# taz.de -- Soziologe Heinz Bude im Gespräch: „Das Ende des Neoliberalismus�… | |
> In der Krise begreifen die Menschen, dass sie einander brauchen, sagt der | |
> Soziologe Heinz Bude. Nur die Parteien hätten das noch nicht verstanden. | |
Bild: Denker in Modellpose. Oder umgekehrt? Heinz Bude sinniert über die Deuts… | |
taz: Herr Bude, was vermuten Sie: Ist das Thema Klima mittlerweile im | |
Wahlkampf angekommen? | |
Heinz Bude: Mit der Pandemie und dem Unwetter sind wir in der neuen | |
Normalität auf unserem Planeten angekommen, die von erwartbaren | |
Unerwartbarkeiten bestimmt ist. Wie sich die Globalisierung unserer | |
Kontakte und der Anstieg der mittleren Erderwärmung konkret auswirken, | |
wissen wir nicht und das kann uns auch niemand sagen. | |
Aber Leugner und Nichtleugner der niederfahrenden Ereignisse stimmen darin | |
überein, dass der Boden des Selbstverständlichen brüchig geworden ist. Und | |
zwar nicht, weil das irgendwelche Experten sagen, sondern weil wir das alle | |
so empfinden. Daher rührt die sortierte Skepsis im Wahlvolk. Und zwar in | |
jeder Richtung. | |
Wer in dieser Situation den großen Aufbruch predigt, geht genauso am | |
Empfinden der Leute vorbei, wie die Stillhalter, die auf die Sehnsucht | |
nach Ruhe und Sicherheit in den kleinen Lebenswelten setzen. Es geht um die | |
widersprüchliche Einheit von Aufbruch und Rückkehr. Darin steckt ein | |
anspruchsvoller Begriff von Transformation, der Wirtschaft, Wissenschaft | |
und Politik auf eine neue und andere Weise aneinander bindet. | |
Moment, aber was ist mit der Wechselstimmung, die auch zu Hochzeiten der | |
Pandemie gemessen wurde und durch Klimaängste jetzt erneut da ist? | |
Das halte ich für illusionär. Die Leute wollen doch jetzt nicht in eine | |
Welt, die für sie völlig unbekannt ist. Sie wollen sich nicht „Yes we can“ | |
zurufen lassen, aber auch nicht aufs „Wir schaffen das schon“ einstimmen | |
lassen. | |
Ein Begriff, der mich seit einiger Zeit sehr beschäftigt, ist der des | |
gemeinsamen Lebens. Ich glaube, das ist der Horizont für all das, was uns | |
interessiert, sowohl die Wiedererlangung alltäglicher Verlässlichkeiten | |
nach einer wirklich existenziell einschneidenden Pandemie, als auch die | |
Umstellungen im institutionellen Setting wie im persönlichen Verhalten im | |
Blick auf eine andere Gesellschaft. | |
Und ich finde, wir haben jetzt alle gemerkt, untergründig, wie wertvoll ein | |
Empfinden des gemeinsamen Lebens ist. Ich meine nicht, dass man auf die | |
Straße geht oder dass man sich in einem dauernden öffentlichen Austausch | |
befinden soll, sondern, dass Menschen einander Halt geben, die sich | |
überhaupt nicht kennen, vielleicht auch gar nicht kennenlernen wollen. | |
Aber die sich nach Ritualen treffen und einander wahrnehmen. Wir bestätigen | |
uns gegenseitig darin, dass wir Wir sind. Das ist eine Botschaft, die das | |
definitive Ende des Neoliberalismus markiert. | |
Wir haben nicht den Eindruck, dass die Gesellschaft in letzter Zeit so auf | |
Gemeinsamkeit aus war. Eher, dass viele nichts anderes zu tun haben, als | |
sich voneinander abzugrenzen. | |
Ich glaube eben, dass die Gegenüberstellung von öffentlich und privat uns | |
nicht mehr weiterbringt, weil wir jetzt etwas mitgekriegt haben, das in | |
unser privates wie unser öffentliches Leben eingreift. Und wir wussten, wir | |
meistern diese Bedrohung nicht, wenn wir nur in unserem einzelnen privaten | |
Leben steckenbleiben. | |
Und wir sehen aber auch, dass das nicht einfach durch ein öffentliches | |
Räsonieren zu lösen ist. Wir haben ein geteiltes Empfinden, dass wir hier | |
gemeinsam auf einer Erde leben, die offenbar Gefahren heraufbeschwören | |
kann, von denen wir bislang nur irgendwo gelesen hatten. Diese | |
Erschütterung zeigt uns, dass einem weder relativer Wohlstand noch passable | |
Bildung Schutz bietet. | |
Aber wo entsteht daraus die Gemeinsamkeit? Eine offensichtliche Folge der | |
Pandemie ist doch zum Beispiel, dass die Leute sogar noch mehr Auto fahren | |
als vorher, statt den öffentlichen Verkehr zu nutzen. | |
Das meine ich. Die Grundangst ist im Augenblick, dass sich das gemeinsame | |
Leben nicht von selbst wiedereinstellt. In einer Extremwetterlage von | |
Sturm, Niederschlag oder Hitze oder unter der Bedingung der unaufhörlichen | |
Mutation eines toxischen Virus bedürfen, etwas altmodisch ausgedrückt, die | |
Menschen einander als Mitmenschen. | |
Solche Grundsatz- und Grundangst-Fragen passen aber nicht in die letzten | |
paar Wochen vor einer Wahl, für die es dringend eine griffige | |
Veränderungserzählung braucht. | |
Ja, wir müssen zurückkehren an einen Ort, an dem wir noch nicht waren. Das | |
scheint mir genau das Problem. Wir wollen Rückkehr in ein normales Leben. | |
Aber wenn wir ganz ehrlich sind, wissen wir, dass die Normalität, die wir | |
dann haben werden, eine andere Normalität sein wird und neue Formen des | |
Zusammenwirkens nötig macht. Ich weiß, was Sie jetzt beide sagen wollen – | |
und nein, ich finde auch nicht, dass irgendeiner der politischen Anbieter | |
dieses Problem schon verstanden hat. | |
Aber welche der Parteien hat denn die Aufgabe, die sich stellt, wenigstens | |
ein bisschen verstanden? | |
Ich glaube, es lohnt sich, in denkbaren Koalitionen von Weltbildern zu | |
denken. Was verkörpern die Parteien, welche Grundwerte stellen sie dar, und | |
wie passt das zusammen? So müsste das grüne Milieu sich meiner Ansicht nach | |
ein bisschen mehr mit der FDP beschäftigen, und zwar deshalb, weil man bei | |
der Veränderung unserer Welt durch den Klimawandel total aufpassen muss, | |
dass das Individuum nicht hinten runterfliegt. | |
Das muss man irgendwie unterbringen in dieser neuen Koalition, oder man | |
muss es den Liberalen wegnehmen. Der Fluxus- bzw. Re-Fluxus Künstler und | |
Denker Bazon Brock sagt: Das Einzige, was wir in Europa haben, bevor wir | |
zum Museum werden, ist das Individuum als Quelle von Veränderungen und als | |
Autorität eigener Art. Kein Militär, keine Kirche, keine Partei, sondern | |
die Inspirationen von einzelnen könne zum Ausdruck bringen, was jetzt | |
wichtig ist. | |
Diese kostbare Idee des Individuums brauchen wir, auch wenn wir von neuer | |
Kollektivität und notwendiger Solidarität reden, wenn es darum geht, die | |
Adaption an den irreversiblen Klimawandel zu meistern und dabei die | |
Aufmerksamkeit für die Mutation unserer körperlichen Verfassung nicht | |
verlieren. | |
… für die wir einen komplexen Transformationsbegriff brauchen. Aber | |
welchen? | |
Völlig klar ist, dass es falsch ist, System- und Lebensformtransformation | |
als Gegensätze zu denken und nur das eine zu verlangen, ohne das andere zu | |
tun. Ich würde den Grünen vorhalten, dass sie nach einem guten Gang des | |
Abwerfens von bestimmten Anfangslasten als Weltanschauungspartei im | |
Augenblick merkwürdig blank und hilflos dastehen. Ein geradezu zwanghaft | |
anmutendes positives Denken verstört sogar ihr eigene Anhängerschaft. Keine | |
Spur von Durchatmen und Kraftsammeln. | |
Was also so lange als Erfolgsrezept der Grünen beschrieben wurde – alle | |
mitnehmen, auf die Mitte der Gesellschaft zielen, gute Laune verbreiten – | |
ist also an der Stimmung vorbei? | |
Genau. Es gibt einen Radiosender in Berlin, der macht Werbung mit dem | |
Slogan „Nur für Erwachsene“. Die Grünen sollten sagen, wir machen Politik | |
für Erwachsene: Wir erkennen die Endlichkeit dieses Planeten an. Der | |
Meeresspiegel steigt wirklich. Dieses Ballonhafte und Kreativgewerbliche | |
entspricht nicht der Aufgabe, der sie sich mit Recht und Mut verschreiben. | |
Aber aktuell haben wir es mit Grünen zu tun, die sich gerade nicht trauen, | |
Mucks zu machen, weil sie irgendjemanden verschrecken können. | |
Vielleicht haben wir in Deutschland auch eine verzerrte Wahrnehmung von uns | |
selbst. Natürlich sind alle westlichen Gesellschaften im Augenblick eher | |
konservativ gestimmt. Mehrheiten werden eher rechts von der Mitte gewonnen | |
– die USA machen interessanterweise gerade eine Ausnahme, nachdem sie | |
vorher etwas ziemlich Furchtbares erlebt haben. | |
Dieser konservative Grund, den wir haben, den müssten die Grünen nutzen, | |
nicht im Sinne eines ängstlichen Bewahrens von dem, was ich habe – sondern | |
ein existenzielles Bewahren von dem, was wir alle benötigen. Jungen | |
Erwachsenen ist heute mehrheitlich nicht Liebe, nicht Erfolg, nicht Geld, | |
sondern Freundschaft das Wichtigste. Freundschaft ist selbstgewählte | |
Abhängigkeit. | |
Das trifft den Punkt: Abhängigkeit nicht zu scheuen, Menschen gegenüber in | |
Vorleistung zu gehen, die einem wichtig sind und Verlässlichkeit | |
untereinander zu schätzen. Mit anderen Worten: Dass diese offenkundige | |
Bereitschaft, Verpflichtungen eingehen zu wollen, von den Parteien, auch | |
von den Grünen nicht abgerufen wird, empfinde ich in der Wahlkampfzeit als | |
sozialmoralische Unterforderung. | |
Aber die Erfahrung aus allen Wahlkämpfen ist doch, dass geringste | |
sozialmoralische Anforderungen – Stichwort Veggie Day – bis zum Exzess | |
verhetzbar sind. | |
Ja, ich weiß. Nicht das Vorschreiben, sondern das Eingedenken ist die | |
Voraussetzung wichtiger Veränderungen. Wir schulden einander etwas, weil | |
wir dieses Leben teilen. Und das ist die Grunderfahrung der Pandemie. | |
Damit können Sie die mittlere Generation von heute ansprechen. Die | |
Vierzigjährigen mit den zwei oder drei Kindern, die Homeschooling im | |
Homeoffice bewerkstelligt und die sich gleichzeitig noch um die in ihren in | |
die eigenen vier Wänden verharrenden Eltern gekümmert haben, die haben nach | |
meiner Wahrnehmung durch die Bank eine ziemlich saubere Leistung hingelegt. | |
Diese Generation hat ihre erste echte Bewährungsprobe bestanden. Denen | |
braucht man doch jetzt nicht damit zu kommen, dass Klimapolitik ein | |
einziger Spaß sei. Die haben einen Sinn dafür, dass dieser Planet, der blau | |
genannt wurde, uns braucht und wir ihn jetzt nicht seinem unausweichlichen | |
Schicksal überlassen können. | |
27 Jul 2021 | |
## AUTOREN | |
Barbara Junge | |
Ulrike Winkelmann | |
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