# taz.de -- Oscar-Favorit „Spotlight“: Triumph der komplizierten Geschichte | |
> „Spotlight“ ist dank präziser Schauspielerleistungen ein guter | |
> Investigativ-Thriller, der sexuellen Missbrauch in der katholischen | |
> Kirche enthüllt. | |
Bild: Bringen mit viel Grau die Hemdsärmeligkeit des Journalismus zum Vorschei… | |
Zusammen mit „The Revenant“ und „The Big Short“ gehört „Spotlight“… | |
„heißen“ Oscar-Favoriten am kommenden Sonntag. Aber während über Alejand… | |
Iñárritus Schneewestern und Adam McKays Finanzkrisen-Komödie die Meinungen | |
weit auseinandergehen, nimmt Tom McCarthys Journalisten-Drama eine etwas | |
merkwürdige Rolle ein: Es ist der Film, gegen den niemand etwas hat. | |
Genau das könnte ihm aber auch zum Verhängnis werden. Obwohl er von einem | |
Skandal handelt, schürt der Film selbst keine Kontroverse. Er bricht auch | |
kein Tabu, und er blendet sein Publikum weder mit atemberaubenden | |
Kaltwetteraufnahmen noch mit spektakulären Bärenkämpfen. Er ist noch nicht | |
mal besonders witzig. | |
Die Tugenden von „Spotlight“ sind andere, wobei das steife Stichwort Tugend | |
mit Bedacht gewählt ist. Schließlich handelt „Spotlight“ von Arbeit. Wenn | |
Journalisten sich heute gern als „Printproletariat“ bezeichnen, dann ist | |
„Spotlight“ gewissermaßen Arbeiterkino im besten Sinne. | |
Wobei es McCarthy mit seinem Schauspielerensemble gelingt, die | |
Reporterarbeit so fesselnd, so lohnend, so essentiell darzustellen – dass | |
man eben stundenlang dabei zusehen könnte. Es ist tatsächlich ein Geheimnis | |
dieses Films, dass er mit einem Minimum an Schauwerten eine solch große | |
Wirkung auf den Zuschauer zu entfalten weiß. Am Ende hat man Tränen in den | |
Augen, weil man vier Menschen an einem Sonntag im Januar freiwillig zur | |
Arbeit gehen sieht! | |
## Gierig nach Recherche | |
Apropos tränenreiches Ende: „Spotlight“ gehört zu jenen immer seltener | |
werdenden Filmen, die man schlicht nicht spoilern kann. Nicht nur dass die | |
wahre Geschichte, auf der er beruht, relativ bekannt ist, sie wäre | |
absehbar, selbst wenn sie jemand frisch erfunden hätte. Die erste Szene | |
führt zurück ins Jahr 1976 und zeigt eine Polizeistation, wie sie den Fall | |
einer Missbrauchsanzeige durchwinkt. | |
Kurz sieht man eine verhärmte Mutter mit kleinen Kindern, die ehrfürchtig | |
einem besorgt auf sie einredenden Mann lauscht. Man überhört, dass es um | |
einen katholischen Priester geht – und es wird klar, dass niemand außer den | |
unmittelbar Anwesenden davon in absehbarer Zeit erfahren wird. | |
Die eigentliche Handlung setzt im Sommer des Jahres 2001 ein, in den Räumen | |
der Tageszeitung Boston Globe. Dort wird der Abschied eines Kollegen | |
gefeiert und der Amtsantritt des neuen Chefredakteurs erwartet. | |
Gleichzeitig macht die Nachricht die Runde, dass ein katholischer Priester | |
des Kindesmissbrauchs angeklagt wird. Bald ordnet der neue Chefredakteur | |
(Liev Schreiber) Nachforschungen zum Missbrauchsskandal an. | |
Das auf solche Geschichten spezialisierte „Spotlight“-Team der Zeitung um | |
den erfahrenenen Walter „Robby“ Robinson (Michael Keaton) herum nimmt den | |
Auftrag an. Geradezu begierig greifen der rastlose Mike Rezendes (Mark | |
Ruffalo), die skrupulöse Sacha Pfeiffer (Rachel McAdams) und der skeptische | |
Matt Carroll (Brian d’Arcy James) zu Telefonhörern und Notizbüchern. | |
## System des Schweigens und Wegschauens | |
Wie gesagt, den weiteren Verlauf der Geschichte kann man sich entweder | |
denken oder man erinnert sich. War doch der Bostoner Fall nur einer in | |
einer langen Reihe von Missbrauchsskandalen um katholische Priester auf der | |
ganzen Welt, die die Runde machten. | |
Dabei zieht „Spotlight“ seine Spannung nicht nur aus dem immer bewegenden | |
Kampf von Opfer gegen Täter, von raffinierten Anwälten und tapferen | |
Reportern gegen eine katholische Kirche, die all ihren Einfluss nutzt, um | |
die Taten zu vertuschen und die Täter zu behüten. Regisseur Tom McCarthy, | |
der zusammen mit Josh Singer auch das Drehbuch schrieb, setzt im Gegenteil | |
die Journalistenperspektive dazu ein, um seine Geschichte komplizierter zu | |
machen. | |
„Glauben Sie mir, wenn es, wie man sagt, ein ganzes Dorf braucht, um ein | |
Kind großzuziehen, dann braucht es genauso ein Dorf, um es zu | |
missbrauchen.“ Das hält an einer Stelle der von Stanley Tucci gespielte | |
exzentrische Opfer-Anwalt einem der investigierenden Reporter vor. | |
Was die Journalisten in „Spotlight“ aufdecken, ist denn auch mehr als ein | |
Missbrauchsskandal, es ist ein ganzes System des Schweigens und | |
Wegschauens, das desto unheimlicher ist, weil so viele gegen ihren Willen | |
und gegen besseres Wissen daran beteiligt sind. Die einen macht der Respekt | |
vor der Kirche blind, die anderen, wie etwa die Anwälte, ihre berufliche | |
Verpflichtung zur Geheimhaltung, und die dritten, die Journalisten selbst, | |
müssen entdecken, dass die entscheidenden Hinweise schon Jahre zuvor bei | |
ihnen eingegangen sind und ignoriert wurden, warum auch immer. | |
## „The Wire“ als Inspiration | |
Es ist dieser systemische Ausblick, der aus „Spotlight“ jenes entscheidende | |
Stück mehr macht als ein weiteres packendes Aufklärerdrama in der Folge von | |
„Die Unbestechlichen“ und „Erin Brockovich“. In diesem Zusammenhang ragt | |
als vielleicht markantester Eintrag in der Filmografie des Schauspielers | |
und Regisseurs Tom McCarthy seine Rolle in der letzten Staffel von David | |
Simons unübertroffener Serie „The Wire“ heraus. McCarthy verkörperte darin | |
einen leicht zu korrumpierenden Jungreporter im fahlen Newsroom der unter | |
Sparzwang stehenden Baltimore Sun. | |
Für seine eigene Regiearbeit hat McCarthy sich ganz offensichtlich sowohl | |
von David Simons Mut zur betont unglamourösen Stadtkulisse inspirieren | |
lassen als auch von dessen Ambition, eine Stadt als Zusammenspiel ihrer | |
Institutionen zu porträtieren. | |
Dass Liev Schreiber in seiner Rolle als Chefredakteur das auch noch in | |
Worte fasst – „eine Zeitung dient einer Stadt am besten, wenn sie | |
unabhängig agiert“ – mag auf das Konto von Koautor Josh Singer gehen, der | |
seine ersten Schreiberfahrungen im „Writers’ Room“ von Aaron Sorkins | |
hocheloquenter „West Wing“-Serie gemacht hat. | |
Was „Spotlight“ als Geheimfavorit unter den Oscar-Kandidaten erscheinen | |
lässt, ist vielleicht genau das: Von all den nominierten Filmen hat | |
„Spotlight“ die größte Nähe zu dem, was den Erfolg der Fernsehserien | |
zurzeit ausmacht. Da ist zum einen das starke Spiel eines ganzen Ensembles, | |
in dem jede einzelne Figur gerade genug Szenen bekommt, um Charakterprofil | |
und Entwicklung zu zeigen. Dass von den allesamt großartig agierenden | |
Darstellern nur Mark Ruffalo und Rachel McAdams und bloß in der Kategorie | |
Nebendarsteller für einen Oscar nominiert sind, belegt eher ein Problem der | |
Oscars als des Films. | |
## Kinoerbe von „Emergency Room“ | |
Zum anderen ist da die Geschliffenheit der Dialoge und Szenen, die mit viel | |
Sensibilität den verschiedenen Opfergeschichten einen Platz einräumt, ohne | |
sie melodramatisch auszubeuten. Und zum Dritten ist da die große | |
Aufmerksamkeit für unscheinbare Details, die in ihrer Gesamtsicht ganze | |
Geschichten erzählen. Wie von „The Wire“ abgeschaut wirkt McCarthys | |
Beachtung des Prozederes der journalistischen Arbeit in seinen freudlosen | |
„cubicles“ und seiner Ansammlung von Hemdsärmligkeit. | |
Wie die fiktive Baltimore Sun steht auch der reale Boston Globe unter | |
sichtbarem wirtschaftlichen Druck. Sicher, an einer Stelle ist auch die | |
Rede von der Herausforderung des Internets, aber im Wesentlichen wird er | |
gezeigt: Man erkennt ihn in der schmucklosen, abgetragenen | |
Fabrikhallen-Aura der Redaktionsräume, am ganz und gar unmodischen Grau, | |
Blau und Beige der von der Belegschaft getragenen Kleidung, vor allem aber | |
auch am uneleganten Appetit, mit dem sich die Reporter über den trockenen | |
Kuchen hermachen, den es bei der Abschiedsfeier zu Beginn gibt. | |
So erweist sich „Spotlight“ nicht zuletzt als Kinoerbe einer Doktor-Serie | |
wie „E.R.“, in der wieder und wieder das absolute Aufgehen in einem gut | |
gemachten Job gefeiert wird. Aber bei allen wohlvertrauten Elementen hält | |
„Spotlight“ auch eine bewegende Überraschung bereit: Obwohl man die | |
Geschichte zu kennen glaubt, wird sie in der Entdeckung durch die | |
Journalisten, in der präzisen Darstellung ihrer Reaktionen, noch einmal neu | |
und anders. Man begreift schließlich, dass man auch als Zuschauer stets | |
Gefahr läuft, Teil einer Verschwörung des Schweigens zu sein. | |
25 Feb 2016 | |
## AUTOREN | |
Barbara Schweizerhof | |
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