Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Schwarz-roter Koalitionsvertrag: Kommissionen als Ritualobjekte
> Wer im Koalitionsvertrag nach Sozialpolitik sucht, dessen Augen bleiben
> immer wieder an einem Wort hängen: „Kommission“. Das verheißt nichts
> Gutes.
Bild: Der Koalitionsvertrag steht: Markus Söder (CSU), Friedrich Merz (CDU), L…
Die Ereignisse am Mittwoch ließen mich an jenes Fest des Dorfes denken, bei
dem eine reich geschmückte Heiligenfigur nach einem uralten Ritus von den
stolzesten Jünglingen durch die Gassen getragen wird. Nur einmal alle vier
Jahre ist sie zu sehen, die mythische Heilige im goldverzierten Schrein,
die Jüngeren kennen sie nur aus Erzählungen der Großmütter. Aus dem dichten
Gedränge heraus sind für viele nur die fast blinden Scheiben des Schreins
zu erspähen. Doch halt: Da ist ja gar keine Figur! Zwischen den
Brokatstoffen ist – nichts.
Na gut, [1][144 Seiten Koalitionsvertrag] sind nicht nichts. Aber wer zum
Beispiel etwas Interesse an Sozialpolitik mitbringt, dessen Augen bleiben
im Text vor allem an einem Stichwort hängen: Kommission. Die
gesundheitspolitischen Vorhaben sollen bis Frühjahr 2027 von einer
Kommission „in der Gesamtwirkung“ betrachtet werden, es werden dann auch
„Ableitungen“ getroffen. Eine Kommission soll über die Finanzierung einer
Pflegereform nachdenken. Eine Kommission wird bis Mitte der
Legislaturperiode eine neue Kenngröße für die Rente „prüfen“. Eine
Kommission soll über Transparenz und Zusammenlegung von Sozialleistungen
nachdenken.
Sie haben richtig gezählt: Es sind vier Kommissionen, über deren
Zusammensetzung, Gründungstreffen und interne Verwerfungen die
Öffentlichkeit sich dann freuen darf, bevor die Regierung beschließt,
welchen Teil der Arbeitsergebnisse sie wahrnehmen möchte und was davon sie
versenkt. Um hier schon einmal einen Tipp zu platzieren: Kommissionen, die
erst zur Mitte der Legislaturperiode etwas vorlegen sollen, haben wenig
Chancen, überhaupt noch Termin und Ort für eine Vorstellung so zu legen,
dass dort auch jemand vorbeischaut.
Das war natürlich bei der Hartz-Kommission des SPD-Kanzlers Gerhard
Schröder vor 23 Jahren anders: Schröder brauchte die Kommission, um die
für den Fall einer Wiederwahl längst geplanten Kürzungen für Arbeitslose
von ausgewählten Experten umfächeln zu lassen. Da musste es schon eine
[2][Feierstunde im Französischen Dom] auf dem Berliner Gendarmenmarkt sein,
um der Sache ausreichend Weihe zu verleihen. Samt Glockengeläut, das die
vielen Millionen NiedriglöhnerInnen vielleicht noch im Ohr haben, die dann
viele Jahre warten mussten, bis ein [3][Mindestlohn] sie halbwegs aus der
Armutszone lupfte.
## Privatisierung zulasten der gesetzlich Versicherten
Umso aufmerksamer wurde ich deshalb, als ein aufgeräumt wirkender
Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz am [4][Mittwochabend im „heute
journal“ sagte]: „Wir haben das Wort Eigenverantwortung [5][im Vertrag
stehen].“ Denn das bedeutet aus dem Arbeitgeberdeutschen übersetzt:
Privatisierung von Sozialleistungen zulasten der gesetzlich Versicherten.
Tatsächlich findet sich der Eintrag im Kapitel Pflege, Zeile 3.482:
„Anreize für eigenverantwortliche Vorsorge“ werden von einer
Bund-Länder-Arbeitsgruppe geprüft – und dies noch 2025.
Gespannt bin ich also auf die Vertreter von CDU/CSU, die auf eine
Kapitalbasis in der [6][Pflegeversicherung] drängen; die
Versicherungskonzerne haben schließlich auch ihre Erwartungen. Gespannt bin
ich auch auf die Vertreterinnen der SPD, die noch mal flink im
[7][Koalitionsvertrag von 2021] nachschlagen: Stimmt, da wollten wir doch
auch schon eine freiwillige, von Arbeitgebern und Arbeitnehmern
gleichermaßen finanzierte Vollversicherung! Übrigens wollte dazu auch die
Ampel schon eine Kommission eingesetzt haben, von der man dann aber nie
mehr hörte.
War der Schrein mit der mythischen Heiligen etwa vor vier Jahren auch schon
leer? Aber wozu Heilige – beim Ritual ist der Vorgang selbst das
Entscheidende. Das also, was Gemeinschaft und Sicherheit in der
Kontinuität stiftet.
12 Apr 2025
## LINKS
[1] https://www.wiwo.de/downloads/30290756/6/koalitionsvertrag-2025.pdf
[2] https://www.deutschlandfunk.de/hartz-komission-peter-hartz-bericht-100.html
[3] /Mindestlohn-feiert-10-jaehriges-Jubilaeum/!6058080
[4] https://www.zdf.de/play/magazine/heute-journal-104/heute-journal-vom-9-apri…
[5] /Koalitionsvertrag-von-Union-und-SPD/!6081312
[6] /Pflegeversicherung-unter-Druck/!6041134
[7] https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_…
## AUTOREN
Ulrike Winkelmann
## TAGS
Koalitionsvertrag
Friedrich Merz
Hartz IV
Kolumne Ernsthaft?
GNS
Kolumne Ernsthaft?
Prekäre Arbeit
Strompreis
Koalitionsverhandlungen
## ARTIKEL ZUM THEMA
„Manifest“ aus den Reihen der SPD: Ein unwürdiger, reflexhafter Phrasenaus…
Die Bedrohung durch Russland unter Panikmache zu verbuchen, dazu braucht
man Nerven. Die aber bringt eine Truppe gestandener SPD-Vertreter auf.
Pläne der neuen Regierung: Mehr Überstunden bis ins hohe Alter
Mehr Überstunden, weniger Teilzeit und arbeiten bis ins hohe Alter: ein
Blick auf die Pläne der neuen Regierung zum Tag der Arbeit.
Strompaket der neuen Regierung: Schwarz-rotes Preissenken wird teuer
Union und SPD wollen den Strompreis für alle um 5 Cent senken. Das kostet
mehr als 20 Milliarden Euro im Jahr, erwartet die Energiebranche.
Regierungsbildung: Der Koalitionsvertrag als Wille und Vorstellung
Auf Hunderten Seiten alle politischen Vorhaben im Detail festlegen: Diese
deutsche Gewohnheit ist im explosiven Jahr 2025 zum Scheitern verurteilt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.