# taz.de -- 100 Jahre Institut für Sozialforschung: Marxistische Arbeitswochen | |
> Das Institut für Sozialforschung in Frankfurt feiert seinen hundertsten | |
> Geburtstag. Zum Auftakt blickte man zurück in die Geschichte und hörte | |
> Musik. | |
Bild: Theodor Adorno, einer der Gründer des Instituts für Sozialforschung auf… | |
Die „Frankfurter Schule“, wie die „Kritische Theorie“ seit den 1950er | |
Jahren auch genannt wird, entstand am Frankfurter Institut für | |
Sozialforschung (IfS), das in diesem Jahr seine Gründung vor 100 Jahren | |
feiert. Das Institut beging nun den stolzen Geburtstag mit einer schlichten | |
Jubiläumsveranstaltung. Auf dieser sprachen neben dem amtierenden | |
Institutsdirektor, dem [1][Soziologen Stephan Lessenich], die hessische | |
Wissenschaftsministerin Angela Dorn, die Kultur- und | |
Wissenschaftsdezernentin der Stadt Frankfurt, [2][Ina Hartwig]. | |
Stadt und Land Hessen sind die finanziellen Hauptträger der Arbeit des | |
Instituts. Dazu kamen Enrico Schleiff, der Präsident der Goethe–Universität | |
Frankfurt, sowie Jutta Ebeling als Vorsitzende des Stiftungsrates des IfS | |
zu Wort. | |
Für das ganze Jahr sind Jubiläumsfeiern geplant. Im Mai etwa die „Zweite | |
Marxistische Arbeitswoche“. Thema: „Unhaltbare Zustände“. Es folgen eine | |
weitere Ausgabe der Adorno-Vorlesungen im Juli sowie im September die | |
internationale wissenschaftliche Konferenz „Futuring Critical Theory“. Hier | |
soll es um Bilanz und Standortbestimmung Kritischer Theorie gehen. | |
## Dringlichkeit des Forschungsauftrags | |
Auf die Begrüßung der geladenen rund 100 Gäste durch den Institutsdirektor | |
Stephan Lessenich am Montag, 23. Januar, folgte zunächst ein musikalischer | |
Auftakt, eine Cellosonate Violeta Dinescus, vorgetragen durch die | |
Cellistin Katharina Deserno. Stephan Lessenich eröffnete den Reigen der | |
Reden mit einem kurzen Schlaglicht auf das Gründungsmemorandum des | |
IfS-Mäzens Felix Weil und des Ökonomen Kurt Albert Gerlach vom August 1922. | |
In diesem wurde „die dringende Notwendigkeit betont, das Ganze der | |
Gesellschaft in einem Institut zu erfassen“. Vor genau 100 Jahren erfolgte | |
am 23. 1. 1923 dann der Erlass des preußischen Kultusministeriums zur | |
Gründung des IfS in Frankfurt am Main. Da Gerlach, der als Direktor | |
vorgesehen war, plötzlich verstorben war, wurde der Wiener Sozialhistoriker | |
und Austromarxist Carl Grünberg im Januar 1923 an dessen Stelle als | |
Direktor berufen. 1931 sollte [3][Max Horkheimer] folgen. | |
Lokalpolitikerin Ina Hartwig verwies in ihrem Beitrag auf die für Frankfurt | |
typische Art der Gründung des Instituts aus einer mäzenatischen Stiftung. | |
Auch die Universitätsgründung verdankte die Stadt dem Sozialpolitiker und | |
Unternehmer Wilhelm Merton im Ersten Weltkrieg. | |
In einem weiteren historischen Schlaglicht erinnerte Stephan Lessenich an | |
eine Skurrilität in der Institutsgeschichte. Das seit 1951 geführte und | |
vollständig erhaltene Schlüsselbuch, in dem alle Besitzer eines | |
Hausschlüssels den Erhalt und die Rückgabe dieses Schlüssels bestätigen | |
mussten, „garantierte“, so Lessenich, „allerdings keinen privilegierten | |
Zugang zu besonderes wichtigen oder gar höheren wissenschaftlichen | |
Einsichten“. Interessanterweise fehlt hier die Unterschrift zur Bestätigung | |
der Rückgabe des Schlüssels Max Horkheimers im sonst akribisch geführten | |
Schlüsselbuch. | |
Der Universitätspräsident Schleich hob die seit der Gründung des IfS | |
geltende Lehrtätigkeit des Instituts an der Universität hervor. Seit 1957 | |
ist hier das Soziologiestudium mit dem IfS verknüpft, was 1967 zur | |
Einrichtung des Soziologie-Seminars führte. Die Beziehungen wurden mit der | |
Berufung von Stephan Lessenich 2021 weiter formalisiert und ausgedehnt. | |
## Den Nazis ein Dorn im Auge | |
Mehrere Rednerinnen und Redner verwiesen auf die von Brüchen gezeichnete | |
Geschichte des IfS. 1933 besetzten die Nazis es polizeilich, die zumeist | |
jüdischen Mitarbeiter mussten ins Exil fliehen, wurden über die Schweiz in | |
die USA vertrieben, wo das IfS einen neuen prekären Anfang in New York und | |
später in Kalifornien suchen musste. Die Studentenrevolte von 1968/69 und | |
der Tod Adornos markieren einen weiteren Bruch. Ebenso das Ausscheiden | |
[4][von Jürgen Habermas, das von] der nachfolgenden Generation [5][nicht zu | |
korrigieren war]. | |
Lessenich betonte zudem die Verpflichtung des IfS zur wissenschaftlichen | |
Neutralität im Sinne von Horkheimers Diktum. Der schrieb in seinem | |
grundlegenden Essay über traditionelle und kritische Theorie von 1937, dass | |
sich Kritische Theorie immer bewusst sein müsse, dass es nicht so sein | |
muss, wie es ist, und die Menschen das Sein ändern können, wenn die | |
Umstände dafür vorhanden sind. | |
In diesem Sinne kann man dem IfS nur eine lange Zukunft wünschen. Katharina | |
Deserno beendete die Jubiläumsveranstaltung mit einem Satz aus einer | |
unveröffentlichten Cellosonate Theodor W. Adornos aus dessen Nachlass. | |
25 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Rudolf Walther | |
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