| # taz.de -- Spanisches Kulturgut unter Druck: Ein Herz für Stiere | |
| > Dem Ende nah? Einst unangefochtenes nationales Kulturgut, steckt der | |
| > Stierkampf in Spanien in der Krise. Nur die politische Rechte ist noch | |
| > dafür. | |
| Bild: Spektakel, Kunstform oder Tierquälerei? Teroro Diego Urdiales und ein St… | |
| Die Bilder von leeren Stierkampfarenen gingen diesen Sommer in Spanien | |
| durch die sozialen Netzwerke. Ob im kastilischen Valladolid oder in | |
| Aranjuez unweit von Madrid, ja selbst in der wichtigen Arena Vista Alegre | |
| im baskischen Bilbao blieben die Ränge während der Sommerfeste meist leer. | |
| Und auch Las Ventas in der Hauptstadt vermeldet – jetzt, wo die | |
| Pandemiebeschränkungen weggefallen sind – weniger Publikum als in früheren | |
| Jahren. | |
| Es ist der einstweilige Höhepunkt einer Entwicklung, die sich bereits vor | |
| der Pandemie abzeichnete. Laut spanischem Kulturministerium blieb von 2015 | |
| bis 2019 jeder siebte Zuschauer weg. Die Gesamtzahl der Zuschauer sank von | |
| 2,7 auf 2,3 Millionen. 20 Prozent derer, die immer noch den Weg in die | |
| Arena finden, haben Freikarten, die von Gemeinden und Verbänden verschenkt | |
| werden. Gab es 2009 noch 648 Stierkämpfe pro Jahr im Land, sind es 2019 nur | |
| noch 349. In diesem Jahr wird die Zahl wohl weiter zurückgehen. | |
| „Es gab schon immer ein Auf und Ab beim Publikum“, sagt Vicente Royuela, | |
| Professor für Angewandte Wirtschaft in Barcelona. „Aber bisher war die | |
| Zuschauerzahl an die wirtschaftliche Entwicklung gekoppelt“ – das sei nun | |
| nicht mehr so, weiß der Wissenschaftler, der den Publikumszuspruch | |
| untersucht. | |
| In guten Zeiten gehen mehr in die Arena, gibt es mehr Spektakel. „Etwas | |
| völlig Normales, das wir auch in anderen Aktivitäten feststellen“, sagt der | |
| Akademiker, der zugleich Stellvertretender Vorsitzender des Verbandes der | |
| Vereine der Freunde des Stierkampfes im ostspanischen Katalonien ist. | |
| Eintrittskarten zum Stierkampf seien schließlich nicht billig. Doch jetzt | |
| habe sich Wirtschaft und Publikumsandrang „entkoppelt“. Auch nach Eurokrise | |
| und Pandemie verzeichneten die Arenen trotz wirtschaftlicher Erholung immer | |
| weniger Zulauf. | |
| ## Mentalitätswandel in Spanien | |
| Laut Umfragen des spanischen Kulturministeriums, das für Stierkampf | |
| zuständig ist, sind nur noch 25 Prozent am Stierkampf einigermaßen | |
| interessiert. Stark interessiert sind weniger als 3 Millionen der 47 | |
| Millionen Spanier. | |
| Royuela macht einen Mentalitätswandel in der Gesellschaft dafür | |
| verantwortlich. Das [1][Gefühl, Tiere schützten zu müssen,] habe stark | |
| zugenommen. Für Befürworter und Gegner sei der Stier zu einer Frage der | |
| Identität geworden, die sich mit der politischen Haltung im Allgemeinen | |
| vermische. War früher die Begeisterung für den Stierkampf in allen | |
| politischen Lagern anzutreffen, hat sich heute fast ausschließlich die | |
| politische Rechte und extreme Rechte die Verteidigung des Spektakels auf | |
| die Fahne geschrieben. | |
| Neben der Religion, der Einheit Spaniens, der Monarchie und der | |
| traditionellen Familie ist für sie der Stierkampf ein Element dessen, was | |
| Spanien ausmacht. „Dass der Stierkampf immer mehr mit einer bestimmten Idee | |
| von Spanien gleichgesetzt wird, schadet ihm“, ist sich Royuela sicher: | |
| „Wenn ich auf den Platz gehe und dort ‚Viva España‘ gerufen wird, denk i… | |
| Soll Spanien hochleben, aber bitte außerhalb der Arena.“ | |
| ## Grausamer alter Zopf | |
| Wie stark diese Politisierung mittlerweile fortgeschritten ist, zeigt eine | |
| Umfrage, die die Onlinezeitung El Plural veröffentlichte. 46,7 Prozent | |
| würden den Stierkampf gerne verbieten, 18,6 Prozent wollen ihn erhalten und | |
| 34,7 Prozent sind nicht für den Stierkampf, aber auch nicht für ein Verbot. | |
| Und während bei den Linksalternativen Unidas Podemos knapp 81,8 und bei den | |
| Sozialisten 66,5 Prozent für ein Verbot sind, treten bei der konservativen | |
| Volkspartei 43,2 und bei der rechtsextremen VOX 53,8 Prozent für den Erhalt | |
| des Spektakels ein. Unter den jungen Spaniern sind 80 Prozent für die | |
| Abschaffung. | |
| „Der Stierkampf ist ein grausamer alter Zopf, der unser Land in Missgunst | |
| bringt und der nur dank öffentlicher Gelder überhaupt überlebt“, sagt der | |
| Sprecher von Más Madrid, der größten Oppositionspartei im Regionalparlament | |
| der Hauptstadtregion Madrid. Er meint damit nicht nur die Freikarten. | |
| Allein die Region Madrid, wo die rechte Volkspartei (PP) mit Unterstützung | |
| der ultrarechten VOX reagiert, subventionierte in diesem Jahr die Stiere | |
| mit 7 Millionen Euro, achtmal so viel wie vor der Pandemie. Über die Hälfte | |
| des Geldes kommt direkt den Zuchtbetrieben zugute. Mit dem Rest wird eine | |
| Stierkampfschule und das Stierkampfspektakel bezuschusst und die Arena Las | |
| Ventas modernisiert. | |
| Solche Hilfen verlangsamen die Tendenz etwas, doch aufzuhalten ist der | |
| Niedergang des Stierkampfes wohl kaum. „Es ist einfach nicht zeitgemäß, | |
| Stierkampfanhänger zu sein“, sagt Antonio Lorca, der Stierkampfreporter der | |
| größten spanischen Tageszeitung, El País. Neben dieser „politischen | |
| Korrektheit“, sei das zunehmende Umweltbewusstsein und die | |
| Tierschutzmentalität wichtige Faktoren für den Zuschauerschwund. | |
| ## Die Kunst des Kampfes | |
| Hinzu komme die Verstädterung und das, was Lorca „Gesellschaft der | |
| Haustiere“ nennt. „Viele Menschen stehen heute den Tieren näher als ihren | |
| Mitmenschen“, ist der Journalist sich sicher. „Es ist genauso ehrenwert, | |
| gegen den Stierkampf zu sein wie dafür“, sagt Lorca und fordert Respekt | |
| ein. | |
| Gewalt gegen Tiere macht er überall aus. Bei Massentierhaltung ebenso wie | |
| bei der massenhaften Kastration und Sterilisierung von Haustieren. „Gewalt | |
| ist überall in unserer Gesellschaft, Nachrichten, Filme, | |
| Zeichentrickserien“, aber nur im Stierkampf werde das als Problem gesehen, | |
| sagt Lorca. Dabei ergötze sich weder das Publikum noch der Torero an der | |
| Brutalität. Es gehe vielmehr um die Eleganz, die Kunst des Kampfes an sich. | |
| „Genau deshalb ist der Stierkampf seit 2013 offiziell Kulturerbe Spaniens, | |
| aber egal ob Zentralregierung, Regionen oder Gemeinden, niemand erfüllt das | |
| Gesetz, das verlangt, dass das Kulturerbe gefördert und unterstützt wird“, | |
| versucht er die Politik in die Verantwortung zu nehmen, bevor er – als | |
| guter Stierkampfreporter – auf das Spektakel als solches und von den | |
| Züchtern über die Betreiber der Arenen bis hin zum Torero auf die Kontexte | |
| zu sprechen kommt. „Der Stierkampf selbst ist nicht mehr das, was er einmal | |
| war“, sagt Lorca. Alles sei vorhersehbar, die Stiere seien immer weniger | |
| wild. | |
| ## Zurück zum Wilden | |
| „Dabei bleiben die Emotionen auf der Strecke, es wird langweilig“, fügt er | |
| hinzu. In einem seiner Artikel spricht Lorca von einer Mafia, die ihre | |
| wirtschaftlichen Interessen verteidige, aber nicht die des Spektakels als | |
| solchem. Der Stierkampf brauche eine Erneuerung, zurück zum Wilden, | |
| Unvorhersehbaren. | |
| „Doch selbst dann werde der Stierkampf nie wieder das sein, was er einmal | |
| war. Manche nennen den Stierkampf ‚Fiesta Nacional‘, das ‚nationale Fest�… | |
| So weit gehe ich nicht, aber der Stierkampf ist eines der wichtigsten | |
| kulturellen Elemente dieses Landes“, sagt Lorca. Der Kampf mit dem wilden | |
| Tier habe andere Kunstformen wie Literatur, Theater und Malerei stark | |
| beeinflusst. | |
| Lorca glaubt nicht, dass sich jemals eine spanische Regierung trauen wird, | |
| den Stierkampf zu verbieten. „Wir werden vielmehr eine Minderheit sein, wie | |
| in Frankreich“, ist er sich sicher. Dort ist der Stierkampf nur im Süden | |
| erlaubt. | |
| ## Arenen werden Kulturzentren | |
| Die Tendenz gehe auch in Spanien dahin, dass nur noch in wenigen Städten, | |
| wie Madrid, Sevilla oder Pamplona, Stierkämpfe stattfinden. In Barcelona | |
| wurden die beiden Stierkampfarenen längst geschlossen, eine von beiden zum | |
| Einkaufszentrum umgebaut. Die andere wird wohl das gleiche Schicksal | |
| ereilen. [2][In ganz Katalonien] ist der Stierkampf mittlerweile verboten, | |
| [3][auf den Balearen] finden nur noch ganz selten Kämpfe statt. | |
| Im Mittelmeerort Benidorm wird die Arena zum Kulturzentrum. In Gijón wurde | |
| die Arena im März wegen baulicher Mängel geschlossen. Der andere Platz in | |
| Asturien, in Oviedo, hat sein 16 Jahren keinen Stier mehr gesehen. Die | |
| Arena in Cáceres in Extremadura droht zu zerfallen. Das sind nur einige | |
| Beispiele. | |
| „Die Akzeptanz des Stierkampfs war immer zyklisch“, beschwichtigt José Luis | |
| Benlloch, Chefredakteur von Aplauso, der letzten Stierkampfzeitschrift, die | |
| noch auf Papier erscheint. „Stierkampf ist immer dann weit über die | |
| eigentliche Anhängerschaft hinaus populär, wenn es einen revolutionären | |
| Torero gibt“, analysiert er. Derzeit gebe es gute Stierkämpfer, aber eben | |
| nicht den einen, den besonderen, „den einen Torero, der mit den Normen | |
| bricht, über das Klassische, das Althergebrachte hinausgeht“. | |
| ## Warten auf den Messias | |
| Benlloch glaubt an die Kraft von unten, an die Stierkämpfer, die „fast | |
| schon aus dem Lumpenproletariat spontan auftauchen und sich gegen das | |
| Establishment durchsetzen“. Dieser Widerspruch zwischen traditioneller | |
| Stierkampfanhängerschaft und einem neuen, jungen Torero habe immer wieder | |
| den Stierkampf in der gesamten Gesellschaft populär gemacht. | |
| Ein solches Phänomen hätte heute allerdings eine ganz neue Hürde zu nehmen. | |
| „Die Fernsehsender haben bis auf wenige regionale Ausnahmen das Thema | |
| Stierkampf völlig ausgeblendet“, beschwert sich Benlloch. Er hat einst | |
| selbst im Regional-TV in Valencia gearbeitet, bis dort eine Linkskoalition | |
| die Wahlen gewann und der Stierkampf immer mehr in Ungnade fiel. | |
| „Doch ich will einfach optimistisch sein“, sagt Lorca. Der Stierkampf habe | |
| weit schlimmere Zeiten erlebt. Der Journalist erinnert an die Zeiten, als | |
| Könige und Kirche den Stierkampf immer wieder verboten haben und | |
| diejenigen, die dennoch auf den Dörfern weitermachten, verfolgt und vom | |
| Papst exkommuniziert wurden. | |
| „Wir warten auf den großen Messias, auf eine nicht vorhersehbare | |
| Entwicklung, die wieder die breite Aufmerksamkeit auf den Stierkampf | |
| lenkt“, betont Lorca dann einmal mehr. Die Hoffnung stirbt zuletzt. | |
| 3 Oct 2022 | |
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| Reiner Wandler | |
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