# taz.de -- Regisseurin über Kleinbauern in Spanien: „Es ist ein kollektiver… | |
> Die Regisseurin Carla Simón gewann mit „Alcarràs“ den Goldenen Bären. … | |
> Gespräch über Obstanbau und junge spanische Filmemacherinnen. | |
Bild: Der Solarpark kommt, dafür muss in „Alcarràs“ das Autowrack weichen… | |
Alcarràs ist ein Städtchen in einer von Obstanbau geprägten Region | |
Kataloniens, deren Kleinbauern von ihrer harten Arbeit immer schlechter | |
leben können. Wie die Familie Solé, die im Mittelpunkt des nach dem Ort | |
benannten Spielfilms von Carla Simón steht. Seit Jahrzehnten bauen die | |
Solés dort Pfirsiche an, die gepachtete Plantage ist Existenzgrundlage | |
dreier Generationen und soll nun einem Solarpark weichen. | |
Simóns autobiografisch inspiriertes Drama ist das genau beobachtete Porträt | |
einer Großfamilie und ihres landwirtschaftlichen Lebens, dessen Existenz | |
bedroht ist. [1][Auf der 72. Berlinale wurde die 35-jährige Spanierin im | |
Februar für „Alcarràs“ mit dem Goldenen Bären für den besten Film | |
ausgezeichnet]. Am kommenden Donnerstag startet er im Kino. | |
taz am wochenende: Frau Simón, Ihr Film erzählt eine Familiengeschichte und | |
zugleich vom Strukturwandel auf dem Land. Wo liegt der Ursprung von | |
„Alcarràs“? | |
Carla Simón: Zunächst war es der Wunsch, diese Menschen und die Region zu | |
porträtieren. Meine Verwandten sind selbst Pfirsichbauern in Alcarràs und | |
auch wenn ich dort nicht aufgewachsen bin, habe ich über all die Jahre jede | |
Ferien dort verbracht. Ich selbst stamme aus einem Bergdorf, die Gegend um | |
Alcarràs ist dagegen sehr flach, der Himmel ist unendlich weit und die | |
Natur von Menschen kultiviert. Diese Landschaft faszinierte mich, aber | |
ebenso wichtig war mir, den Arbeitsalltag auf der Obstplantage einzufangen | |
und diesen besonderen Schlag von Menschen, die dort Pfirsiche anbauen. Der | |
Pfirsich ist eine Frucht, die schnell am Baum verfault, wenn man sie nicht | |
im richtigen Moment erntet. Pfirsichbauern sind bodenständig, kräftig und | |
stur und zugleich sehr nervös, das hat mich schon als Kind beeindruckt. | |
Damals war die Plantage noch in der Hand Ihres Großvaters … | |
Und als er vor einigen Jahren starb, fragte ich mich zum ersten Mal, was | |
passiert, wenn die Bäume, die er vor Jahrzehnten gepflanzt hatte, eines | |
Tages verschwinden würden. Bei uns haben zum Glück mein Onkel und meine | |
Tante den Betrieb übernommen, aber es ist oft sehr schwierig, eine | |
Nachfolge zu finden, weil der Obstanbau immer weniger lukrativ ist und oft | |
kaum zum Überleben reicht. Dabei ist Landwirtschaft im Familienbetrieb eine | |
Arbeit, die viele Generationen lang funktioniert hat. Ich wollte auch | |
zeigen, dass hier Menschen harter und nachhaltiger Arbeit nachgehen und | |
dafür weder wertgeschätzt noch adäquat bezahlt werden. | |
Wie haben Sie dann die Geschichte entwickelt, ist sie nah an Ihrer eigenen | |
Familie? | |
Zunächst wollte ich sie durch die Figur des Vaters erzählen, Quimet, aber | |
ich bin kein 45 Jahre alter Bauer und konnte mich beim Schreiben nur schwer | |
in ihn hineinversetzen. Also entschied ich, einen Ensemblefilm über eine | |
große Familie und die Beziehungen untereinander zu machen. Tatsächlich fiel | |
es mir leichter, diese drei Generationen als emotionales Ganzes zu | |
verstehen, als nur das Innenleben des Vaters zu betrachten. Ich sehe mich | |
selbst vor allem in der Figur von Mariona, der 12-jährigen Tochter, die | |
ihre Familie ganz genau beobachtet und ihre eigenen Schlüsse daraus zieht, | |
weil ich das in dem Alter genauso getan habe. | |
Wie bereits bei Ihrem Debüt arbeiten Sie mit Laiendarsteller*innen. Wie | |
funktioniert das konkret? | |
Das Drehbuch war fertig, bevor ich mich auf die Suche nach Personen machte, | |
die diesen Figuren entsprechen. Nicht physisch, sondern in ihrer | |
Persönlichkeit. Ich wollte Menschen finden, die möglichst nah an den | |
jeweiligen Figuren sind, damit sie aus sich und ihren Erfahrungen schöpfen | |
können. Wir sind auf unzählige Dorffeste, haben Leute beobachtet und | |
befragt. Nach etwa 9.000 Gesprächen hatten wir unsere Besetzung, aber alle | |
stammten aus unterschiedlichen Familien, oft sogar aus verschiedenen | |
Dörfern, und kannten sich zuvor nicht. Also mietete ich ein Haus in der | |
Gegend, und dort trafen wir uns drei Monate lang jeden Nachmittag. Durch | |
kleine Improvisationen bauten wir nach und nach die Beziehungen der Figuren | |
untereinander auf und entwickelten die gemeinsame Vergangenheit. So wuchsen | |
sie Schritt für Schritt tatsächlich zu einer Art Familie zusammen. | |
Besonders bemerkenswert sind die Szenen mit Kindern, weil sie so ungestellt | |
und natürlich wirken. Wie erreichen Sie diese Intimität? | |
Mit Kindern ist es sogar einfacher, weil sie die Kamera schnell vergessen | |
und ihnen auch gar nicht bewusst ist, wie wichtig die Arbeit ist. Für sie | |
ist es ein Spiel. Und mein Job ist es, darauf zu achten, dass es in einem | |
gewissen Rahmen abläuft, den Widerspruch zwischen Kontrolle und Chaos | |
auszuhalten. Wir folgen dem Drehbuch, aber ich lasse ihnen auch Raum, damit | |
spontan Dinge entstehen oder Zufälle passieren können. Kinder haben ihre | |
eigenen Worte und Gesten, nur wenn ich die Balance finde zwischen | |
Anweisungen und Laufenlassen, kann eine Szene lebendig werden. | |
Zugleich halten Sie fast dokumentarisch die Erntezeit fest. | |
Wir haben acht Wochen im Sommer gedreht. Anfangs wollte ich den Wechsel der | |
vier Jahreszeiten, aber zusammen mit dem Porträt der Großfamilie wäre | |
daraus leicht ein Fünfstundenfilm oder eine Serie geworden. Beides wollte | |
ich nicht. Also konzentrierte ich mich auf die Erntezeit, weil es der | |
stressigste Teil des Jahres im Leben der Bauern ist. Erst muss die Ernte | |
eingebracht werden, alles andere ordnet sich dem unter, selbst der drohende | |
Existenzverlust. | |
Wie „Fridas Sommer“ wurzelt der Film in persönlichen Erfahrungen, ohne im | |
engeren Sinn autobiografisch zu sein. Was interessiert Sie an diesem | |
Ansatz? | |
Man verbringt so viel Lebenszeit mit einem Film, dass ich sie nutzen will, | |
um auch als Mensch zu wachsen und mich weiterzuentwickeln. Und | |
grundsätzlich fühle ich mich wohler, wenn ich von Dingen erzähle, die ich | |
kenne oder die ich aus nächster Nähe kennenlernen kann. Das heißt nicht, | |
dass ich nie einen Film über etwas völlig anderes machen werde, aber es | |
muss etwas sein, dass mir auch ganz persönlich etwas bedeutet. | |
Damit haben Sie im Februar den Goldenen Bären der Berlinale gewonnen. Wie | |
haben Sie diesen Moment wahrgenommen? | |
Es war sehr besonders, weil ich an dem Abend genau an der Stelle saß wie | |
[2][fünf Jahre zuvor, als mein erster Film, „Fridas Sommer“, als bester | |
Debütfilm gewann]. Bei der Verleihung damals war es gleich der erste Preis, | |
der vergeben wurde, nun waren wir erst ganz am Schluss dran. Als ein Bär | |
nach dem anderen verliehen wurde, wurde ich immer nervöser und war gar | |
nicht mehr sicher, ob wir überhaupt etwas bekommen. Und dann der Goldene | |
Bär! | |
Wie waren die Reaktionen in Ihrer Heimat? | |
In Alcarràs hatten die Bewohner eine große Leinwand aufgebaut, um die | |
Preisverleihung zu sehen, und feierten, als ob wir die Fußballmeister | |
geworden wären. Und ein bisschen war es auch so, es war ein sehr | |
glücklicher Moment nicht nur für uns, sondern für eine neue Generation im | |
spanischen Kino allgemein. Viele junge Filmemacher*innen entwickeln | |
gerade spannende neue Ansätze und werden dafür auf Filmfestivals weltweit | |
gefeiert, und ich bin sehr stolz, Teil davon zu sein. | |
Vor allem junge Regisseurinnen sorgen gerade mit sehr persönlichen und | |
regional verorteten Filmen für Aufmerksamkeit. Ist das Zufall oder | |
verändert sich etwas in der spanischen Filmbranche? | |
Wer anfängt Spielfilme zu drehen, erzählt oft über die eigene Herkunft, das | |
trifft auf viele Filmemacher zu, egal welchen Geschlechts. Es redet sich | |
leichter über etwas, das einem nahesteht. Aber wir werden wachsen und uns | |
weiterentwickeln, unsere Stimmen und Themen finden. Wir sind eine neue | |
Generation von Leuten, die im Ausland studiert und Stipendien bekommen | |
haben, international gut vernetzt sind und so von Festivals auch eher | |
wahrgenommen werden. Das traf früher nur auf Almodóvar und eine Handvoll | |
andere Männer zu. Wenn jetzt eine von uns erfolgreich ist, hilft es auch | |
den anderen, wahrgenommen zu werden. Es ist ein kollektiver Moment. | |
11 Aug 2022 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Abeltshauser | |
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