# taz.de -- Soziologe Heinz Bude über Wahlkampf: „Ein großer Sack voll Hoff… | |
> Der Soziologe über die SPD und eine „Schicksalswahl“. Warum Lindner alles | |
> richtig macht – und die Grünen Dortmunds Norden nicht verstehen. | |
Bild: Zukunft? Dortmunds Nordstadt gilt als einer der schwierigsten Bezirke Deu… | |
taz: Herr Bude, Sie kommen gerade aus Dortmund zurück … | |
Heinz Bude: … das war ganz nett, weil ich noch mal die Mentalität des | |
Ruhrgebietes in konzentrierter Form kennen gelernt habe. Auf einen Punkt | |
gebracht: Woanders ist auch scheiße. | |
Wie ist denn dort gerade so die Stimmung im Wahlkampf? | |
Angespannt. Allen ist klar, dass die SPD, die natürlich in Dortmund die | |
Mehrheit gewinnen wird, der Gesellschaft nicht mehr ihren Stempel | |
aufzudrücken vermag. Im Ruhrgebiet herrscht, so mein Eindruck, maßlose | |
Enttäuschung über die Grünen – hinzu kommt mächtige Angst vor der AfD. | |
Weshalb ist man über die Grünen enttäuscht? | |
Ich war im Norden von Dortmund, einem der schwierigsten Stadtbezirke | |
Deutschlands. Mit Schulen, in denen die Eltern fast zu 100 Prozent | |
Hartz-IV-Empfänger sind. Ein Viertel mit vielen neuen Zuwanderern, aus | |
Bulgarien und Rumänien etwa. Irgendwie fühlt man dort, dass die Grünen | |
überhaupt nicht verstehen, was gerade los ist. | |
Was begreifen Grüne nicht? | |
Dass ihr Glaube an eine bessere Welt, die man einrichten könnte, | |
beispielsweise über inklusive Bildung, mit der Realität, die man dort | |
sieht, wirklich gar nichts zu tun hat. | |
Worauf käme es denn an? | |
Man muss die Konflikte zwischen Einwanderungsgruppen erkennen. Die haben | |
mit der Hierarchie des Hier-Seins zu tun. Diejenigen, die schon lange im | |
Land leben, türkischstämmige Deutsche, haben eine bestimmte Art ihres | |
Deutschseins entwickelt. Die können etwa mit den neu eingewanderten Roma | |
und Sinti nicht viel anfangen. Die Türkischstämmigen sagen, vereinfacht | |
gesprochen: „Die sollen sich erst mal hinten anstellen. Wenn die das | |
mitgemacht haben, was wir mitgemacht haben, können wir weiter reden.“ Das | |
heißt Hierarchie des Hier-Seins: Immer der Reihe nach, sonst gibt’s Ärger. | |
Und weshalb kann sich die SPD im öffentlichen Diskurs derzeit nicht | |
durchzusetzen? | |
Die Leute, die für die SPD wichtig sind, hätten gern, dass es eine Partei | |
gibt, die zur Kenntnis nimmt und darüber Ideen hat, dass die | |
Ungleichheitsfrage sich heute mit der Zuwanderungsfrage vermischt und dass | |
daraus Konflikte entstehen, die neue Formen der Konfliktregelung nach sich | |
ziehen. | |
Liegt es also nicht am Kandidaten, Martin Schulz? | |
Ich finde, der setzt eine ziemlich tolle Tour hin, aber man merkt doch, | |
dass Schulz und weite Teile der Sozialdemokratie ihr Land nicht mehr | |
kennen. Sie realisieren die Modernität nicht. | |
Was ist es denn, wofür diese Sozialdemokraten blind sind? | |
Erstens, die Polarisierung in der Beschäftigung. Wir haben sehr viele | |
Leute, die in klassischen arbeiterlichen Positionen tätig sind und denen es | |
ziemlich gut geht. Sie sind im Werkzeugmaschinenbau oder in der | |
Medizintechnik beschäftigt. Sie werden gut bezahlt, sind nachgefragt und | |
genießen Respekt. | |
Und auf der anderen Seite? | |
Ist ein neues Proletariat entstanden, das mit Paketzustellungen, mit Pflege | |
oder auch mit Regalefüllen und Kleideraufräumen in Discountern befasst ist. | |
Mit den tausend Euro, die man da im Schnitt netto im Monat hat, kann man | |
nicht leben und nicht sterben. Aber wichtiger noch: Es gibt keine Aufstiege | |
im Beruf. Man bleibt sein Leben lang auf der Position, auf der man vor 25 | |
Jahren angefangen hat. | |
Welche Fragen sollte sich nun die Sozialdemokratie stellen? | |
Es gibt offenbar eine Spaltung innerhalb der Arbeiterschaft. Die | |
Facharbeiterinnen und Facharbeiter aus der Hochproduktivitätsökonomie | |
wollen einen fairen Anteil an der Wertschöpfung und handeln den mit | |
mächtigen Gewerkschaften im Rücken aus. Die Dienstleistungsproletarier | |
haben niemanden hinter sich, sie sind auf den Schutz des Staates | |
angewiesen. | |
Wie ist dieser Befund mit der Migrationsfrage verwoben? | |
Stellen Sie sich einen Omnibus vor, in dem dieses | |
Dienstleistungsproletariat sitzt. Bei offenen Grenzen ist dieser Omnibus | |
immer voll. Und für die, die drinsitzen, kommt jede Bildung zu spät. Steigt | |
eine Person aus, weil sie im Bereich der Pflege eine Zusatzqualifikation | |
erworben hat, steht schon die nächste zum Einstieg bereit. Es sind lausige | |
Jobs, aber die Nachfrage wächst. | |
Und diese Jobs sind auch geeignet für diejenigen, die neu ins Land kommen. | |
In der Tat. Sie können das sehr schön sehen an diesem Stadtteil im Norden | |
Dortmunds. Die Bildungserfolge dort sind sehr groß. Die Leute, die dort auf | |
eine Schule gehen, schaffen es auf ein Gymnasium eher als in irgendeinem | |
anderen Stadtteil von Dortmund. Aber sobald sie Abitur haben, ziehen sie | |
von dort weg. Und wer kommt nach? Neue Migrationsgruppen. Die Lehrerinnen | |
und Lehrer verzweifeln, weil sie total klasse Arbeit leisten, aber sie | |
fangen immer wieder von vorne an. | |
Gerechtigkeit für Teile der Arbeiterschicht ist nicht möglich? | |
Es gibt keine Gesellschaft ohne Ungleichheit, aber der interessante Punkt | |
ist doch, herauszufinden, welche Ungleichheit von den Leuten als | |
gerechtfertigt angesehen wird. Früher dachte man, alle Probleme werden | |
gelöst, indem alle, die ins Land kommen, irgendwie von den Arbeitsmärkten | |
weggeschluckt werden. Die Letzten, die in dieser Hinsicht sehr erfolgreich | |
waren, waren die Spätaussiedler aus der Sowjetunion und aus Russland. | |
Und nun? | |
Wir werden auf lange Zeit eine Migrationsbevölkerung in der deutschen | |
Gesellschaft haben, die als solche zu erkennen ist. Die wird nicht einfach | |
von der dynamischen Entwicklung auf den Arbeitsmärkten aufgesogen. Deshalb | |
fragen die Leute: Was müssen wir eigentlich für Flüchtlinge und Vertriebene | |
tun, die in den Städten auftauchen? Entwickeln sich Banlieues wie in | |
Frankreich, die uns um die Ohren fliegen? Das wäre Stoff für | |
Sozialdemokraten: zu erkennen geben, was Sache ist, deutlich machen, dass | |
einen das nicht umhaut, und Vorschläge entwickeln, die nach vorne weisen. | |
Spekulativ gefragt: Wäre die SPD auf diese Weise agil, wäre dann auch ein | |
Gutteil der AfD-Präsenz schwach? | |
Absolut. Die SPD weiß, dass bei ihr drei Gruppen zu Hause sind. Die eine | |
wählt sowieso SPD. Die zweite neigt lebensweltlich stark den Grünen zu. Und | |
es gibt eine dritte Gruppe, für die die Themen der AfD nicht fremd sind. | |
Insofern wäre die Vernunft der Sozialdemokratie die Vernunft unserer | |
Gesellschaft. | |
Darf man vermuten, dass Hartz IV nicht mehr der SPD angelastet wird? | |
Ich glaube, die meisten deutschen Wähler wissen, dass Hartz IV ein Problem | |
der Vergangenheit ist – und das neue Dienstleistungsproletariat ein Problem | |
der Zukunft. | |
Ob dem nun so ist oder nicht: Fällt nicht auch auf, dass so viele | |
SPD-Gesichter wie verbraucht wirken, nicht minder bei den Grünen? | |
In der Politik gibt es immer Bedarf an neuen Gesichtern. Christian Lindner | |
inszeniert das derzeit erstaunlich gut. Der gibt dem Publikum zu verstehen: | |
„Ihr kennt mich von früher, aber ich bin ein anderer geworden. Ich bin | |
demütig geworden, ich bin Oppositionsführer in NRW geworden, ich habe die | |
Partei erhalten und habe sie nicht sitzen lassen. Habe sie sogar weggeholt | |
von dieser neoliberalen Verwirrtheit. Und jetzt schaut mich an, wie ich auf | |
diesen Schwarz-Weiß-Plakaten abgebildet bin, und ich bin eigentlich der | |
neue Mann für die deutsche Politik.“ Und viele sagen, warum eigentlich | |
nicht? | |
Nun wird da auch schon gehämt, die Sozialdemokratie sei keine Volkspartei | |
mehr. Immerhin aber hatte Martin Schulz noch demoskopisch 40 Prozent | |
Zustimmung. Was stimmt denn nun? | |
Die SPD bleibt potenziell ein großer Sack voll Hoffnung. Meine | |
ausländischen Freunde sagen: „Ihr habt eine Schicksalswahl jetzt in | |
Deutschland, weil jetzt ausgemacht wird, wie die Chancen nach Merkel | |
aussehen.“ So sehe ich das auch: Das ist eigentlich schon die erste Wahl | |
nach Merkel. | |
17 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2021 | |
taz.wahl17 | |
Sozialdemokratie | |
Dortmund | |
Heinz Bude | |
Lesestück Interview | |
Sozialer Zusammenhalt | |
FDP | |
ThyssenKrupp | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2021 | |
Flüchtlinge | |
taz.wahl17 | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2021 | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2021 | |
taz.wahl17 | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2021 | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2021 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Soziologe Heinz Bude im Gespräch: „Das Ende des Neoliberalismus“ | |
In der Krise begreifen die Menschen, dass sie einander brauchen, sagt der | |
Soziologe Heinz Bude. Nur die Parteien hätten das noch nicht verstanden. | |
Debatte FDP-Digitalkampagne: Denken first, digital second | |
Die „Digital First“-Kampagne der FDP führt in die falsche Richtung. In | |
Sachen Digitalisierung haben wir viel zu wenig Bedenken. | |
Fusion Thyssenkrupp und Tata: Stahlriese mit 48.000 Mitarbeitern | |
Die beiden Firmen wollen zusammen einen europäischen Stahlkonzern | |
schmieden. 4.000 Arbeitspläze könnten verloren gehen. | |
Debatte SPD als Oppositionspartei: Wählt sie ab! | |
Die SPD wird die Wahl verlieren – und das ist auch gut so. Wer die | |
Sozialdemokratie erhalten will, muss sie jetzt in die Opposition schicken. | |
Demonstration von Geflüchteten: „Wir lassen uns nicht spalten“ | |
Mehrere tausend Flüchtlinge protestierten in Berlin gegen rassistische | |
Hetze. Der Politik werfen sie vor, das Asylrecht immer mehr zu beschneiden. | |
taz-Serie Angezapft (1): In Puschel's Pub: Grün wählen mit Bauchschmerzen | |
Am Tresen, am Stammtisch und in der letzten Kneipenecke wird über die Wahl | |
am 24. September diskutiert. Die taz hört zu. Heute in Tiergarten. | |
Merkel-Kritik in ZDF-Sendung: Gewerkschafterin geht Kanzlerin an | |
Bei „Klartext, Frau Merkel“ lassen einige Bürger ihrem Ärger freien Lauf. | |
Eine Putzfrau kritisiert die CDU-Chefin heftig wegen zu niedriger Renten. | |
Debatte Emotionen und Politik: Die Mitleidswahl | |
Ein Kanzlerkandidat, der Mitleid erregt, geht das? Emotionen haben schon | |
immer eine Rolle bei politischen Entscheidungen gespielt. | |
taz.wahl17 Video: Totschlagargumente gegen Zivilisten! | |
Die Wahrheit über Christian Lindner: Hinter dem FDP-Fernsehprediger | |
verbirgt sich ein Mensch, vor dem sogar die Bahnhofsmission warnt. 2:53min | |
taz-Interview mit Martin Schulz: „Die politische Mitte ist sediert“ | |
Der SPD-Spitzenkandidat hält Kanzlerin Angela Merkel für „opportunistisch�… | |
die Deutschen für nicht interessiert am Streit. Und die Medien? | |
Entpolitisiert. | |
FDP im Wahlkampf: Ethos, Pathos, Logos | |
Christian Lindner gibt trotz Flüchtlinge-raus-Rufen den Wählern das Gefühl, | |
weltoffen und liberal zu sein. Warum das keine Manipulation ist. |