| # taz.de -- Essay neue TV-Serien: Immer schön unberechenbar bleiben | |
| > Früher galten sie als Trash, nun werden sie gefeiert: neue | |
| > Qualitätsserien. Denn sie setzen auf Entwicklung – und das Paradox. | |
| Bild: Sidse Babett Knudsen als Ministerpräsidentin Birgitte Nyborg mit Gatte P… | |
| Es war ein langer Weg von den „Waltons“, den „Hesselbachs“, der | |
| „Schwarzwaldklinik“, von „Dallas“ und „Dynasty“ zu „Homeland“, … | |
| Lund“, „Breaking Bad“ oder „Borgen“. Aber seit rund zehn Jahren ist s… | |
| die neue Fernsehunterhaltung, und sie boomt weltweit. Auf einmal ist das | |
| Fernsehen wieder zu einem interessanten Medium geworden, zumindest für die | |
| NutzerInnen von Computern oder DVD-Playern. Was ist passiert? Wie gelingt | |
| es den neuen Bandwurmgeschichten, einen solchen Sog zu entwickeln? | |
| Die Blaupause für den massiven Qualitätsschub im Fernsehen lieferten die | |
| HBO-Produktionen „Sopranos“ (1999–2007), „Six Feet Under – Gestorben … | |
| immer“ (2001–2005) und „The Wire“ (2002–2008). Diese drei US-Serien n… | |
| das Format der Fortsetzungsgeschichte auf eine bis dahin ungekannte Weise. | |
| Um die Differenz plastisch zu machen, hilft ein Vergleich mit „Dallas“ (CBS | |
| 1978–1991). Diese die Fernsehwelt der 1980er Jahre prägende Familienserie | |
| setzte stur auf die Wiederholung eines Konfliktmusters: J. R. Ewing ist | |
| immer der böse große Bruder und Bobby immer der gute kleine. Zwar altern | |
| die Hauptfiguren, aber sie lernen genauso wie alle anderen überhaupt nichts | |
| dazu. Und auch das Setting um sie herum verändert sich nur unwesentlich. | |
| Das gleiche gilt für Vorgänger wie „Die Hesselbachs“ (1960–1967) oder �… | |
| Waltons“ (CBS 1971–1981). | |
| Ganz anders die neuen Qualitätsserien: Sie nutzen das Serienformat nicht | |
| für das Prinzip der kostensparenden Wiederholung, sondern setzen auf den | |
| Prozess, die Entwicklung und das Paradox. Ihre Figuren verändern sich, sie | |
| werden klüger oder dümmer, machen Fehler, revidieren diese und irren sich | |
| aufs neue, aber an anderer Stelle. | |
| Dass sie dazulernen und trotzdem unberechenbar bleiben, ist wesentlicher | |
| Teil ihrer Anziehungskraft. Denn wenn ich nicht vorhersagen kann, wie sich | |
| meine HeldIn demnächst verhalten wird, wenn ich mich nicht auf sie oder ihn | |
| verlassen kann, dann muss ich mir einfach die nächste Episode ansehen und | |
| vielleicht sogar bis zum Schluss durchhalten. | |
| Die Attraktivität der neuen Serien basiert also weniger auf der | |
| Identifikation mit den Figuren, weder im psychoanalytischen Sinn der | |
| imaginären Verschmelzung mit einer Figur noch im alltagssprachlichen | |
| Verständnis der empfundenen Nähe. Sondern es geht vor allem um ein | |
| Nachvollziehen der Veränderung und des differenten Wahrnehmens und Erlebens | |
| einer Situation durch sämtliche Beteiligte. | |
| ## Multiperspektivität der Charaktere und des Charakters | |
| Multiperspektivität ist ein klassisches Merkmal der Serie, auch der Sitcom, | |
| wo Freunde oder Familienmitglieder einander stets die gegenteilige | |
| Perspektive entgegenhalten und damit für ein Spannungsfeld sorgen. Bei den | |
| neuen Serien aber wird dieses Prinzip auf die Spitze getrieben. Denn die | |
| Multiperspektivität wird nicht mehr allein durch verschiedene Charaktere | |
| ins Spiel gebracht, die unterschiedlicher Ansicht sind, sondern der Streit | |
| um die richtige Sichtweise findet auch im Inneren der Hauptfiguren statt. | |
| Das macht ihre Komplexität aus. Und die benötige ich als ZuschauerIn, wenn | |
| ich Stunden um Stunden mit ihren Geschichten zubringen soll. | |
| In der Regel dauert bei den neuen Serien eine Episode fünfzig Minuten und | |
| es gibt zehn bis zwölf Episoden pro Staffel. „The Wire“ brachte es auf | |
| ganze fünf Staffeln, die Agenten-Thriller-Serie „Homeland“ ist bislang bei | |
| der dritten angelangt und noch ist kein Ende in Sicht. | |
| Gerade die Hauptfiguren aus „Homeland“ sind beispielhaft für die dieser | |
| Tage so beliebte, radikale Unberechenbarkeit. So will die coole, | |
| durchsetzungsstarke, gleichzeitig psychisch labile Topagentin Cary das Gute | |
| für ihr Land und verliert doch ständig den Überblick über die verschiedenen | |
| Problemlagen. Ähnliches gilt für ihren Widersacher und Geliebten Brody. | |
| „Homeland“ stürzt die ZuschauerInnen in ein Wechselbad aus Identifikation | |
| und Ablehnung. Niemand verdiene mehr Vertrauen, so lautet die Botschaft, | |
| aber auch, dass nichts zerstörerischer ist für die Menschen als der seit | |
| 9/11 grassierende Vertrauensverlust. | |
| Mit Referenz auf den Kampf gegen den Terror bearbeitet die Serie brisante, | |
| da auch in der Realität nicht aufgearbeitete Gegenwartsgeschichte. Sie | |
| lotet Subjektivitäten in einem durch und durch fragwürdigen politischen | |
| System aus und verbindet damit den für Serien typischen „emotionalen | |
| Realismus“ (Ien Ang) mit einer radikalen Kritik an gesellschaftlichen | |
| Institutionen, in dem Fall an der CIA. | |
| ## Dänische Machtkämpfe und Liebesbeziehungen | |
| Ähnliches gilt auch für „Borgen“. Die dänische Erfolgsserie um die erste | |
| Ministerpräsidentin im Königreich macht sich die für Demokratien typischen | |
| Aushandlungsprozesse zum Thema. Und zwar indem sie das Privatleben ihrer | |
| Figuren zeigt, sie aber vor allem bei der Arbeit in Institutionen | |
| beobachtet, welche das wackelige Fundament der Demokratie bilden. | |
| „Borgen“ leuchtet ähnlich wie „The Wire“ und auch „Homeland“ das | |
| Zusammenspiel von Politik, Presse und Familie aus und zeichnet darüber eine | |
| Art Schaltplan für zeitgenössische Mediendemokratien. Es geht nicht mehr um | |
| die eine Familie, den einen Freundeskreis und deren Innenleben. Es geht um | |
| verschiedene Gruppen aus der Bevölkerung, um ihre Machtkämpfe und | |
| Liebesbeziehungen. Entsprechend groß ist das gezeigte Figurenarsenal. Im | |
| Laufe einer Serie bekommen es die ZuschauerInnen mit einer ganzen Heerschar | |
| von Charakteren zu tun. | |
| Möglich ist diese Komplexität nur aufgrund der DVD beziehungsweise der | |
| Streams auf bestimmten Webseiten. Die neuen Speichermedien und der | |
| Serienboom gehören zusammen. Die TV-Ausstrahlung und damit die Abhängigkeit | |
| des Publikums von den Programmgestaltern der jeweiligen Kanäle ist passé. | |
| Die ZuschauerInnen bestimmen nun allein, wie viele Episoden sie | |
| hintereinander ansehen und wann sie unterbrechen. Diese Ermächtigung des | |
| Individuums, das sich von keinem Cliffhanger mehr irritieren lassen muss, | |
| entspricht dem Zeitgeist. Der Einzelne muss sich nicht mehr nach | |
| Sendeterminen richten, sondern kann die Serie sehen, wann immer es ihm | |
| passt. | |
| ## Ermächtigung und intellektuelle Herausforderung | |
| An dieser Stelle übernimmt er die Regie – und diese Möglichkeit mag den | |
| Kontrollverlust auf der inhaltlichen Ebene leichter konsumierbar machen. In | |
| jedem Fall ist die Mischung aus Ermächtigung und intellektuelle | |
| Herausforderung der ZuschauerInnen Teil des neuen Sogs. Aber was ist mit | |
| der Ästhetik, was passiert auf der visuellen Ebene? Auch hier haben die | |
| neuen Serien dazugelernt, und zwar vor allem vom Kino. | |
| Die herkömmliche TV-Serie wird im Studio gedreht. Billiger ist Fernsehen | |
| nicht zu haben: Kein Wechsel der Drehorte und womöglich unpassendes Wetter | |
| bringen den Spielplan durcheinander und machen zusätzliche Drehtage nötig. | |
| Stattdessen sorgen eine überschaubare Anzahl von SchauspielerInnen mit | |
| schnellen pointenreichen Dialogen auf dem immergleichen Sofa oder am | |
| immergleichen Küchentisch für Unterhaltung. Und da die Handlung und die | |
| Konflikte im Grunde auch immer dieselben sind, lassen sich alle paar | |
| Minuten Werbeclips einschneiden, ohne bei den ZuschauerInnen Verwirrung zu | |
| stiften. Die vernachlässigte Außenwelt wird nur über „Orientierungsshots“ | |
| eingeblendet – das Panorama von New York, die Ranch, die Lindenstraße. | |
| Alle diese Elemente finden sich auch in den neuen Qualitätsserien. Sie | |
| werden aber nun flankiert von cineastischen Elementen: So gibt es | |
| Außendrehs und auch aufwendigere Kamerafahrten. Die Fabel wird nicht mehr | |
| im Loop und auch nicht linear erzählt, sondern zahlreiche Vor- und | |
| Rückblenden sorgen dafür, dass Vergangenheit und Gegenwart | |
| ineinandergreifen. Jene für Billigserien wie „Friends“ typische Einheit von | |
| Handlung, Zeit und Ort ist also aufgehoben. | |
| Gar nicht hoch genug einzuschätzen aber ist: Im Post-TV hat das Fernsehen | |
| die Schauspielkunst wieder entdeckt. In fast allen neuen Serien finden sich | |
| außergewöhnliche DarstellerInnen, und zwar in Haupt- und Nebenrollen. Man | |
| denke an Sidse Babett Knudsen, die die Ministerpräsidentin in „Borgen“ | |
| spielt. Oder an James Gandolfini als Tony Soprano. Ihnen gelingt es, die | |
| Widersprüche in ihrem Inneren und in der Welt in ihren Gesichtern | |
| aufscheinen lassen, die keinen Schönheitsstandards entsprechen. So | |
| verbindet sich auch auf dieser Ebene die krasse Verunsicherung des | |
| Einzelnen mit der Feier des Individuums. | |
| 12 Oct 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Ines Kappert | |
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