# taz.de -- Festival in Barcelona: Paläste für die Musik | |
> Musik teils umsonst und in den schönsten Konzerthäusern der Stadt: Daran | |
> arbeiten in Barcelona zwei Festivals für klassische Musik parallel. | |
Bild: Einer der schönsten Konzertsäle der Welt: Der Palau de la Música Catal… | |
Am Nebentisch im Straßenimbiss sitzt ein kleiner alter Mann. Auf seinem | |
Schoß schläft ein Hündchen, und neben seinem Wasserglas steht auf dem Tisch | |
ein tragbarer Minilautsprecher, aus dem leicht blechern Flamencogesang zu | |
Gitarrenbegleitung erklingt. Mit den Knöcheln der linken Hand klopft er | |
einen komplizierten durchbrochenen Zwölferrhythmus auf die Tischplatte und | |
begrüßt entspannt vorbeigehende Bekannte, ohne je einen Takt auszulassen. | |
Das Wasser im Glas pulsiert zitternd mit. | |
Es ist eine Szene, die geeignet wäre, einen Dokumentarfilm – oder auch | |
einen Artikel – über die Flamencoszene in Katalonien einzuleiten. Aber um | |
Gitarren, Gesang und fliegende Röcke wird es gar nicht gehen in diesem | |
Text, der, hätte nicht noch der Herr mit dem Hündchen den Weg der | |
Reporterin gekreuzt, ausschließlich unter dem Eindruck einer ganz anderen | |
Musikszene entstanden ist. | |
Denn jedes Jahr im März schlägt die Stunde [1][von Barcelona Obertura], | |
einem Festival klassischer Musik, das mit prestigeträchtigen | |
Großproduktionen lockt und für das ab und zu gern ein bisschen ausländische | |
Presse eingeladen wird. | |
Vor ein paar Jahren haben sich das Opernhaus sowie die beiden Konzerthäuser | |
der Stadt zusammengetan, um vermehrt KulturtouristInnen in die Stadt zu | |
locken. Zwar mangelt es Barcelona nicht an Anziehungskraft für Reisende aus | |
aller Welt, doch genau das war zunehmend zum Problem geworden: Die | |
Altstadtgassen waren ständig verstopft von Touristengruppen, die Strände | |
voll mit zechenden Partymenschen, viele Wohnungen zweckentfremdet als | |
Airbnb-Unterkünfte. | |
## Tourismus steuern | |
Schließlich ergriff die Stadtverwaltung unter der linken Bürgermeisterin | |
Ada Colau, die bis 2023 im Amt war, gezielte [2][Maßnahmen gegen | |
Overtourism.] Unter anderem wurde eine Obergrenze für die Anzahl der | |
Hotelbetten im Innenstadtbereich eingeführt; neue Hotels dürfen nur noch in | |
Randbezirken gebaut werden. | |
Man kann sich also gut vorstellen, dass die Initiatoren von Barcelona | |
Obertura mit dem Konzept, im Bereich der klassischen Musik mehr | |
internationale Strahlkraft zu entwickeln, offene Türen einrannten; denn | |
KulturtouristInnen pflegen überdurchschnittlich viel Geld auszugeben und | |
fallen in der Öffentlichkeit seltener durch unangemessenes Verhalten auf. | |
Allerdings hatten die Bürgermeisterin und ihr Team eine Bedingung, erzählt | |
Festivalchef Victor Medem: Es gehe nicht an, nur ein Festival für eine | |
zahlungskräftige internationale Klientel zu etablieren, hieß es, sondern | |
man müsse auch den EinwohnerInnen Barcelonas etwas bieten. So wurde die | |
Idee zu „Ciutat de Clàssica“ (Stadt der Klassik) geboren: Parallel zu den | |
großen internationalen Produktionen, die Barcelona Obertura im März zeigt, | |
findet alljährlich ein weiteres Festival statt, bei dem in der ganzen Stadt | |
besondere Orte musikalisch bespielt werden – bei freiem Eintritt. | |
## Perle des Jugendstils | |
Oft handelt es sich um Locations, die sonst für die Öffentlichkeit nicht | |
ohne Weiteres zugänglich sind oder für deren bloße Besichtigung viel Geld | |
bezahlt werden müsste – wie zum Beispiel für das von Antoni Gaudí | |
entworfene Casa Batlló, eine Perle des katalanischen Jugendstils und einer | |
der größten Touristenmagnete der Stadt. Wenn hier ein Konzert von Ciutat de | |
Clàssica stattfindet, pflegen die Tickets innerhalb weniger Minuten | |
ausgebucht zu sein. | |
Im Ausland weniger berühmt als Gaudí, als herausragender Vertreter des | |
Modernismo für die Stadt aber fast ebenso wichtig ist der Architekt Lluís | |
Domènech i Montaner, dem Barcelona unter anderem einen der schönsten | |
Konzertsäle der Welt verdankt: den Palau de la Música Catalana, der zum | |
Unesco-Weltkulturerbe gehört und in den Jahren 1905 bis 1908 für den Chor | |
Orfeó Català erbaut wurde. | |
## Mosaike aus Glas über Bachs Chorälen | |
Farbenfrohe Mosaike formen sich überall im Haus zu raumgestaltenden | |
Elementen, schmücken Wände und Säulen. Ein gigantisches Glasmosaik in | |
Kronleuchterform fungiert als Oberlicht für den Konzertsaal, tagsüber von | |
natürlichem Licht gespeist und in hellen Farben leuchtend, nachts in | |
dunkleren Tönen elektrisiert schimmernd. Zahllose große Keramikrosen | |
schmücken die Saaldecke, und farbig gestaltete Glasfenster zu allen Seiten | |
des Saals sorgen für sanftes, wohltemperiertes Licht. | |
Im Palau finden in erster Linie klassische Konzerte, aber auch | |
Flamenco-Abende statt. Und just an jenem Abend im März, an dem die kleine | |
journalistische Reisegruppe im Haus zu Gast ist, gibt es tatsächlich ein | |
ganz besonderes Erlebnis: Jordi Savall und seine Ensembles La Capella Reial | |
de Catalunya und Le Concert des Nations treten mit Bachs Johannes-Passion | |
auf. | |
Es ist eine sehr intime, konzentrierte Version des Oratoriums: die | |
historischen Instrumente nicht auftrumpfend, sondern ein bewegliches | |
musikalisches Rückgrat für die Singstimmen; die Capella Reial mit genau | |
zwanzig SängerInnen in beglückender klanglicher Gleichgewichtung besetzt; | |
die Choräle musikalisch mit liturgischer Schlichtheit auf einzelne Linien | |
gebracht. | |
Unzeremoniös begibt sich der Maestro nach Jesu Kreuzigung vom | |
Dirigentenpult zur Gambe, um den Countertenor Raffaele Pe zur Alt-Arie „Es | |
ist vollbracht“ ganz allein zu begleiten. Die Sprödigkeit des | |
Männerdiskants und die weiche, etwas raue Tongebung der Gambe ergänzen und | |
vereinen sich zu einem Klangbild tief verinnerlichter Trauer – | |
dramaturgischer Höhepunkt und gleichzeitig Quintessenz dieser denkwürdigen | |
Passionsdarbietung. | |
Der Zufall will es, dass in den Tagen des Pressebesuchs beim Festival fast | |
ausschließlich Musik deutschsprachiger Komponisten zu hören ist. Eine | |
eigenwillige Auffassung von Händels „Messias“, nämlich das Arrangement des | |
Werkes durch Wolfgang Amadeus Mozart, wird im Opernhaus, dem Gran Teatre | |
del Liceu, gespielt – in einer surrealistisch inspirierten szenischen | |
Einrichtung von Robert Wilson, die er ursprünglich für die Mozartwoche in | |
Salzburg entwickelt hatte. | |
Großes Highlight dieser Produktion ist die Sopranistin Julia Lezhneva – | |
neben den ChoristInnen des Hauses, die ein Jahr lang daran gearbeitet | |
haben, sich von einem Opern- zu einem Oratorienchor zu wandeln. | |
## Puccini für die Pflanzen | |
Der sehenswerte Saal des Liceu hat mit seinen fünf Rängen annähernd | |
Mietskasernenhöhe und fasst 2.222 Sitze, die zur „El Messies“-Premiere | |
ausverkauft sind. Während des Corona-Lockdowns, als Menschen nicht in die | |
Oper durften, waren es 2.222 Pflanzen, die diese Plätze einnahmen und | |
exklusiv mit Puccinis „Crisantemi“ beschallt wurden. | |
Der dritte große Musiktempel Barcelonas heißt schlicht „L’Auditori“, das | |
Auditorium, und gibt sich äußerlich provokant schmucklos als langgestreckte | |
Schuhschachtel aus Beton und Stahl. Doch in dem 25 Jahre jungen Gebäude von | |
Rafael Moneo verbergen sich hochmoderne Technik und mehrere Konzertsäle, | |
deren größter eine Kapazität von 2.200 Plätzen hat. Hier treten die | |
Düsseldorfer Symphoniker unter Ádám Fischer mit einer fulminanten Version | |
von Mahlers 5. Sinfonie auf. Eine schöne Sache, für die man aber natürlich | |
auch nach Düsseldorf fahren könnte. | |
Ein wirklich außergewöhnliches musikalisches Erlebnis dagegen bietet ein | |
Konzert, das im Rahmen von Ciutat de Clàssica im Mies-van-der-Rohe-Pavillon | |
stattfindet. Vier junge Musiker, die seit 2019 als Atenea Quartet gemeinsam | |
auftreten, beleben das ikonische Architekturdenkmal (als deutscher Beitrag | |
für die Weltausstellung 1929 erbaut) mit Streichquartetten von Britten, | |
Purcell und zuletzt dem anspruchsvollen und selten gespielten | |
Streichquartett op. 7 von Arnold Schönberg in einer atemberaubenden | |
Performance. | |
Er habe schon ein paarmal versucht, dieses Werk ins Programm zu nehmen, | |
erzählt Festivalleiter Victor Medem später, aber erst das Atenea Quartet | |
habe die Herausforderung angenommen. | |
Auf die Frage, wie das umfangreiche kostenlose Konzertangebot von Ciutat de | |
Clàssica überhaupt finanziert werde, zuckt Medem nur leichthin die | |
Schultern: „Die Musiker sind alle jung und stehen noch am Anfang ihrer | |
Karriere. Wir müssen also keine hohen Gagen zahlen.“ Und die öffentlichen | |
Räume als Aufführungsorte gibt es ja umsonst. Was für eine absolut | |
nachahmenswerte Idee. | |
2 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.barcelonaobertura.com/savour-the-season/spring/?utm_source=goog… | |
[2] /Tourismus-in-Barcelona/!5876949 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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