# taz.de -- Roman von Montserrat Roig: Barcelona, wie es tanzt und taumelt | |
> Montserrat Roig erzählt von drei Generationen in der Metropole – ein | |
> Hohelied auf die Selbstbehauptung: „Die Frauen vom Café Núria“. | |
Bild: Montserrat Roig (undatierte Aufnahme) | |
Mundeta ist ein Phänomen. Sie ist romantische Träumerin und hellwache | |
Realistin, konservative Aristokratin und linke Anarchistin, biedere Ehefrau | |
und begehrenswerte Femme Fatale, in sich gekehrt und doch voller Worte, | |
satt von den Verhältnissen und hungrig nach Leben. Sie flext mit offenen | |
Augen durch die Straßen Barcelonas, wie sie suchend durch die Geschichte | |
eines Jahrhunderts fliegt. Im Fin de Siècle ist sie ebenso zuhause wie in | |
den Sechzigern, hat die Ausrufung der spanischen Republik miterlebt und | |
wurde Zeugin ihrer Zerschlagung durch das faschistische Franco-Regime. | |
Mundeta tritt als „ich“, „du“ und „sie“ auf, ganz unvermittelt wech… | |
Perspektive zwischen den Seiten und Absätzen, ohne Aufschluss darüber zu | |
geben, wer sich da Gehör verschafft. Es sprechen die Großmutter, die Mutter | |
und die Tochter der Familie Ventura, die zur gehobenen Schicht der Stadt | |
gehört. Drei Frauen aus drei Generationen, die in Montserrat Roigs Roman | |
vom Ringen um Liebe und Anerkennung in wechselhaften Zeiten berichten. | |
Die Erzählung beginnt in expressiven Bildern, die an Künstler wie [1][John | |
Heartfield] oder [2][George Grosz] denken lassen. Sie lenken den Blick auf | |
die stinkenden Müllberge in den Straßen von Barcelona, in denen hungernde | |
Menschen nach Essbarem wühlen. Sie führen mit dem Geheul der Krankenwagen | |
zum Teatro Coliseum, wo es im Frühjahr 1937 zu einer verheerenden Explosion | |
kam. „Als hätte Gott zwei schallende Ohrfeigen verteilt. Und Flammen, | |
Geschrei, Gestöhn, Gejammer und Menschen, die sich an Trümmer klammerten, | |
Arme, die inmitten der Ruinen winkten, und Tote.“ | |
In diesem Chaos sucht die Mundeta der zweiten Generation nach ihrem Gatten | |
Joan, der in der Nähe des Theaters verabredet war. Dabei begegnet sie einem | |
alten Mann, der gerade die Leiche seines Neffen gefunden hat. „Der Krieg | |
wird uns zeitlebens nicht mehr loslassen, die Erinnerung wird uns | |
auffressen wie ein Wurm, uns, unsere Kinder und womöglich noch unsere | |
Enkel“, sagt er schmerzverzehrt zu Mundeta. | |
## Das Nagen der Geschichte | |
„Viele Jahre werden vergehen, ehe die Menschen hierzulande vergessen, was | |
geschehen ist.“ Wie aber vergessen, wenn die Geschichte an jeder Generation | |
nagt? Und musste man nicht besser aus der Geschichte lernen, als sie zu | |
vergessen? Solche Fragen stellen sich beim Lesen der Geschichten der drei | |
Frauen ein. | |
„Die Frauen vom Café Núria“ ist der Auftakt einer Trilogie, die Montserrat | |
Roig in den Siebzigern verfasst hat und die erstmals auf Deutsch | |
veröffentlicht wird. Darin geht die zeit ihres Lebens in Barcelona lebende | |
Schriftstellerin und Journalistin den Schicksalen einer Handvoll | |
Frauenfiguren in zwei verheirateten Familiendynastien nach und taucht in | |
die Geschichte der katalanischen Metropole ein. | |
Die legendäre Noblesse im ausgehenden 19. Jahrhundert, das kulturelle | |
Amüsement der Zwanziger und frühen Dreißiger Jahre, das apokalyptische | |
Chaos des Bürgerkriegs und die revolutionären Umbrüche während der | |
Studentenunruhen – all das wird in diesem Roman vor Augen geführt, den man | |
auch als Hohelied auf die katalanische Selbstbehauptung lesen muss. | |
Roig zeigt eine Stadt, die unter der Geschichte tanzt und taumelt, und die | |
aller Wandlungen zum Trotz immer geliebt-gehasste Heimat bleibt. Das | |
titelgebende Café Núria ist der Ort, an dem die Figuren in diesem Roman bei | |
dickflüssiger Schokolade zusammenkommen. | |
## Feministisches Buch | |
Der Auftakt der Trilogie ist vor allem als feministisches Buch zu lesen, | |
weniger im Sinne einer Vorbildwirkung der Figuren als vielmehr als | |
Nachdenken darüber, wie ein Lernen aus den Erfahrungen der Ahnen über die | |
Generationenkonflikte hinweg möglich ist. Denn so unterschiedlich die Wege | |
der drei Mundetas sind, so ähnlich ist der Rahmen, in dem sie sich bewegen. | |
Sie bleiben von einem Mann abhängig – finanziell, standesgemäß und | |
emotional. Dennoch wird in ihnen der Ruf nach Selbstbestimmung immer | |
lauter. | |
Montserrat Roig erzählt die Geschichte weiblicher Selbsterfahrung in einer | |
männerdominierten Welt, die sich in den Generationen in anderer Gestalt | |
wiederholt. Statt miteinander zu sprechen, ziehen sich die drei Frauen in | |
sich selbst zurück. Jede bleibt mit ihren Traumata – Einsamkeit, Betrug, | |
Verlust, Gewalt – allein. Der Weg von der Frau, die sie sein sollen, zu der | |
Frau, die sie sein wollen, mag sich ändern, weniger steinig wird er nicht. | |
Einsam bleiben sie in ihrer Selbstbehauptung, getragen von der Eigenschaft, | |
im Zweifel über sich hinauszuwachsen. | |
Die ständigen Wechsel der Perspektiven sind allerdings herausfordernd, auch | |
weil die Stimmen der drei Frauen in dem von Ursula Bachhausen und Kirsten | |
Brandt übersetzten Text recht ähnlich klingen. Hinter der erzählerischen | |
Herangehensweise aber verbirgt sich vermutlich die für damalige | |
Verhältnisse (der Roman ist 1972 erschienen!) höchst moderne Absicht, das | |
Dasein von Frauen gleichermaßen von innen wie von außen zu beleuchten. | |
Das, was die Gesellschaft an objektiven Erwartungen an Frauen heranträgt, | |
kommt so ebenso zur Geltung wie die subjektiven Ansprüche, Hoffnungen und | |
Ängste. Die Diskrepanz zwischen beidem war damals nicht kleiner als heute. | |
27 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Hummitzsch | |
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