| # taz.de -- Soli-Demo für Lina E.: Was vom Tag X übrig bleibt | |
| > Bei der linken Demo werden 1.000 Menschen von der Polizei eingekesselt, | |
| > 50 Beamte werden verletzt. Die Stadt verbietet eine weitere Demo am | |
| > Sonntag. | |
| Bild: Demonstrant:innen bei einer sogenannten polizeilichen Umschließung in de… | |
| Leipzig taz | Um kurz vor 2 Uhr am Sonntagmorgen zieht Jürgen Kasek vom | |
| Alexis-Schumann-Platz ab, das Megafon über der Schulter, sein Fahrrad in | |
| die Nacht schiebend, vorbei an einer schier endlosen Schlange an | |
| Polizeiwannen. „Heute hat der Rechtsstaat kapituliert“, schimpft der Grüne | |
| nur noch leise, ermattet vom stundenlangen Reden. Ein „autoritärer Staat“ | |
| habe ein „faktisches Grundrechtsverbot“ für Linke erlassen. „Das ist eine | |
| Eskalation, die man hätte vermeiden können.“ | |
| Um diese Zeit sind immer noch Polizeikräfte überall in der Leipziger | |
| Südvorstadt und in Connewitz unterwegs, Wasserwerfer stehen in | |
| Seitenstraßen, am Himmel kreist ein Hubschrauber. Und zur selben Zeit | |
| stehen gegenüber dem Alexis-Schumann-Platz immer noch gut 150 | |
| Protestierende zusammen, seit Stunden umzingelt von der Polizei. Die | |
| Letzten von ihnen werden erst am Sonntagmorgen um kurz nach 5 Uhr | |
| rauskommen, nach 11 Stunden. Schweren Landfriedensbruch und Angriffe auf | |
| Vollstreckungsbeamte wirft die Polizei ihnen nun vor, wegen Böller-, Stein- | |
| und Flaschenwürfen. | |
| Das ist es also, was vom [1][„Tag X“] bleibt. Von „sinnloser Gewalt von | |
| linksextremistischen Chaoten und Randalierern“ spricht am Sonntag | |
| Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Diese sei „durch nichts zu | |
| rechtfertigen“, die Straftäter müssten „konsequent zur Rechenschaft gezog… | |
| werden“. Auch Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) spricht von | |
| „massiven Angriffen“. Das Vorgehen von Polizei, Stadt und Justiz sei | |
| „richtig“ gewesen. Auf der anderen Seite beklagen Linke, die Leipziger | |
| Jusos und Teile der Grünen eine belagerte Stadt und einen völlig | |
| überzogenen Polizeieinsatz. | |
| Seit Monaten hatten Autonome zu der „Tag X“-Demonstration für den Samstag | |
| nach dem Urteil in dem Prozess gegen die Leipziger Linke Lina E. und drei | |
| Mitangeklagte nach Leipzig aufgerufen. Am Mittwoch nun hatte das | |
| Oberlandesgericht Dresden das Quartett zu Haftstrafen von bis zu gut fünf | |
| Jahren verurteilt: wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung und mehreren | |
| schweren Angriffen auf Rechtsextreme. | |
| ## Bundesverfassungsgericht wies Beschwerde ab | |
| Schon am Donnerstag aber hatte die Stadt Leipzig die „Tag X“-Demonstration | |
| verboten, weil ein „unfriedlicher Verlauf“ zu erwarten sei. Ab Donnerstag | |
| wurden in einer Allgemeinverfügung keine Versammlungsanmeldungen mit Bezug | |
| zum Lina-E.-Urteil mehr erlaubt, ab Freitag galt ein 48-stündiger | |
| Kontrollbereich in der Stadt. Die Leipziger Polizei organisierte den | |
| größten Einsatz seit Jahren, mit Einsatzkräften aus fast allen | |
| Bundesländern – noch einmal mehr als zur „Wir sind alle Linxx“ | |
| Demonstration vor zwei Jahren, bei der sich bereits gut 3.500 Teilnehmende | |
| [2][mit Lina E. solidarisiert] hatten. | |
| Mehrere Gerichte bestätigten das Demoverbot, am Samstag wies auch das | |
| Bundesverfassungsgericht eine Beschwerde dagegen zurück. Die autonome Szene | |
| aber hatte trotzdem weiter zum Protest aufgerufen – „jetzt erst recht“. | |
| Auch wurde in einem Aufruf ein Sachschaden von 1 Million Euro für jedes | |
| verhängte Haftjahr angekündigt. | |
| Am Samstagnachmittag hatte Jürgen Kasek noch gehofft, das Ganze irgendwie | |
| retten zu können. Der Verein „Say it out loud“ hatte eine Demonstration am | |
| Alexis-Schumann-Platz nördlich von Connewitz angemeldet, schon am Mittwoch | |
| in Reaktion auf die Allgemeinverfügung, als das noch erlaubt war. „Die | |
| Versammlungsfreiheit gilt auch in Leipzig“, lautete der Titel. Kasek, | |
| grüner Stadtverordneter, übernahm die Versammlungsleitung. In der autonomen | |
| Szene wurde der Aufzug schnell als Ersatz für die verbotene „Tag | |
| X“-Demonstration ausgemacht. | |
| Tatsächlich sammeln sich am Samstagnachmittag gut rund 2.000 Menschen auf | |
| der Grasfläche, rundherum Polizeiwägen. Familien mit Kinderwagen sind | |
| anfangs darunter, die „Omas gegen rechts“, eine Trommelgruppe. Am Kopf der | |
| Demo steht eine Gruppe, die sich mit inhaftieren türkischen | |
| Antifaschist:innen solidarisiert, denen eine kriminelle und | |
| terroristische Vereinigung im Ausland vorgeworfen wird. Parallel aber | |
| sammeln sich Schwarzgekleidete. Eine Frau trägt ein Pappschild mit „Free | |
| Lina“, auf einem Plakat prangt die Anspielung auf die Hammerangriffe ihrer | |
| Gruppe: „… if i had a hammer“. | |
| Als Jürgen Kasek über einen kleinen Lautsprecher die Veranstaltung | |
| eröffnet, wird er immer wieder von Sprechchören unterbrochen. „129 kennen | |
| wir schon – Feuer und Flamme der Repression“ ertönt es. Gemeint ist der | |
| Paragraf 129 im Strafgesetzbuch: die kriminelle Vereinigung. Die Polizei | |
| macht die Straßen dicht, fordert ein Ablegen der Vermummung. Auch Kasek | |
| appelliert, sich nicht zu vermummen – weitgehend ohne Erfolg. Man habe kein | |
| Interesse an einer Eskalation, sagt Kasek der taz. „Wir wollen diese Bilder | |
| nicht liefern. Sonst spielen wir nur ein Spiel mit, das wir nicht gewinnen | |
| können. Gewalt ist nie ein Selbstzweck.“ Die Polizei hat wegen des | |
| Schwarzen Blocks bereits nur noch eine stationäre Kundgebung erlaubt. Kasek | |
| kritisiert das scharf. „Ich habe den Eindruck, dass nie geplant war, dass | |
| wir laufen dürfen. Das wirkt wie eine Falle.“ | |
| Wenig später rennt der Schwarze Block plötzlich los, Richtung einer | |
| Seitenstraße. Steine, Flaschen und Feuerwerk fliegen auf Polizeibeamte, | |
| laut Beobachtern auch ein Brandsatz. Pink, lila und schwarze Rauchschwaden | |
| liegen über den Straßen. Die Polizei aber riegelt die Straße ab, lässt | |
| Wasserwerfer aufziehen und treibt die Autonomen zurück auf den Platz – | |
| [3][in den Polizeikessel.] Dort hinein geraten indes auch andere | |
| Teilnehmende, etwa die türkischen Antifaschist:innen. Umstehende | |
| solidarisieren sich noch mit den Festgesetzten. Eine Kundgebung oder | |
| Demonstration wird es nicht mehr geben. | |
| In Connewitz kommt es in den Folgestunden noch zu vereinzelten kleinen | |
| Barrikadenbauten und Steinwürfen auf eine Polizeiwache. Die Polizei hat es | |
| aber schnell unter Kontrolle, rückt wieder mit Wasserwerfern an. Am Ende | |
| steht nur noch der Polizeikessel in der Südvorstadt. Bis in die | |
| Morgenstunden werden dort Parolen gerufen. „Free Lina“, schallt es. Oder: | |
| „Wo wart ihr in Hanau?“ Immer wieder fordert die Polizei auf, politische | |
| Parolen mit Bezug auf Lina E. zu unterlassen. Demosanitäter werfen | |
| Wasserflaschen und Chips in die Menge, verteilen später Rettungsdecken | |
| gegen die Kälte. | |
| Jürgen Kasek versucht auch da noch, eine Solidaritätsdemonstration für die | |
| Festgesetzten anzumelden, redet unablässig mit Polizeibeamten – ohne | |
| Erfolg. Selbst Minderjährige würden in dem Kessel festgehalten, Eltern | |
| nicht informiert, schimpft er. „Das ist rechtswidrig.“ Nach und nach werden | |
| die Eingekesselten von der Polizei herausgeführt, fotografiert, ihre | |
| Personalien aufgenommen. Die meisten erhalten einen Platzverweis, einige | |
| berichten, sie hätten ihre Handys abgeben müssen. Spricht die Polizei | |
| zunächst von 300 Festgesetzten, korrigiert sie das später auf gut 1.000 | |
| nach oben. Der elfstündige Kessel toppt damit sogar noch den der | |
| Blockupy-Proteste 2013 in Frankfurt am Main, wo ebenfalls gut 1.000 | |
| Demonstrierende für neun Stunden festgesetzt wurden – das | |
| Bundesverfassungsgericht hielt das später für rechtmäßig. | |
| In Leipzig wird erst im Morgengrauen die letzte Person aus dem Kessel | |
| geführt. Fünfzig werden in Gewahrsam genommen, bei 30 wird ein Haftbefehl | |
| geprüft. Die Polizei spricht von 50 verletzten Einsatzkräften, drei davon | |
| dienstunfähig. Polizeipräsident René Demmler spricht von „viel sinnloser, | |
| extremer Gewalt“. | |
| „Skandalöses Versammlungsverbot“ | |
| Auf der anderen Seite schimpft auch die Connewitzerin und | |
| Linken-Landtagsabgeordnete Jule Nagel über ein „skandalöses | |
| Versammlungsverbot“ am Wochenende. Nagel ist bestens mit der Szene | |
| vernetzt, hatte im Vorfeld noch dazu aufgerufen, Leipzig „nicht zu | |
| zerkloppen“. Am Samstagnachmittag war auch sie am Schumann-Park, hatte | |
| versucht, mit der Polizei über eine Demonstration zu verhandeln – | |
| vergebens. „Zumindest eine kurze Route hätte geholfen, um Dampf | |
| abzulassen“, klagt Nagel. „Aber da wurde völlig dichtgemacht.“ | |
| Zu den Empörten gehört auch Rechtsanwalt Max Malkus, der einen der | |
| Beschuldigten vertritt, die bereits am Freitag in Connewitz verhaftet | |
| wurden. Auch dort war es bereits zu Stein- und Flaschenwürfen auf | |
| Polizeibeamte und Einsatzfahrzeuge in Connewitz gekommen, auch private Pkws | |
| wurden beschädigt. Fünf Männer, 20 bis 32 Jahre alt, wurden daraufhin | |
| festgenommen – alle landeten in U-Haft. Einer davon ist Mandant von Anwalt | |
| Malkus. Die Haftbefehle seien wegen angeblicher Fluchtgefahr angesichts der | |
| zu erwartenden hohen Strafen ausgestellt worden, so der Anwalt. „Völlig | |
| überzogen bei solchen Vorwürfen und in der Sache nicht zu vertreten“, | |
| schimpft Malkus. | |
| Es habe teilweise 24 Stunden gedauert, bis die Festgenommenen dem | |
| Haftrichter vorgeführt worden seien. „Und der war inhaltlich überfordert, | |
| wollte sich aber auch keine weiteren Bereitschaftsrichter heranziehen oder | |
| Argumente hören. Sein Job war es, einfach alle wegzusperren. Hier sollte | |
| ein Exempel statuiert werden.“ | |
| In Connewitz wollten Linke derweil am Sonntagabend wieder demonstrieren, am | |
| Herderpark, „gegen Polizeigewalt“. Auch Jürgen Kasek wollte kommen. Aber | |
| auch diese Demonstration wurde am Sonntag von der Stadt verboten, mit | |
| Verweis auf die Allgemeinverfügung und eine erneute Eskalationsgefahr. „Das | |
| ist alles unfassbar“, schüttelt Kasek da nur noch den Kopf. „Die | |
| Versammlungsfreiheit wurde an diesem Wochenende in Leipzig einfach | |
| abgeschafft.“ | |
| 4 Jun 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Tag-X-Demonstration-in-Leipzig/!5938310 | |
| [2] /Urteile-im-Linksextremismus-Prozess/!5934710 | |
| [3] /Tag-X-Demonstration-in-Leipzig/!5938323 | |
| ## AUTOREN | |
| Konrad Litschko | |
| Adefunmi Olanigan | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Antifa | |
| Lina E. | |
| Polizeigewalt | |
| Leipzig | |
| GNS | |
| IG | |
| Linksextremismus | |
| Hausdurchsuchung | |
| Linksextremismus | |
| Lina E. | |
| Schwerpunkt Pressefreiheit | |
| Linksextremismus | |
| Lina E. | |
| Polizei | |
| IG | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Polizei will Fotos von „Tag-X“-Demo: Hausdurchsuchung bei Fotografen | |
| Die Leipziger Staatsanwaltschaft ermittelt zum „Tag X“ im Juni im Leipzig. | |
| Für mögliche Beweise durchsucht sie die Wohnung eines jungen Fotografen. | |
| Tag X in Leipzig: Polizei räumt Handlungsbedarf ein | |
| Das Urteil gegen Lina E. hat Leipzig in den Ausnahmezustand versetzt. Nach | |
| Kritik am Polizeieinsatz bemüht sich der Polizeipräsident um Transparenz. | |
| Innenministerium zu linken Fahrgästen: Keiner will diskriminieren | |
| Das Innenministerium kennt kein Hilfegesuch der Bundespolizei an Bahnen, | |
| linke Fahrgäste zu melden. Das widerspricht Angaben der Bundespolizei. | |
| Angriffe auf Medien in Leipzig: Prekäre Pressefreiheit | |
| Bei Soli-Demos für Lina E. kam es zu Gewalt gegen Journalist*innen. Laut | |
| Beobachter*innen ging die aber meistens nicht von den Protestierenden aus. | |
| Kritik an Polizeieinsatz in Leipzig: „Wir kamen uns vor wie Tiere“ | |
| Protest und Polizeieinsatz zum „Tag X“ in Leipzig werden im Landtag | |
| aufgearbeitet. Ein Betroffener berichtet von den Verhältnissen im | |
| Polizeikessel. | |
| Leipzig nach dem „Tag-X“: Nächste Lina-E.-Demo verboten | |
| Leipzig verbietet eine für Sonntagabend geplante Demonstration, die sich | |
| gegen Polizeigewalt richten sollte. Grund seien die Erfahrungen vom Vortag. | |
| „Tag-X“-Demonstration in Leipzig: Eilantrag gegen Demoverbot gescheitert | |
| Am Vorabend zur „Tag-X“-Demo kam es im Leipziger Süden zu Ausschreitungen. | |
| Nun ist ein Eilantrag beim Bundesverfassungsgericht gegen das Verbot | |
| gescheitert. | |
| Prozess gegen Lina E.: Antifa, weil Staatsversagen | |
| Die Urteile im Antifa-Ost-Prozess sollen Linke abschrecken. Dabei geht die | |
| größere Gefahr von Rechtsextremen aus. Warum Antifaschismus nötiger ist | |
| denn je. |