# taz.de -- Tagebücher von Rafael Chirbes: Entblößtes Herz | |
> „Von Zeit zu Zeit“ – die Tagebücher des Eisenbahnerkindes Rafael Chirb… | |
> sind eine phänomenale Entdeckung. Zur Buchmesse erscheinen sie auf | |
> Deutsch. | |
Bild: Spanien ist Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Die Bücher des 2015 v… | |
„Ein Rasnotschinze braucht keine Erinnerungen, für ihn genügt es, von | |
Büchern zu erzählen, die er gelesen hat – und die Biografie ist fertig.“ … | |
dieses Motto des russischen Autors Ossip Mandelstam hält sich der spanische | |
Schriftsteller Rafael Chirbes, der einen „Rasnotschinze“ – und sich selbst | |
– als einen „Intellektuellen plebejischer Herkunft“ sieht. | |
Chirbes` Vater war Hilfsarbeiter bei der Eisenbahn. Er starb 1953, als | |
Rafael vier Jahre alt war. Mit acht Jahren wird Rafael, der aus einem Kaff | |
in der Nähe von Valencia kommt, in ein Internat für Eisenbahnerwaisenkinder | |
geschickt, das von Nonnen geleitet wird. Dort, in der Nähe von Avila, muss | |
er seine valencianische Sprache der Herkunft verstecken und Kastilisch | |
lernen. | |
Aber dann studiert er Geschichte, engagiert sich in einer linksradikalen | |
Splittergruppe im Kampf gegen das Regime Francos. Nach Francos Tod 1975 | |
befreit sich die spanische Jugend von der schier endlosen Tristesse, der | |
Enge, der brutalen Verfolgung von demokratischen Regungen, [1][die mehr als | |
36 Jahre Spanien beherrschte]. | |
Es folgen die Exzesse der „movida“, wie wir sie aus den Filmen von | |
Almodóvar kennen. Auch Chirbes ist dabei, trinkt über die Maßen, raucht wie | |
ein Schlot „Ducados“, nimmt Drogen aller Art, lebt sein Schwulsein aus, | |
feiert die Nächte durch. | |
Er gründet mit Ex-Genossen Sobremesa, eine Zeitschrift für kulinarische | |
Genüsse und Reisen. Redigiert fleißig Beiträge, reist als Reporter durch | |
die Welt, goutiert Haute Cuisine und edle Weine. Er verdient so das Geld, | |
das er braucht, um frei schreiben zu können. | |
## Lebensziel: Schriftsteller | |
Denn das ist sein eigentliches Lebensziel: unabhängiger Schriftsteller | |
sein. Mit knapp 40 Jahren veröffentlicht er seinen ersten Roman, „Mimoun“. | |
Doch Ruhm und Preise erhält er in Spanien erst mit seinem vorletzten Roman, | |
„Krematorium“. Da ist er schon todkrank. 2015 stirbt er im Alter von 66 | |
Jahren an Lungenkrebs in seinem Heimatdorf Tavernes bei Valencia. | |
Trotz des (späten) Ruhms hat ihn seine Klassenherkunft bis zuletzt | |
beschäftigt. Wie, ist jetzt in seinen Tagebüchern nachzulesen. Chirbes | |
schreibt darin: „Es gibt kein Heilmittel gegen die Klassenherkunft, nicht | |
einmal Geld oder soziales Prestige. Das erstaunt mich nicht. Als | |
Materialist weiß ich, dass die Seele ein Abbild der Umstände ist, ein | |
komplexes Geflecht aus Formen, Tabus, Hoffnungen, Misstrauen und Groll, das | |
sich in der frühen Kindheit herausbildet. Sie ist eine Komposition, eine | |
Kombination aus Materialien, aber auch eine Wunde, gegen deren Schmerz du | |
dich wehrst.“ | |
Die Tagebücher hat Chirbes zwischen 1984 und 2005 verfasst und vor seinem | |
Tod redigiert. Mit „Von Zeit zu Zeit“ hat Chirbes tatsächlich eine | |
Biografie im Sinne von Mandelstams plebejischem Intellektuellen in Form von | |
Tagebüchern geschrieben. Sie offenbaren die Früchte seiner Lektüren, die | |
ihm dazu dienten, einen moralischen Halt in der Welt zu finden. Und darüber | |
hinaus eigene Romanprojekte vorzubereiten. | |
## Hegel, Marx, Dostojewski | |
Eine typische Notiz aus den Tagebüchern: „Selbsthilfe- oder therapeutische | |
Romane interessieren mich nicht. Ich habe keine Lust, über das besondere | |
Leiden von Minderheiten in modernen Gesellschaften zu schreiben. Paare mit | |
Problemen sollen sich trennen und Schwule sollen heiraten.“ Er möchte die | |
Welt mit ihren Widersprüchen konfrontieren, beeinflusst von Autoren wie | |
Hegel, Marx, Dostojewski, Thomas Mann, Musil oder Broch. | |
„Nicht derjenige, der auf dem Foto am schärfsten zu erkennen ist“, so | |
notiert er, „verleiht dem Roman Sinn, sondern derjenige, der zu dem | |
beunruhigenden Schatten blickt, der am Horizont aufzieht und den wir beim | |
Betrachten des Fotos übersehen haben.“ Er beschäftigt sich mit Gustave | |
Flaubert, der eine unabhängige, objektiv erscheinende Erzählstimme | |
eingeführt hat. Dies ist auch in Chirbes’ „Spanien-Trilogie“ zu erkennen, | |
die aktuell neu aufgelegt werden. | |
Mit diesen in Spanien unter und nach der Franco-Diktatur handelnden Romanen | |
ist Chirbes bekannt geworden. Die Titel zitieren Kampfparolen der Linken: | |
„Der lange Marsch“, „Der Fall von Madrid“ „Alte Freunde“. Sie sind … | |
gebrochen ironisch zu verstehen. Chirbes erzählt aus dem Inneren der | |
Systeme. [2][Von Regimewächtern, aber auch von Franco-Gegnern.] Er sitzt | |
dabei gleichsam unter der Schädeldecke seiner Personen, besitzt die | |
außerordentliche Gabe, sich in die gegensätzlichen Figuren und Charaktere | |
einzufühlen. | |
Chirbes rechnet in Band 1 der Trilogie mit dem Folklorismus der Franco-Ära | |
ab: „Hier ist nur noch der Abschaum geblieben: schwitzende Trottel, die | |
einem Ball Fußtritte versetzen, Sängerinnen, die nach Achselschweiß | |
stinken, wenn sie die Arme heben, um mit den Kastagnetten zu klappern; und | |
Priester, die wie Blut die Ignoranz und die Angst saugen.“ Hier treffen wir | |
auf eine blumige bis drastische poetische Übermalung einer Geschichte aus | |
dem Bürgerkrieg. | |
Chirbes beschreibt, wie die rechten Falangisten General Francos die Stadt | |
Alicante angreifen und verhindern, dass sich die letzten Republikaner auf | |
ein Schiff retten können. Da „schlug der Tod seine Krallen ins Herz der | |
Stadt … und Raubvögel stoßen zu, gierig nach mehr von jenem Blut, das schon | |
auf die Hafenmole getropft war.“ Mit dem Fortschreiten der Ereignisse und | |
der Romanfolgen wird der Stil von Chirbes jedoch immer prosaischer. | |
## Spanischer Bürgerkrieg | |
Der Autor erzählt von der Niederschlagung eines Aufstandes in Marokko, bei | |
dem der Bauernsohn Carmelo fällt, und wendet sich schließlich dem | |
Spanischen Bürgerkrieg und seinem tragischen Ausgang 1939 zu. Hunger und | |
Elend für die republikanischen Verlierer stehen dem Protzen der | |
faschistischen Sieger gegenüber. Doch Chirbes wird immer weiter in die | |
jüngere Vergangenheit vordringen. | |
Band 2 spielt am 19. November 1975, dem Tag von Francos Tod. Im | |
abschließenden Band versammelt der Autor alte Genossinnen und Genossen aus | |
der Widerstandszeit und schaut, was von deren Idealen noch übrig ist. Folgt | |
man Chirbes: nicht viel. Der Prozess des „desengaño“, der | |
Desillusionierung, ist in seinen Tagebüchern sarkastisch gespiegelt. Dem | |
neuen Spanien misstraute dieser große Autor bis zuletzt. | |
Die stärksten Stellen in den Tagebüchern sind hingegen jene, in denen | |
Chirbes sein Herz entblößt, sich nackt zeigt. Durchaus wortwörtlich | |
gemeint, wo er seine Lust an der männlichen Erotik beschreibt. Aber auch | |
seine Furcht vor dem Freund, der Intimität, die ihn überwältigt und in | |
Besitz nimmt – ebenso wie die Trauer bei dessen Tod. | |
Chirbes berichtet hier von seiner depressiven, selbstzerstörerischen Seite. | |
Er lässt sich mit einem „miesen Typen“ ein, „der zu Francos-Zeiten | |
Pissoir-Schwule erpresste“ („also hatte mein Penetrieren etwas von einer | |
späten Rache“). Seine Depressionen und Selbstzweifel kippen wiederum auch | |
rasch in Euphorie um. Etwa wenn es ihm gelingt, eine Landschaft zu | |
beschreiben – oder überhaupt wieder schreiben zu können. | |
Eines aber bleibt prägend für die Tagebücher wie sein gesamtes Werk: | |
Chirbes’ Respekt vor der arbeitenden Klasse. Und die Nachsicht für ihre | |
Schwächen. Seine Hochachtung gegenüber ihren Produkten, die auf | |
Fähigkeiten, Erfahrung, Wissen, im Wesentlichen auf Handarbeit beruhen. | |
Auch seine Tagebücher hat Rafael Chirbes mit der Hand, einfühlsam und mit | |
besonderen Füllern geschrieben. | |
8 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Ruthard Stäblein | |
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