# taz.de -- Debatte Emotionen und Politik: Die Mitleidswahl | |
> Ein Kanzlerkandidat, der Mitleid erregt, geht das? Emotionen haben schon | |
> immer eine Rolle bei politischen Entscheidungen gespielt. | |
Bild: Nicht wenige hatten Mitleid mit Kurt Beck bei seinem Rücktritt als Minis… | |
Man kann schon Mitleid haben mit Martin Schulz. Da müht sich der | |
Kanzlerkandidat der SPD noch so ab, schwitzt und verzweifelt – und trotzdem | |
prallt jeder Angriff an Angela Merkel ab, als würde er gegen eine | |
unsichtbare Gummiwand schießen. Als er nach dem wenig mitreißenden TV-Duell | |
mit hochgereckten Armen dastand und sich von seiner Partei als Sieger | |
feiern ließ, da hätte man ihn eigentlich gern in den Arm genommen, auf die | |
Schulter geklopft und gesagt: „Lass gut sein, Martin.“ | |
Ein Kanzlerkandidat, der Mitleid erregt, geht das? Nein, da waren sich die | |
meisten Kommentatoren einig. „Niemand will ein Opfer als Kanzler“, konnte | |
man in der FAZ lesen. Mitleid dürfe kein Wahlmotiv sein. | |
Schon die Philosophin Hannah Arendt wehrte sich gegen den Begriff des | |
Mitleidens im Politischen. Da Mitleid auf einer persönlichen Beziehungen | |
zwischen zwei Menschen beruhe und somit das Weltliche, die Abstraktion | |
ausschließe, sei Mitleid politisch bedeutungslos und nur als private | |
Angelegenheit relevant. | |
Aber gibt es heutzutage überhaupt noch eine strikte Trennung zwischen | |
Privatem und Politischem? Ist Arendts Argumentation in Zeiten von Twitter | |
und Facebook noch aktuell? Wohl kaum. Schulz’ Leidensweg ist in den | |
sozialen Medien dauerpräsent. | |
„Kann man Parteien aus Mitleid wählen?“, fragte nun auch Jan Böhmermann | |
unter dem Hashtag [1][#pityvote] auf Twitter. Und die Antwort ist | |
eigentlich simpel: Ja, man kann. Genauso, wie man auch aus Begeisterung, | |
aus Wut, aus Langeweile wählen kann – oder weil man Christian Lindners | |
Unterhemden gut findet. | |
Das kann man durchaus verurteilen, ja, das mag zunächst nicht nach | |
politischen Motiven klingen, aber Emotionen haben schon immer eine Rolle | |
bei der Entscheidung für eine Partei gespielt. Auch im politischen Diskurs | |
sind Verstand und Gefühle untrennbar miteinander verwoben – ob man das nun | |
gut oder schlecht findet. | |
## Politik lebt von Emotionen und Inszenierung | |
Donald Trump oder Emmanuel Macron wurden bestimmt nicht nur wegen ihres | |
Wahlprogramms gewählt. Während der eine die (gefühlte) Unzufriedenheit der | |
Wähler ansprach, rief der andere eine Welle der Begeisterung, eine Art | |
Aufbruchstimmung hervor. Politik lebt nicht nur von Emotionen, sondern auch | |
von deren Inszenierung. Die Medien nehmen dabei eine immer wichtigere Rolle | |
ein. | |
Keine Frage, das kann – vor allem wenn Wut politisch instrumentalisiert | |
wird – gefährliche Auswirkungen haben. Und trotzdem muss man anerkennen, | |
dass gerade in der abendländischen Welt, in der Gefühle oft als Störfaktor | |
für Rationalität und Fortschritt gesehen werden, eine politische | |
Emotionalisierung längst stattfindet. | |
Mitleid beziehungsweise Mitgefühl gehören – ob intendiert oder als | |
Nebenprodukt eines gescheiterten Handelns – zur politischen | |
Meinungsbildung. Aber funktioniert das? „Dann wählt uns doch wenigstens aus | |
Mitleid und Barmherzigkeit“, appellierte Oskar Lafontaine 2009 | |
gewissermaßen scherzhaft an potenzielle Wählerlnnen. Ob die 12 Prozent der | |
damaligen Stimmen darauf zurückzuführen sind, kann man bezweifeln. | |
## Die Mitleidskampagne schlechthin | |
Die Zweitstimmenkampagne der FDP zur Bundestagswahl 2013 gilt als die | |
Mitleidskampagne schlechthin. Nachdem die Partei auch aus dem Bayerischen | |
Landtag geflogen war, versuchte sie Unionswähler dazu zu bewegen, die FDP | |
per Zweitstimme vor der Abwahl aus dem Bundestag zu retten. Selbst für | |
Absprachen mit CDU-Kandidaten war sich die Partei nicht zu schade. | |
1.800.000-mal Mitleid wäre dafür im Bund nötig gewesen, rechnete ein | |
Blogger aus. Geschafft hat sie es bekanntermaßen trotzdem nicht, obwohl | |
selbst Sigmar Gabriel noch einmal nachgeholfen hatte, indem er Philipp | |
Rösler „einen armen Kerl“ nannte. Kurz nach dem Ausscheiden aus dem | |
Bundestag sagte Christian Lindner dann im Interview, er wolle kein Mitleid. | |
Eine dauerhafte Unterstützung durch den Mitleidsfaktor konnte auch er sich | |
nach der gescheiterten Bundestagswahl nicht vorstellen. | |
Mitleid gilt als niederste Gefühlsreaktion, Mitleidserregen als letzter | |
Rettungsinstinkt. Ein bewusstes Mitleidserregen scheint eher das Gegenteil | |
von Rettung zu bewirken – ein bisschen wie das trotzige Kind, das man erst | |
einmal stehen lässt und erwartet, dass es selbst wieder auf die Beine | |
kommt. | |
## Die SPD vom Mitleid verfolgt | |
Bei Martin Schulz und der SPD scheint das selbstständige Aufrappeln fast | |
aussichtslos. Und das ist nicht neu. Man hat das Gefühl, die SPD werde seit | |
Ende der rot-grünen Koalition vom Mitleid verfolgt: Die einen hatten | |
Mitleid mit Kurt Beck, der als Parteichef scheiterte, die anderen mit | |
Kanzlerkandidat Steinbrück, der bekanntermaßen in das ein oder andere | |
Fettnäpfchen trat und der SPD nach seiner Kandidatur „einen Hang zum | |
Selbstmitleid“ bescheinigte. | |
Das Mitleid, das die SPD dieser Tage erzeugt, ist ein Mitgefühl mit dem | |
Schwächeren, für jemanden, dem man etwas gönnen möchte, der es aber nicht | |
aus eigener Kraft schafft. Einem Gegner, dem man beim Stand von 0:5 noch zu | |
einem Ehrentreffer verhelfen möchte. Für viele könnte das bei der Wahl den | |
Ausschlag geben, die SPD zu wählen. Die Frage ist: Sind es genug? | |
Wie Mitleid politisch instrumentalisiert werden kann, zeigt ausgerechnet | |
die AfD. Sie inszeniert sich als Opfer des etablierten Parteiensystems und | |
der Medien. Weidels (höchstwahrscheinlich geplanter) Abgang aus der | |
ZDF-Talkshow war ein Paradebeispiel dafür. Während man über den richtigen | |
Umgang mit der AfD in TV-Formaten sicherlich streiten kann, hatten Weidels | |
empörter Sturm aus dem Studio und die nachträgliche Presseerklärung eine | |
klare Botschaft: Seht her, wir werden ungerecht behandelt. Wir haben | |
eigentlich keine Chance zu gewinnen. Also wählt uns! | |
Ob die Bundestagswahl 2017 tatsächlich eine Mitleidswahl ist, wird sich | |
zeigen. Anzeichen dafür gibt es genügend. Doch gerade die SPD täte gut | |
daran, sich nicht darauf zu verlassen – das haben die letzten Wahlen | |
gezeigt. | |
13 Sep 2017 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/search?q=pityvote&src=typd | |
## AUTOREN | |
Paul Toetzke | |
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