# taz.de -- Regierungsbildung: Der Koalitionsvertrag als Wille und Vorstellung | |
> Auf Hunderten Seiten alle politischen Vorhaben im Detail festlegen: Diese | |
> deutsche Gewohnheit ist im explosiven Jahr 2025 zum Scheitern verurteilt. | |
Bild: Friedrich Merz, CDU-Parteivorsitzender und Kanzlerkandidat | |
Deutschland ist im Jetlag. Jeden Morgen ist das erste Thema: Was hat Donald | |
Trump während der Nacht gemacht? Welche Zölle gelten heute? Welche Länder | |
werden morgen annektiert? Welche Gesprächspartner wurden gestern | |
angebrüllt? Aus welchen Organisationen treten die USA gerade aus? Welche | |
Kriegsdrohungen wurden ausgesprochen, welche Zusagen an die Ukraine | |
gebrochen, welche Schmeicheleien an Putin gesendet? Von welcher Äußerung | |
von vorgestern sagt Trump jetzt das Gegenteil? Die Weltpolitik ändert sich | |
täglich, nein: stündlich. | |
Nur eines ändert sich nicht: die Innenpolitik der Bundesrepublik | |
Deutschland. Am 23. Februar gab es eine Bundestagswahl. Seit 8. März gibt | |
es die [1][„Ergebnisse der Sondierungen von CDU, CSU und SPD“]. Als | |
Nächstes gibt es Koalitionsverhandlungen. Irgendwann gibt es einen | |
Koalitionsvertrag. Dann gibt es eine Regierungskoalition. Zu Ostern | |
vielleicht, sagte Friedrich Merz kurz nach seinem Wahlsieg. | |
Das galt als ambitioniert. Bis Ostersonntag, 20. April sind vielleicht | |
ganze Länder von der Weltkarte verschwunden, aber in Deutschland, wo der | |
Bau eines U-Bahn-Aufzugs zehn Jahre dauern kann, regiert man mit | |
Deutschlandtempo. | |
Warum dauert das alles so lange? Weil Deutschland einem in der Welt | |
ziemlich einmaligen Prinzip folgt: Bevor eine neue Regierungskoalition die | |
Ämter aufnimmt, legt sie im Detail alles fest, was sie in der gesamten | |
Legislaturperiode zu tun gedenkt. Man schließt einen „Koalitionsvertrag“, | |
und der wird dann vier Jahre lang „abgearbeitet“. Man hält kurz die | |
Weltkugel an, macht einen Plan, und den setzt man dann um. Die Welt dreht | |
sich weiter? Nicht in Deutschland. Öfter als alle vier Jahre die Augen | |
aufmachen geht nicht. | |
## Wunderwerke des Wunschdenkens | |
Koalitionsverträge sind weder bindend noch einklagbar, sie sind Wunderwerke | |
des Wunschdenkens. Nahtlos verknüpfen sie Allgemeinplatz und Detail, | |
Banalität und Fantasie, Wille und Vorstellung. | |
„Die zum 1. Januar 2022 in Kraft tretende Regelung zu prozentualen | |
Zuschüssen zu den Eigenanteilen werden wir beobachten“, heißt es wolkig im | |
[2][Ampelkoalitionsvertrag von 2021], dann aber präzise: „Bei beruflicher | |
Qualifizierung erhalten SGB-II- und -III-Leistungsberechtigte ein | |
zusätzliches monatliches Weiterbildungsgeld von 150 Euro“. An einer Stelle | |
steht „Wir wollen mit Russland stärker zu Zukunftsthemen zusammenarbeiten.“ | |
Blöd gelaufen. | |
Übertroffen wird dieser 144 Seiten lange deutsche Koalitionsvertrag vom | |
[3][Koalitionsvertrag in Österreich 2020], der auf 232 Seiten das Leben der | |
Menschen in Österreich von klein auf revolutioniert: von „mehr | |
Bewegungsangebote integriert in den Alltag in Kindergärten“ über | |
„Entwickeln und Fördern des Konzepts ‚Bauernhof als Zentrum der Dörfer‘, | |
insbesondere die Möglichkeit von Kinder- bzw. Nachmittagsbetreuung“ bis zum | |
Ziel, „dass alle 15- bis 20-Jährigen einmal in der Ausbildungszeit eine | |
Woche nach Brüssel reisen“. | |
Man kann das alles gut finden, aber: Wozu braucht man dann noch gewählte | |
Parlamente? Was ist der Sinn von Expertenanhörungen und Bürgerbeteiligung, | |
wenn ein paar Politiker schon vorher alles unter sich festlegen, und das | |
ohne Rücksicht auf vorherige Wahlprogramme? Mit Demokratie hat das nichts | |
zu tun. | |
## Alle schauen auf das Sondierungspapier | |
Im explosiven Jahr 2025 muss alles schnell gehen. Also wartet man jetzt | |
nicht einmal auf den Koalitionsvertrag. Jetzt wird schon das | |
Sondierungspapier zur Hauptsache. Wo ist der Klimaschutz, rufen manche. Die | |
richtige Antwort wäre: Die bestehenden Verpflichtungen Deutschlands gelten | |
weiter, mehr gibt es vor einer Regierungsbildung nicht zu sagen – so | |
ungefähr steht es übrigens auch drin. | |
Wäre da nicht, dass zu anderen Themen viel mehr drinsteht. „Der Bau von bis | |
zu 20 GW an Gaskraftwerksleistung bis 2030“ zum Beispiel, oder: „Reguläre | |
Migration nach Deutschland im Rahmen der sogenannten Westbalkan-Regelung | |
werden wir auf 25.000 Personen pro Jahr begrenzen.“ Wohlgemerkt: Das ist | |
bloß das Sondierungspapier. | |
Beim unvermeidlichen Zusammenprall von Papier und Wirklichkeit zieht | |
üblicherweise das Papier den Kürzeren. Dann streitet die Politik darüber, | |
dass das Papier nicht eingehalten wird. Normale Menschen würden lieber | |
wissen, wie man mit der Wirklichkeit umgeht. Und die verändert sich | |
ständig. Koalitionsverträge sind das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. | |
Könnten CDU/CSU und SPD jetzt nicht einfach ein paar Gemeinsamkeiten | |
festlegen – möglichst ohne Albernheiten wie „Uns eint der Wille, neue | |
Zuversicht zu schaffen“ – und Verfahren zur Entscheidungsfindung und | |
Konfliktlösung festlegen, denn erfahrungsgemäß scheitern Koalitionen am | |
Verfahren? Und sich den Rest sparen? | |
Dann könnte man ansonsten, wie in vielen Ländern üblich, mit jährlichen | |
Regierungserklärungen konkrete Politik machen. Und immer wieder neu | |
überlegen und diskutieren. Ganz demokratisch. | |
10 Mar 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://www.habbel.de/wp-content/uploads/2025/03/Sondierungen_CDU-CSU_SPD.p… | |
[2] https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_… | |
[3] https://www.dievolkspartei.at/Download/Regierungsprogramm_2020.pdf | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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