# taz.de -- Hamburger Ausstellung über vergessenen Massenmord: Vernichtet in d… | |
> In dem Örtchen Malyj Trostenez bei Minsk haben die Nazis zwischen 1942 | |
> und 1944 Tausende Juden auch aus Hamburg, Bremen und Stade erschossen. | |
Bild: Massenerschießung jüdischer Frauen, Männer und Kinder am 14. September… | |
HAMBURG taz | Das KZ Auschwitz war nicht das Schlimmste. Denn Auschwitz | |
konnte man überleben. Dieser Satz klingt zynisch angesichts der Millionen | |
Menschen, die von Schergen des NS-Regimes ermordet wurden. Trotzdem ist er | |
wahr. Denn so wirkmächtig der 27. 1. 1945 als Tag der Auschwitz-Befreiung | |
durch sowjetische Soldaten auch ist: Auschwitz/Oświęcim war kein reines | |
Vernichtungslager, sondern ein KZ, das – allerdings unter kalter | |
Inkaufnahme des Todes der Gefangenen – deren Arbeitskraft ausbeutete. | |
Bei den reinen Vernichtungslagern – Bełżec, Chełmno, Sobibór – an der | |
heutigen polnischen Ostgrenze war das anders: Sie waren Tötungsanstalten, | |
die fast niemand überlebte. Deshalb wissen wir so wenig darüber. Wer sollte | |
davon erzählen? | |
Dieses Schweigen setzt sich nach Osten fort: Wenige überlebten die | |
Erschießungen im ukrainischen Babij Jar bei Kiew, wenige den weißrussischen | |
Vernichtungsort Malyj Trostenez bei Minsk, dem derzeit eine Ausstellung in | |
Hamburg gilt. Auch in der Nähe der Gettos im litauischen Kaunas und im | |
lettischen Riga gab es Wälder und Schluchten, in denen die SS und | |
Spezialeinheiten Juden, Sinti, Roma, Oppositionelle, Partisanen, ganze | |
Dörfer vernichtete. | |
Erst seit rund 20 Jahren, als sich mit dem Eisernen Vorhang die Archive der | |
Ex-Sowjetunion öffneten, können Historiker Details dieser Seite des | |
Massenmords ergründen. Doch bis heute wissen nur Fachleute, dass von sechs | |
Millionen Juden, die das NS-Regime ermordete, die Hälfte nicht vergast, | |
sondern erschossen wurde. Und dass in Weißrussland während des Zweiten | |
Weltkriegs mehr Zivilisten starben als in allen anderen Ländern: rund 1,6 | |
Millionen. | |
Eine dieser Wissenslücken sucht die aktuelle Ausstellung „Vernichtungsort | |
Malyj Trostenez“ zu schließen, die derzeit in Hamburgs Hauptkirche St. | |
Katharinen zu sehen ist und zunächst in Deutschland, im Frühjahr 2017 auch | |
nach Minsk touren soll. Vom Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk | |
(IBB) als deutsch-weißrussische Kooperation initiiert, führt sie in Texten | |
und Fotos ein Grauen vor Augen, das man schwer erträgt. Und zwar vor allem | |
deshalb, weil man nach 75 Jahren endlich das Ausmaß des NS-Massenmordes zu | |
kennen glaubte. | |
Aber so ist es nicht: 50.000 bis 200.000 Menschen – die Zahlen variieren | |
stark – wurden zwischen 1942 und 1944 in dem hierzulande unbekannten Ort | |
ermordet. Dort war einst ein Gut, später eine landwirtschaftliche | |
Sowjet-Kolchose, die die Deutschen nach dem Einmarsch im nahen Minsk zum | |
Zwangsarbeiterlager umfunktionierten. 200 bis 900 Häftlinge sollten hier | |
die deutschen Besatzer mit Essen versorgen – zunächst nur das. | |
Doch dann griff die kalte Logistik des NS-Regimes: Da ständig Tausende | |
Juden aus West- und Osteuropa gen Osten deportiert wurden und das Getto | |
Lódż bald überfüllt war, ließ die SS im Wald Blagowschtschina bei Malyj | |
Trostenez eine weitere Grube für Massenerschießungen ausheben. Opfer wurden | |
Juden aus Deutschland, Österreich, Böhmen und Mähren; viele erschoss die SS | |
gleich nach der Ankunft, unterstützt von lettischen und weißrussischen | |
Kollaborateuren. Die Zwangsarbeiter in Malyj Trostenez mussten dann die | |
Kleidung der Toten sortieren, später auch die Gas-LKW reinigen, in denen | |
weitere Menschen ermordet wurden. | |
Parallel lebten im nahen Getto Minsk zunächst 60.000 weißrussische Juden. | |
Als die SS Platz für neue Deportierte aus Westeuropa brauchte, erschossen | |
die Besatzer Tausende von ihnen. In ihre Häuser zogen ab November 1941 rund | |
7.000 Neuankömmlinge aus Mitteleuropa. Die ersten waren Hamburger Juden, im | |
neben dem Hauptgetto gelegenen „Hamburger Getto“ zusammengepfercht, – und | |
hier schließt sich der Kreis zur aktuellen Ausstellung: Vor 75 Jahren, am | |
8. 11. 1941, brachte die Reichsbahn 966 Hamburger Juden nach Minsk, von | |
denen 952 umkamen. „Die Überlebenschance war minimal“, sagt Detlef Garbe, | |
Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. | |
Zehn Tage später, am 18. 11. 1941, folgte ein zweiter Deportationszug aus | |
Hamburg. Die Hälfte waren Hamburger Juden, die anderen stammten aus Bremen | |
und Stade. Auch sie starben fast alle. Aber man kennt die Namen. Und die | |
sollen, wenn der Gedenkort Hannoverscher Bahnhof am Lohseplatz in Hamburgs | |
Hafencity 2017 fertig ist, auf einer Tafel verzeichnet werden. | |
Was dort nicht stehen wird: Wo und wie diese Menschen umgebracht wurden, | |
denn neben Malyj Trostenez – einem der größten NS-Vernichtungslager im | |
Osten – gab es noch andere Mordstätten um Minsk herum, sagt | |
Holocaust-Forscher Christian Gerlach von der Uni Bern. | |
Und vermutlich eine Menge weiterer, vielleicht noch nicht gefundener | |
Massengräber, die die SS, als der Zweite Weltkrieg absehbar verloren war | |
und die Sowjet-Armee vorrückte, zu vernichten suchte: Zwischen Oktober und | |
Dezember 1943 mussten Zwangsarbeiter die verscharrten Leichen von Malyj | |
Trostenez ausgraben und in der nahen Anlage Schaschkowka verbrennen – | |
„Enterdung“ beziehungsweise „Sonderkommando 1005“ hieß die Aktion. Die | |
Zwangsarbeiter – unerwünschte Augenzeugen – erschossen die Deutschen gleich | |
danach. | |
Und damit wirklich keine Spur von Malyj Trostenez blieb, erschoss die SS im | |
Juni 1944 auch noch über 6.000 Minsker Gefangene und die letzten | |
verbliebenen Häftlinge in einer Scheune und zündeten sie an. | |
Bekannt ist das alles nur, weil einige wenige überlebten – tagelang | |
zwischen Leichen versteckt. Und weil eine sowjetische Sonderkommission 1944 | |
Bewohner der umliegenden Dörfer befragte und daraufhin Teile der | |
Massengräber fand und öffnen ließ. | |
Das hinderte die weißrussischen Autoritäten aber nicht daran, den | |
Erschießungswald Blagowschtschina nach dem Krieg als militärisches | |
Übungsgelände und teilweise als Müllkippe zu nutzen. | |
Doch der Hamburger schweige darüber. Schließlich wurde das Gelände des | |
einstigen KZ Neuengamme bis 2006 weiter als Gefängnis genutzt; die | |
Gedenkstätte entstand erst auf massives Betreiben der Opferverbände. Und | |
noch immer, sagt Historiker Gerlach, sei das Gedenken hierzulande | |
„nationalistisch, weil auf deutsche Opfergruppen fokussiert. Sonst müsste | |
man viel mehr über die nach den Juden zweitgrößte Opfergruppe reden: die | |
sowjetischen Kriegsgefangenen.“ | |
Demgegenüber wurde in Weißrussland jahrzehntelang vor allem der eigenen | |
Zivilisten, der ausgelöschten Dörfer und der Widerstandskämpfer gedacht, | |
dem Partisanen Jewgenij Klumow sogar eine Briefmarke gewidmet. An jüdische | |
Opfer erinnerte dagegen lange nur das Denkmal „Jama“ – „Grube“ –, e… | |
Obelisk für 5.000 Juden, die die Deutschen allein am 2. 3. 1942 im Minsker | |
Getto ermordeten. | |
Die authentischen Orte – Malyj Trostenez, der Wald Blagowschtschina und der | |
Leichenverbrennungsort Schaschkowka – lagen weitgehend brach. Einige karge | |
Obelisken stehen in der Nähe; weiße und gelbe Zettel mit den Namen der | |
Ermordeten flattern an den Bäumen. | |
Doch das soll bald anders werden: Mit Hilfe deutscher und weißrussischer | |
Staats- und Stiftungsgelder soll, betreut vom IBB, ein weiterer Gedenkort | |
entstehen, entworfen vom Shoah-Überlebenden und Architekten Leonid Lewin. | |
„Weg des Todes“ wird sein Parcours heißen, der an stilisierten | |
Eisenbahnwaggons mit Opfernamen vorbei zum einstigen Erschießungsort führt, | |
einem schwarzen, leeren Platz. Und auch wenn es bis zur Einweihung noch | |
dauern wird und Weißrussland lange zögerte – der Anfang ist gemacht: | |
Konstantin Kostjutschenkos Monumental-Skulptur „Pforte der Erinnerung“, | |
Gefangene hinter Stacheldraht zeigend, steht bereits. | |
Was bleibt also von der Hamburger Schau, die ihrem Bildungsauftrag weit | |
besser gerecht geworden wäre, hätte man sie in Hamburgs Rathaus gezeigt – | |
anstatt im abgelegenen St. Katharinen? Neben einer Verdichtung der | |
Täter-Landkarte und der Empathie mit „neu“ entdeckten Opfern die | |
Erkenntnis, dass der NS-Massenmord noch maßloser war als gedacht. | |
28 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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