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# taz.de -- Auftakt der Frankfurter Buchmesse: Barcelona im Spiegel der Literat…
> Wie Spanisch darf’s denn sein? Zwei Romane von Javier Cercas und Miqui
> Otero zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse.
Bild: Blick vom Montjuic auf Barcelona, eine Stadt, die manchem Spanier als bes…
„Barcelona ist kaum mehr auszuhalten, Kleiner: so dreckig wie Neapel und so
puritanisch wie Genf. Kurzum, von allem das Schlimmste.“ Mit diesen Worten
rät der Anwalt Vivales seinem jüngeren Freund Melchor davon ab, als ehemals
berühmt-berüchtigter „Bulle“ die Bergregion „Terra Alta“ zu verlassen…
wieder einen Fall in der katalanischen Hauptstadt zu übernehmen.
Melchor hatte in Band 1 der Krimi-Serie „Terra Alta“ von [1][Javier Cercas]
in Barcelona 2017 vier Terroristen erschossen. Er steht deshalb bei seinen
Kameraden in hohem Ansehen. Musste aber aus der Schusslinie, sich in die
Gegend von „Terra Alta“ in der Provinz Tarragona verziehen, wo er Romane
von Victor Hugo lesen kann.
Mit dem Hinweis auf Victor Hugo markiert Cercas von Anfang an seinen
literarischen Anspruch. Wobei er ein wenig auf den Erfolg des
Bestsellerautors Carlos Ruiz Zafón schielt, der gerne mit dem „Buch im
Buch“ jonglierte.
Cercas lässt seine Figur Melchor nicht gerade zimperlich mit seinen
„Opfern“ umgehen. Männer, die wegen Misshandlung einer Frau angezeigt
werden, verprügelt er kurzerhand gleich selber auf dem Revier. Die Kollegen
schauen weg. Dieser hard-boiled Bulle regelt die Fälle also auf seine Art.
Er braucht kein Gesetz. Er ist das Gesetz.
## Ein wenig klischeehaft
So tritt er gleich zu Beginn des neuen Romans in einem Bordell auf, schlägt
den Boss zusammen und befreit drei Prostituierte aus Lagos, nachdem er
sechs Whiskeys an der Bar getrunken hatte. Es klingt ein wenig
klischeehaft.
Doch nun zum neuen Fall: Die Bürgermeisterin von Barcelona wird mit einem
Sex-Video erpresst. Sie soll 300.00 Euro zahlen und zusätzlich auch noch
zurücktreten. Melchor spürt den Erpressern nach. Er findet schließlich
einen Kronzeugen, der auf Video aufgezeichnet hat, wie drei „Papa-Söhnchen“
aus den reichsten Familien Kataloniens sich alles erlauben können. Wie
diese, inklusive einem Kronzeugen, Mädchen, die sie in Discos angebaggert
haben, dann meist zu dritt vergewaltigten.
Darunter auch die einst dominahaft auftretende und aktuell populistisch
agierende Bürgermeisterin von Barcelona. Sie soll, so Cercas literarische
Konstruktion, ihr Amt einem ihrer reichen Vergewaltiger zu verdanken haben,
den sie in der Folge geheiratet hat.
## Die Kleptokratie des Nationalismus
Die Moral von der Geschicht’ wird gleich mitgeliefert: Die drei
Papa-Söhnchen „sind Hurensöhne. So wurden sie geboren, so werden sie
sterben. Die Welt teilt sich in zwei Klassen: die Reichen und alle
anderen.“ Allerdings haben die nicht mit dem Rächer Melchor gerechnet, der
den Fall auf eigene Faust kurzerhand regelt. So weit, so schlicht. Allein
gegen Ende des Krimis schlägt Cercas ein paar Finten, die die
Leser:innen vielleicht überraschen könnten.
Interessant wird der Roman dennoch, und zwar durch seine politischen
Anspielungen. Von einem katalanischen Kollegen, dem er zu einer steilen
Karriere verholfen hatte, wird der Polizist Melchor nur der „Sauspanier“
genannt. Javier Cercas Familie kommt ursprünglich aus der westlichen
Provinz Extremadura. Noch vor Einschulung zog die Familie nach Girona in
Katalonien um. Cercas verweigert sich bis heute dem separatistischen
Nationalismus vieler Katalanen, er spricht und schreibt weiterhin auf
Spanisch, nicht auf Katalanisch.
Den Argwohn katalanischer Traditionalisten gegenüber „Fremden“ und
Zugezogenen bekamen übrigens auch der Aragonese Javier Tomeo, (Autor von
„Mütter und Söhne“) oder der auf Spanisch schreibende Autor Eduardo Mendo…
(„Stadt der Wunder“) zu spüren, die beide in Barcelona leben
beziehungsweise lebten und nicht auf die Frankfurter Buchmesse eingeladen
wurden, als Katalonien 2007 dort separat Gastland war.
Bezogen auf ebenjenes Katalonien wird eine der Figuren von Cercas ziemlich
deutlich: „Als die Demokratie kam, hat der katalanische Nationalismus die
Kleptokratie einer bestimmten Klientel etabliert. Das heißt, die
Regionalregierung bestahl die Bürger und teilte die Beute unter der
Regierungspartei und ihren Familien auf, allen voran der
Präsidentenfamilie.“
## Politik und Korruption
Damit weist Cercas auf die Korruptheit des ehemaligen Präsidenten der
Generalitat, Jordi Pujol, hin. Und weitet seine Beschuldigung gleich auf
den gesamten „Prozess“ der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung aus: „D…
Procès wurde losgetreten, damit alles bleibt wie gehabt. Das Problem ist
jetzt, dass auch die Stadtverwaltung so funktioniert.“ Das heißt nach
Cercas, dass sie korrupt sei.
Cercas lässt dies zwar eine seiner Romanfiguren sprechen. Doch es gibt
keine differenzierende Gegenstimme im Krimi. Auch seine Figuren sind nur
„Typen“, die kaum eine Entwicklung kennen. Sie wirken erstarrt in diesem
Massiv von Cercas’ „Terra Alta“. Der Roman wird so insgesamt zu einer
persönlichen Abrechnung des Autors mit Katalonien, der für seine Haltung
seit 2017 mit Shitstorms von fanatischen katalanischen Nationalisten belegt
wird.
Literarisch betrachtet kann das Urteil über Cercas Roman nicht milde
ausfallen. Der Autor greift zwar interessante aktuelle Fälle auf, verquirlt
aber alles zu einem Brei und holzschnittartigen Abklatsch.
Ganz anders verhält es sich hingegen mit dem Roman „Simón“ von Miqui Oter…
## Don Quixote, der seine Dulcinea preist
Simón, der titelgebende Held, liest von früher Kindheit an Abenteuerromane,
die ihm zunächst sein älterer „Cousin-Bruder“ vom Flohmarkt verschafft.
Simón betet in der veralteten Sprache der Romane aus dem 19. Jahrhundert
eine ältere Freundin namens Estela an, die grüne Haare hat, aber
farbenblind ist. Als Leser denkt man sogleich an Don Quixote, der seine
Dulcinea preist. Während indes Don Quixote als Idealist und Fantast die
Bücher mit der Wirklichkeit verwechselt, ist Simón geschickter.
Simón muss auch pragmatisch sein, um sich aus der Kneipe Baraja im
heruntergekommenen Viertel von Raval und in der Nähe des Flohmarkts Sant
Antoni hochzukämpfen. Bis er schließlich mithilfe von erbeutetem Geld in
einer angesehenen Kochschule landet und von nun an mit dem Zwiebelmesser
statt im Geiste mit dem Florett fechtet. Er steigt auf, reist als Koch um
die Welt, während sein Cousin-Bruder spurlos verschwindet und immer mehr
verfällt.
Aber auch mit Simón geht es bald wieder bergab. Er verliebt sich in die
südamerikanische Kellnerin Candela. Doch die wird vom Chef belästigt. Simón
rächt sie und muss Leine ziehen. Danach gewinnt er mit Betty („aus gutem
Hause“) zwar viel Geld beim Billard, verliert es aber wieder. Betty,
inzwischen Immobilienhändlerin, gibt sich wiederum den Drogen hin.
## Schlüsselfigur der Kulturszene Barcelonas
Miqui Otero, 1980 in Barcelona geboren, schreibt ebenfalls auf Spanisch. Er
arbeitet auch als Journalist, schreibt für Zeitungen wie La Vanguardia
sowie für El País. Er gehört sicherlich zu den Schlüsselfiguren der
heutigen Kulturszene von Barcelona. Er ist in vielen Theorien bewandert und
hat ein Faible für zugespitzte Behauptungen: „Im Roman geht es, im
Gegensatz zum Sachbuch, nicht um Sachen, sondern um alles.“
Das klingt riskant, erfasst aber eine Totalität, also die vielen Sphären,
die literarische Helden wie Simón und sein Cousin, wie einst die Picaros im
Schelmenroman, durchlaufen. Es verweist auch auf das Abenteuerhafte, bei
dem die eigene Existenz auf dem Spiel steht. Das Zentralmotiv deutet aber
auch auf die Gefahr des Romans hin, dass „alles“ ins Allerlei kippt und die
Erzählung an Spannung verliert, da so manche Episoden einander gleichen.
Doch insgesamt glänzt Oteros Roman durch Witz und Aberwitz, durch den
zwischen Vulgär- und Hochsprache wechselnden Stil sowie seine waghalsigen
Vergleiche.
## Der Himmel in Zitrustönen
Kleine Kostprobe: Beim Sonnenuntergang über dem Montjuic von Barcelona
„schichtete der Himmel alle möglichen Zitrustöne übereinander, wie ein
Sandwicheis mit vielen Geschmacksrichtungen, das langsam zerfließt“. Oder:
Während Simón – auf der Flucht vor der Polizei – „versuchte, die Szene …
entschlüsseln, brummten über ihm die Rotorblätter eines Hubschraubers, als
würde ein Riese auf einem kleinzylindrigen Motorrad übungshalber sein
Schwert schwingen“.
An solchen Formulierungen spürt man auch die gewandte Handschrift des
Übersetzers Matthias Strobel. Miqui Otero lässt seine Figuren schillern, an
abseitigen Orten von Barcelona aufblitzen, dass es nur so kracht.
18 Oct 2022
## LINKS
[1] /Filmfestival-San-Sebastian/!5800229
## AUTOREN
Ruthard Stäblein
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