | |
geweint, aber dann habe ich mir auf dem Boden ein Bett aus den Blumen | |
gemacht, mich hingelegt und in den Himmel und die Wolken geguckt. Und für | |
einen Moment fühlte ich mich frei von Bomben und Frau Pimber und Angst. | |
Jahre später bat mich mein Vater immer wieder, Frau Pimber zu schreiben und | |
mich zu bedanken. Ich habe es nicht getan, und ich schäme mich dafür. Ich | |
war in diesem kindlichen Verständnis gefangen, dass sie gemein war. Ich war | |
zu jung, um ihr zu vergeben. Und als ich als ich alt genug war zu | |
verstehen, war es zu spät, da lebte ise nicht mehr. | |
## Fürsprecherin der Toten | |
Irgendwann war der Krieg aus. Ich war fast zehn und konnte endlich zur | |
Schule gehen. Aber das war für mich fast noch schlimmer als die Zeit im | |
Versteck: Alle Lehrer waren Nazis. In jeder Unterrichtsstunde hat irgendwer | |
gesagt, dass Juden Untermenschen sind und zu dumm zum Lernen. Meine | |
Kameraden haben mich geschlagen, angespuckt, beschimpft. Ich habe meinen | |
Vater angefleht, mich nicht mehr hinzuschicken. Aber er sagte: „Weil so | |
viele Millionen Menschen gestorben sind, bist du als Überlebende | |
verantwortlich dafür, dass die Leute Bescheid wissen, damit es nicht wieder | |
passiert.“ Aber ich war erst zehn, und viele Jahre lang habe ich meinen | |
Vater gehasst, weil er darauf bestand, dass ich Fürsprecherin all der | |
Holocaust-Toten wurde. Heute bin ich froh, dass er mir beigebracht hat, für | |
andere zu kämpfen. | |
Nach dem Krieg waren wir im „Warburg Children’s Health Home“ in Blankenes… | |
Es war das Heim einer zionistischen Gruppe, die jüdische Kinder aufnahm. | |
Die meisten kamen aus Bergen-Belsen. Helga, Rena und ich waren die | |
einzigen, die noch Eltern hatten. Alle anderen waren ganz allelin. Dort | |
wurden wir zum ersten Mal wie Kinder behandelt. Wir hatten genug zu essen, | |
wurden geliebt und umhegt. | |
Während unserer zwei Jahre dort baute mein Vater Holzhäuser für | |
Flüchtlinge, und meine Mutter arbeitete mit Displaced Persons – DPs –, die | |
aus KZ und Verstecken kamen und ihre Verwandten suchten. Bis sie es eines | |
Tages nicht mehr ertrug. Sie hatte eine Nervenzusammenbruch und sagte: „Ich | |
will kein deutsches Wort mehr hören, kein deutsches Gesicht mehr sehen, | |
lass uns weggehen aus Europa.“ Mein Vater sagte: „Aber wir müssen doch all | |
die kleinen Nazis aufspüren, die noch in den Schulen und anderen | |
Institutionen arbeiten.“ Es endete damit, dass sie sich gütlich scheiden | |
ließen. Denn mein Vater verstand, warum sie gehen musste. Und meine Mutter | |
begriff, dass er den Kampf gegen die Nazis nicht einfach aufgeben und | |
weggehen konnte. | |
Meine Mutter ist 1950 mit Rena nach New York gegangen. Ich kam zwei Jahre | |
später nach, einen Monat vor meinem 17. Geburtstag. Heute bin ich frei, in | |
New York zu sein und zu wissen: Jüdin zu sein ist in Ordnung. Man kann hier | |
alles sein – nur nicht schwarz. Das habe ich durch eine Begegnung mit einer | |
jungen Schwarzen gelernt, die, hoch qualifiziert, nur miese Jobs bekam. | |
Seither engagiere ich mich gegen Rassismus, für die Bürgerrechts-, Frauen-, | |
LGBT-, für die Friedens- und Klimabewegung. Solange es nötig ist. | |
29 Aug 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Kriegsende-vor-75-Jahren/!5680439 | |
[2] /Hamburger-Ausstellung-ueber-vergessenen-Massenmord/!5360123 | |
[3] /Mein-Kriegsende-1945/!5682096 | |
[4] /Archiv-Suche/!255400&s=feuersturm+hamburg&SuchRahmen=Print/ | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
Marione Ingram | |
## TAGS | |
NS-Literatur | |
NS-Verfolgte | |
NS-Widerstand | |
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg | |
Gomorrha | |
Anti-Rassismus | |
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg | |
Konferenz | |
Zeitzeugen | |
Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
Holocaust | |
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg | |
NS-Straftäter | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Dokumentarfilm über Operation Gomorrha: Erinnerung, sprich! | |
Zum 80. Jahrestag des schwersten Luftangriffs auf Hamburg zeigt Christian | |
Grasse seinen Dokumentarfilm „Im Gedächtnis einer Stadt – Operation | |
Gomorrha“. | |
Bombenangriff auf Hamburg vor 80 Jahren: Bleibende Leerstellen | |
Eine Tagung beschäftigte sich mit dem Bombenangriff auf Hamburg im Juli | |
1943. Was bedeutet Gedenken an den „Feuersturm“ für die Erinnerungspolitik? | |
Sohn eines NS-Widerständlers über Stärke: „Mein Vater war nur noch Knochen… | |
Detlef Baade ist Sohn eines kommunistischen Widerstandskämpfers. Er trägt | |
das Erbe seines Vaters weiter. Ein Protokoll. | |
Regisseur über seine Kindheit im KZ: „Schaut SS-Leuten nie ins Gesicht“ | |
Der Regisseur Celino Bleiweiß kam als kleiner Junge mit einem gefälschten | |
US-Pass in eine fremde Familie und überlebte so das KZ Bergen-Belsen. | |
Historikerin über Zeitzeugen-Interviews: „Wertvolle historische Quellen“ | |
Die „Werkstatt der Erinnerung“ wurde gegründet, um die Stimmen von | |
NS-Verfolgten zu sammeln. Längst erforscht sie auch jüngere | |
Migrationsbewegungen. | |
Historiker Malte Thießen über Bomben-Gedenken: „Von links wird schärfer ge… | |
75 Jahre nach dem Hamburger Feuersturm erinnert sich die Stadt an das Leid | |
der Bevölkerung – aber auch an das derer, die unter den HamburgerInnen | |
gelitten haben. | |
Nazi-Vergangenheit: „Ich hatte vor Entsetzen kein Gefühl“ | |
Tätertochter Barbara Brix muss damit leben, dass ihr Vater bei | |
Erschießungen in der Sowjetunion zumindest anwesend war |