# taz.de -- Nobelpreis für Wirtschaft an David Card: Dogma statt Erkenntnis | |
> David Card erkannte einst: Steigende Mindestlöhne erzeugen keine | |
> zusätzliche Arbeitslosigkeit. Eigentlich eine simple Beobachtung. | |
Bild: McDonalds-Angestellte streiken im Mai in Detroit für den Mindestlohn | |
Es klingt revolutionär: Der diesjährige Nobelpreis für Wirtschaft ging | |
unter anderem an den Ökonomen David Card, weil er nachgewiesen hat, dass | |
steigende Mindestlöhne nicht schaden und keine zusätzliche Arbeitslosigkeit | |
erzeugen. Damit zertrümmerte Card eine der Lieblingsthesen der | |
Neoliberalen, nämlich dass möglichst niedrige Löhne zwingend sind, um | |
Vollbeschäftigung zu erreichen. | |
Card wurde 1956 in Kanada geboren und lehrt heute an der kalifornischen | |
Eliteuniversität Berkeley. Vor fast dreißig Jahren hatte er die | |
entscheidende Idee, die jetzt mit einem Nobelpreis gewürdigt wurde. Er | |
nutzte ein „natürliches Experiment“: Anfang der 1990er Jahre wurde in New | |
Jersey der Mindestlohn von 4,25 auf 5,05 Dollar pro Stunde angehoben, | |
während der Lohn im benachbarten Pennsylvania bei 4,25 Dollar blieb. Durch | |
diese politischen Entscheidungen ergab sich nun eine ideale Laborsituation | |
im realen Leben. Card und sein inzwischen verstorbener Kollege Alan Krueger | |
konnten untersuchen, ob die steigenden Mindestlöhne in New Jersey zu mehr | |
Arbeitslosigkeit führten. | |
Um das Versuchsfeld übersichtlich zu halten, konzentrierten sich die | |
beiden Ökonomen auf Fastfood-Restaurants, denn dort wird meist nur | |
[1][Mindestlohn] gezahlt. Das Ergebnis: Auch in New Jersey blieb die Zahl | |
der Angestellten bei MacDonald’s oder Kentucky Fried Chicken unverändert. | |
Hamburger und Hühnchenschnipsel wurden weiterhin massenhaft verkauft. Damit | |
war bewiesen, dass ein höherer Mindestlohn nicht zu Arbeitslosigkeit führt. | |
## Keine überraschende Ehrung | |
Diese Erkenntnis machte Card und Krueger schlagartig berühmt unter den | |
Ökonomen. Für Beobachter ist es daher keine Überraschung, dass Card nun | |
geehrt wird. | |
Der Nobelpreis für Ökonomie wurde 1968 von der schwedischen Reichsbank | |
gestiftet, die damit ein ideologisches Projekt verfolgte. Sie wollte die | |
sogenannte „Neoklassik“ adeln und zu einer Art Naturwissenschaft befördern. | |
Laien kennen die Neoklassik unter dem Attribut „neoliberal“. | |
Der [2][Nobelpreis für David Card] zeigt nun erneut, wie absurd die | |
Neoklassik ist – und die Vergabepraxis der schwedischen Reichsbank. | |
Zweifellos ist die Beobachtung wichtig, dass steigende Mindestlöhne nicht | |
zur Arbeitslosigkeit führen. Trotzdem handelt es sich nur um eine | |
Beobachtung. Sie erklärt noch nichts. Doch für einen Nobelpreis in der | |
Ökonomie reicht es, dass Oberflächenphänomene zutreffend beschrieben sind. | |
Eine Theorie wird gar nicht erst verlangt. | |
Wie ungewöhnlich dieses Vorgehen ist, zeigt eine Analogie zur Physik. | |
Bekanntlich fällt ein leichter Apfel genauso schnell zur Erde wie ein | |
schwerer Stein. Das ist eine wichtige Beobachtung, denn intuitiv würden | |
viele glauben, dass der schwere Stein eine höhere Geschwindigkeit | |
entfaltet. Nach dem Motto: Die Masse machts. Inzwischen weiß die Physik, | |
warum alle Gegenstände gleich schnell auf die Erde prasseln. Es liegt an | |
der Gravitation, mitsamt ihren theoretischen Verästelungen von Newton bis | |
Einstein. Erst diese Theorie macht die Physik zur interessanten | |
Wissenschaft. | |
Card jedenfalls weiß nicht, warum steigende Mindestlöhne die | |
Arbeitslosigkeit nicht erhöhen. Auch die anderen neoliberalen Ökonomen sind | |
ratlos, wie [3][das Nobelpreiskomitee] in seiner Pressemitteilung indirekt | |
einräumt: „Eine mögliche Erklärung ist, dass Unternehmen die höheren | |
Lohnkosten auf die Preise aufschlagen, ohne dass die Nachfrage dadurch | |
sinken würde … Eine andere Erklärung ist …, dass ein erhöhter Mindestlohn | |
bedeutet, dass mehr Menschen arbeiten wollen, was dann zu höherer | |
Beschäftigung führt.“ | |
## Mindestlöhne locken Arbeitswillige an | |
Diese Sätze klingen so technisch, dass sich der Wahnsinn nicht sofort | |
erschließt. Daher eine Übersetzungshilfe: Die neoliberalen Ökonomen | |
behaupten, dass Menschen freiwillig arbeitslos seien, weil ihnen die | |
Löhne zu niedrig sind. Wenn dann aber die Mindestlöhne steigen, strömen die | |
Arbeitswilligen herbei – und finden prompt einen Job, sodass die | |
Arbeitsmenge insgesamt zunimmt. Die Idee ist also, dass die Zahl der | |
Stellen davon abhängt, wie viele Menschen arbeiten wollen. Man muss kein | |
Ökonom sein, um zu wissen, dass diese „Erklärung“ falsch ist. Da reicht d… | |
eigene Erfahrung bei der Jobsuche, die bekanntlich nicht so läuft, dass | |
eine Stelle vom Himmel fällt, sobald man arbeiten möchte. | |
Ob es Arbeit gibt, entscheidet sich nicht auf dem Arbeitsmarkt. Stattdessen | |
ist zentral, ob die Firmen ihre Produkte verkaufen können – sonst schaffen | |
sie keine Jobs. Es zählt also die Nachfrage in der Gesamtwirtschaft. Das | |
erklärt dann auch, warum steigende Mindestlöhne nicht gefährlich sind. Sie | |
erhöhen die Nachfrage, sodass die Wirtschaft weiter wächst und neue Jobs | |
entstehen. | |
Dieser Gedanke ist denkbar schlicht, aber für neoliberale Ökonomen nicht | |
denkbar, weil dann ihr gesamtes Theoriegebäude einstürzen würde. Denn diese | |
Theorie kreist um Märkte, und es darf nicht sein, dass Marktphänomene nur | |
das Resultat ökonomischen Geschehens sind – nicht aber der Ursprung. | |
Card und Krueger haben mit ihrem „natürlichen Experiment“ einmal mehr | |
gezeigt, dass der gesamte neoliberale Ansatz falsch ist. Da dies aber nicht | |
sein darf, haben sie fortan auf jedwede Theorie verzichtet. | |
Gleiches gilt für die beiden anderen Ökonomen, die diesmal geehrt wurden. | |
Auch sie haben ihre Verdienste, verharren aber ebenfalls bei der | |
Beschreibung. Joshua Angrist vom MIT und Guido Imbens aus Stanford haben | |
statistische Modelle entwickelt, wie sich Korrelationen von Kausalitäten | |
unterscheiden lassen. Unter anderem konnte Angrist zweifelsfrei klären, | |
dass längere Schulzeiten zu höherem Einkommen führen – unabhängig davon, | |
wie intelligent die Kinder sind. | |
Diese Erkenntnis ist wichtig. Aber das Nobelpreiskomitee tut so, als wäre | |
damit erklärt, wie es zu ungleichen Löhnen kommt. Doch so einfach ist es | |
nicht, wie etwa Deutschland zeigt: Noch nie waren die Arbeitnehmer im | |
Durchschnitt so gut ausgebildet wie heute – und trotzdem ist die Kluft | |
zwischen den Beschäftigten größer geworden. | |
Die neoliberale Theorie steckt in einer Sackgasse. Aber das wird die | |
schwedische Reichsbank nicht daran hindern, weitere Nobelpreise zu | |
verteilen. Schließlich geht es hierbei nicht um Erkenntnis, sondern ums | |
Dogma. | |
15 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Wahlkampfthema-Mindestlohnerhoehung/!5797801 | |
[2] /Nobelpreis-fuer-Wirtschaftswissenschaften/!5807642 | |
[3] /Vergabe-der-Nobelpreise/!5804074 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Herrmann | |
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