# taz.de -- Stephan Lessenichs Sachbuch: Das Neue ist noch nicht normal | |
> Der Soziologe untersucht in „Nicht mehr normal“ gesellschaftliche | |
> Vorstellungen von Normalität. Norm und Normalität fallen oft auseinander. | |
Bild: Endlich normale Leute: gesehen bei einer Demonstration der AFD in Berlin … | |
Viele zuckten zusammen, als die AfD im Bundestagswahlkampf 2021 ihre | |
zentrale Werbeparole verkündete. Denn sie war „leider gut“, [1][wie zum | |
Beispiel Stefan Reinecke in der taz befand.] „Deutschland. Aber normal“, | |
hieß das Motto, das im Fernseh-Spot gesetzt wurde, mit dem natürlich gegen | |
alles mobilisiert wurde, wogegen die AfD halt so ist – aber auf der Folie | |
dessen, was immer noch alle quält, ob rechtsradikal oder nicht: die | |
Zumutungen und Unnormalitäten der Coronapandemie. Unter denen, die der AfD | |
zugestanden, dass sie hier einen Punkt klug gesetzt hatte, war auch Stephan | |
Lessenich. | |
[2][Der Soziologe Lessenich, seit vielen Jahren auf renommierten | |
akademischen Posten,] wurde im vergangenen Jahr zum Direktor des Instituts | |
für Sozialforschung in Frankfurt am Main berufen – genau, des Instituts, | |
das mit der [3][„Frankfurter Schule“] Generationen von kritischen | |
GesellschaftsanalystInnen geprägt hat. | |
In seiner ersten Veröffentlichung seit dem Jobwechsel nimmt Lessenich sich | |
den Begriff der Normalität vor, wie er einerseits von AfD und Konsorten | |
dafür missbraucht wird, Ängste und damit Ressentiments zu schüren – und | |
andererseits doch auch zur gesellschaftlichen Selbstverständigung gebraucht | |
wird. „Nicht mehr normal“, das sei das Selbstgefühl der deutschen | |
Gesellschaft, weshalb sie dem Titel gemäß „am Rande des | |
Nervenzusammenbruchs“ siedele. | |
Es war dabei laut Lessenich das Coronavirus, welches den Begriff eines | |
normalen Alltags so erschütterte, dass in den Klüften des allgemeinen | |
Verständnisses dessen, was das Leben der meisten Leute zusammenhält, gleich | |
noch die Widersprüche der sonstigen Großereignisse dieser Zeit | |
wiederauftauchten, die eigentlich gütlich weggebügelt worden waren, siehe | |
Finanz- und Migrationskrise. Russlands Krieg in der Ukraine hat Lessenich | |
miterfasst, aber erkennbar war seine These schon vorher durchformuliert. | |
## Die alte Normalität hat Risse bekommen | |
„Im Kern trügt das Gefühl ja nicht“, schreibt Lessenich. „Im Kern spür… | |
auch all jene, die man keineswegs zum harten Kern der Coronaleugner, | |
Klimaskeptiker oder Fremdenfeinde zählen würde: Die alte Normalität hat | |
Risse bekommen, sie ist brüchig geworden. An immer mehr Fronten verschieben | |
sich die Grenzen des Sag- und Machbaren, immer mehr Gruppen meinen | |
öffentlich mitreden zu müssen und politisch mitgestalten zu können.“ Das | |
Neue sei schon da, aber eben noch nicht normal – „was Tür und Tor öffnet | |
für unkalkulierbare gesellschaftliche Reaktionen“, darunter die zwischen | |
Hysterie und Gewaltlust changierenden Angriffe etwa auf den Corona-Experten | |
Christian Drosten. | |
Sorgfältig arbeitet Lessenich heraus, dass Norm und Normalität durchaus | |
auseinanderfallen – illustriert am schönen Beispiel des | |
Normarbeitsverhältnisses, abgekürzt NAV. Das ist jene tarifgebundene, | |
unbefristete, sozialversicherte Vollzeitarbeit, die in der alten | |
Bundesrepublik vor allem von Männern verrichtet wurde. | |
An dieser Norm richtete sich Jahrzehnte lang ein Großteil der Politik aus. | |
Normalität war dagegen, dass der größere Teil der Bevölkerung, vor allem | |
die meisten Frauen und viele MigrantInnen, ganz anders arbeiteten, | |
„atypisch“ halt. Und Normalität war außerdem, dass alle gemeinsam diese | |
Aufteilung schon in Ordnung fanden – was wiederum die typische Konstruktion | |
von Normalität, von sozialer Akzeptanz ist. | |
Diese stetige, bisweilen ruppige, insgesamt aber recht geschmeidige | |
Konstruktion von bundesdeutscher Normalität geriet nun laut Lessenich | |
spätestens 2008 mit der Finanzkrise ins Stottern. Diese sei mitsamt ihren | |
Ursachen nie gelöst, sondern ihre nächste Runde bloß aufgeschoben worden – | |
Lessenich folgt hier seinem [4][zuletzt ziemlich abgedrifteten | |
Soziologen-Kollegen Wolfgang Streeck] mit dessen 2013 noch gut | |
durchargumentierter These von der „gekauften Zeit“. | |
Wobei Lessenich darauf hinweist, dass nicht nur die Hochvermögenden und | |
SpekulantInnen auch aus der Bewältigung der Finanzkrise noch enormen Profit | |
schlugen. Sondern, dass es auch die „besitzenden Mittelschichten“ sind, | |
nämlich seine Leserschaft und alle anderen, die ebenfalls eine | |
gewinnbringende Verwertung ihres Kapitalbesitzes anstreben, die als | |
„Täteropfer“ die krisenhafte Dynamik verstärken. | |
Analog zum Bild der gekauften Zeit beschreibt Lessenich die | |
Migrationspolitik nach dem eindrücklichen Flüchtlingsjahr 2015, als die | |
Republik in kürzester Zeit hunderttausende Menschen aufnahm, als „gekauften | |
Raum“. Denn was die Merkelregierung teils im Alleingang, teils via | |
EU-Institutionen unternahm, war ja ein schlichtes Draußenhalten: Mit viel | |
Geld wurde die Türkei überzeugt, ein besseres Aufnahmeland insbesondere für | |
Syrerinnen und Syrer zu sein, und Frontex wurde ausgerüstet, die | |
Migrationsfrage noch im Mittelmeer zu klären oder in die libysche Wüste zu | |
verschieben. | |
Ein weiteres Kapitel des mehr oder weniger heimlichen Einverständnisses mit | |
einer Politik, die auf existenzielle Probleme nur mit Verschiebung | |
reagiert, ist natürlich die Klimakrise. So klar es ist, dass eine Ökonomie | |
unter Wachstumszwang unsere Lebensgrundlagen vernichtet, so deutlich ist es | |
doch, dass es auch Individuen unendlich schwer fällt zu schrumpfen, weniger | |
zu wollen. Die Ressourcen, die zu vernutzende Natur würden dabei nicht mehr | |
anderswo geklaut, schreibt Lessenich. Der Versuch etwa, Wasserstoff im | |
großen Stil in Nordafrika für Europa zu gewinnen, sei immerhin ein | |
Fortschritt hin zur „gekauften Natur“. | |
## Der pandemische Ausnahmezustand | |
Der Ukrainekrieg schließlich wirft die Frage auf, was es dieses Mal zu | |
kaufen gibt, damit halbwegs Ruhe ist. Hier hat Lessenich noch kein | |
Stichwort parat. Der pandemische Ausnahmezustand, der uns die Widersprüche | |
des Kapitalismus gleichzeitig hat spüren und doch auch verdrängen lassen – | |
Hauptsache, das Kind ist gesund, lasst mich grad mal mit allem anderen in | |
Ruhe – ließ die Hoffnung auf eine Rückkehr zur Normalität vielleicht noch | |
zu. Danach sieht es nun mit dem Krieg in Osteuropa aktuell nicht mehr aus. | |
Der „zutiefst irrationalen Rationalität“ der Gesellschaft (kursiv im | |
Original) ist mit Lessenich nur die Kraft der Erkenntnis entgegenzusetzen. | |
„Wir sind aufgefordert, die Macht der Illusion zu brechen – der Illusion, | |
dass wir mit den alten Rezepten weiter-, ja auch nur ansatzweise | |
durchkommen könnten.“ Wer darüber hinaus bei Lessenich Lösungen sucht, | |
Auswege, konstruktive Ansätze, Politikvorschläge gar, wird in seinem Buch | |
enttäuscht. Darin steht Lessenich in echter Tradition der Kritischen | |
Theorie. Was immerhin auch eine kleine Form der Normalität ist. | |
20 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Ulrike Winkelmann | |
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