# taz.de -- Soziologe Streeck über Neoliberalismus: Keine Zukunft für Europa | |
> Der Soziologe Wolfgang Streeck analysiert Demokratie und Ökonomie im | |
> ausgehenden Neoliberalismus. Er fordert eine „plebejisch-demokratische“ | |
> Politik. | |
Bild: Für die Gelbwesten hat der Soziologe Wolfgang Streeck durchaus Sympathie… | |
Das [1][Image des Kapitalismus] hat seit der Finanzkrise 2009 schweren | |
Schaden genommen. Diese nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Kommunismus | |
1990 als alternativlos angepriesene Wirtschaftsweise scheint nach einer | |
Phase grenzenloser Expansion an ihre Grenzen gekommen. Der renommierte | |
Soziologe Wolfgang Streeck liefert einen Abgesang auf dieses System. In | |
seinem aktuellen Buch „Zwischen Globalismus und Demokratie“ verspricht er, | |
eine „Politische Ökonomie im ausgehenden Liberalismus“ zu liefern. | |
Den Triumphzug des Neoliberalismus zwischen 1990 und 2009 rechnet er einer | |
bestimmten Gestalt des Kapitalismus zu, die er „Hyperglobalisierung“ nennt. | |
Der Fall der Systemgrenze im November 1989 eröffnete neue Räume für globale | |
ökonomisch-politische Fantasien. Eine einheitliche neue Weltordnung, global | |
governance, schien keine Utopie mehr zu sein. | |
Dafür sollten die Institutionen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs | |
geschaffen worden waren, um den Kapitalismus zu revitalisieren, nutzbar | |
gemacht werden: Weltbank und Weltwährungsfonds. Sie entstammten allerdings | |
einem System, das der Neoliberalismus nach der Energiekrise 1973 | |
erfolgreich bekämpft hatte – einem keynesianisch regulierten Kapitalismus. | |
Hayek, schon nach dem Ersten Weltkrieg der große Gegenspieler von Keynes, | |
hatte ein Wachstumsmodell ausgedacht, das in der Demokratie ein Hemmnis | |
wirtschaftlicher Entwicklung sah. Mit diesen ökonomischen Vorstellungen | |
zogen nach 1973 die neoliberalen Chicagoboys in den gesellschaftlichen | |
Krieg gegen die Mindeststandards wohlfahrtsstaatlicher Regulierung. | |
1974 begann nach Streeck eine „Ära neoliberaler ‚Reformen‘ … – | |
Deregulierung, Marktöffnung, Freihandel, end of welfare as we know it | |
(Clinton), weniger Staat, mehr Markt und ‚schwarze Nullen‘ ohne Ende.“ Die | |
Entfesselung der Marktkräfte, mit den Namen Reagan und Thatcher verknüpft, | |
löste die Stagnationskrise des Westens, unterspülte den Klassenkompromiss | |
des Wohlfahrtsstaates und konkurrierte die Planwirtschaft sowjetischen Typs | |
zu Tode. | |
## Die Beschränkungen des Nationalstaats ignorieren | |
Der Osten offerierte neue Anlagemöglichkeiten, Rohstoffe und Arbeitskräfte. | |
Die Hegemonie amerikanischer Provenienz funktionierte die internationalen | |
Institutionen um, um einen finanziellen und rechtlichen Rahmen abzustecken, | |
in denen die erweiterte Kapitalakkumulation sich über die Beschränkungen | |
des Nationalstaats hinwegsetzen kann. | |
Streeck argumentiert scharfsichtig, dass die kapitalistische | |
Akkumulationslogik entgegen den Versprechungen der neoliberalen Politik von | |
„weniger Staat“ auf den Nationalstaat angewiesen bleibt, um den Erfolg | |
dieser Politik abzusichern. Die Krisen dieses neoliberalen Wachstumsmodells | |
rufen den Nationalstaat immer wieder auf den Plan. Die Coronakrise liefert | |
Streeck geradezu das ideale Material, um die verheerenden Folgen der | |
erweiterten internationalen Arbeitsteilung zu illustrieren. | |
Streeck argumentiert am eindrucksvollsten, wenn er die Verselbständigung | |
der Ökonomie gegenüber den politischen Institutionen kritisiert. Er greift, | |
wie fast alle gebildeten [2][Kritiker des Neoliberalismus], auf Karl | |
Polanyi zurück, der in seinem einflussreichen Buch „The Great | |
Transformation“ die Widersprüche von Marktwirtschaft und Demokratie in | |
Angriff genommen hat. | |
Ob allerdings eine Reparatur des Systems im Streeck’schen Sinne, der einen | |
Polanyi-Keynes-Nationalstaat der Globalisierung entgegensetzen will, | |
möglich ist, hängt von Bedingungen ab, die außerhalb der Streeck’schen | |
Analyse liegen. | |
## Ohnmacht der internationalen Institutionen | |
Er weiß um diese Schwäche seines Textes. Stark ist er immer, wenn es um die | |
Beschreibung der Ohnmacht der bestehenden internationalen Institutionen | |
geht, schwach, wenn er die Möglichkeiten angeben will, wie die losgelassene | |
Ökonomie wieder eingefangen werden kann. Genüsslich zeigt Streeck die | |
Schwächen der Macht des Westens auf, die ihre internationale Potenz mit | |
innergesellschaftlichen Verheerungen bezahlen muss, die wiederum als | |
steigende Kosten der Globalisierung den Profit schmälern. | |
Zu Hochform läuft Streeck auf, wenn er die europäischen Institutionen | |
kritisiert, die von Frankreich und Deutschland dominiert werden. Streeck | |
argumentiert wie ein Brexiteer von links, der wirklich ernsthaft glaubt, | |
mit der Rückkehr zu angeblich gleichberechtigten Nationalstaaten die | |
politische Kontrolle zurückzugewinnen. | |
Als Politischer Ökonom durchschaut er die Problematik des Euro, der nicht | |
nach den Maßstäben der schwäbischen Hausfrau bewirtschaftet werden kann, | |
weil er für den Ausgleich zwischen dem Norden und dem europäischen Süden | |
sorgen muss. Auch in diesem Rahmen steigen die Kosten der | |
Internationalisierung, die eine global gleichberechtigte Rolle Europas mit | |
den USA und China als lächerliche Aspiration erscheinen lässt. | |
Eindrucksvoll illustriert Streeck dies an den selbstständigen europäischen | |
Verteidigungsanstrengungen, die schon von den divergenten außenpolitischen | |
Interessen der führenden Mächte Frankreich und Deutschland konterkariert | |
werden. Europa hat für Streeck keine Zukunft. | |
## Indifferenz gegen die politischen Folgen | |
Völlig unempfindlich zeigt sich Streeck gegen die politischen Folgen seiner | |
Analyse. Diese Indifferenz mag ihn wohl bewogen haben, [3][vor einiger Zeit | |
mit Sahra Wagenknecht zum „Aufstehen“ aufzurufen]. „Populismus“ setzt er | |
gerne in Anführungszeichen, Syriza, Gelbwesten, Occupy erfreuen sich seiner | |
Sympathie. | |
Einen scharfen Ton schlägt er gegen „linksliberale Eliten“ an, deren | |
Ideologen der Soziologe vor allem in den neuen Mittelschichten verortet. Er | |
plädiert für eine Rückkehr zu einer „plebejisch-demokratischen“ Politik, | |
von der ein „take back control“ im wiedergewonnenen Nationalstaat zu | |
erwarten wäre. Will er diese tragende Rolle einer irreversibel | |
schrumpfenden Arbeiterklasse übertragen? | |
Die Infragestellung demokratischer Politik durch die MAGA-Bewegung („Make | |
America Great Again“) scheint Streeck gar nicht wahrgenommen zu haben. Den | |
Aufstieg des globalen Gegenspielers China, der nicht die Priorität in einer | |
erweiterten Kapitalakkumulation sieht, nimmt die Streeck’sche Politische | |
Ökonomie nicht ernst. Ökonomischer Kenntnisreichtum schützt eben vor | |
politischer Torheit nicht. | |
2 Oct 2021 | |
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## AUTOREN | |
Detlev Claussen | |
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