Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Jubiläum eines Fernsehhits: Der X-Faktor
> „Akte X“ wird 20 Jahre alt. Die Fernsehserie lieferte in den 90er-Jahren
> die Grundlage für Verschwörungstheorien und Qualitätsserien.
Bild: Popkultur-Ikonen der 90er: Gillian Anderson als FBI-Agentin Scully und Da…
Der Verdächtige hat eine besondere Vorliebe für Blau. Der unscheinbar
aussehende Mann auf dem Rücksitz des Polizeiwagens schwärmt geradezu von
der Uniform des Beamten: „Himmelblau – der beruhigendste Blauton.“
Während sie durch eine typische verschlafene US-amerikanische
Vorstadtsiedlung fahren, beeinflusst er den Fahrer weiter mit seinen
mantrahaften Wiederholungen, bis dieser wie in Trance einen schweren Unfall
mit einem entgegenkommenden Lastwagen verursacht. Der „Pusher“, wie sich
der Täter selbst nennt, kann entkommen.
Es ist nicht nur die Fixierung auf die Farbe in dieser „Akte X“-Episode von
1996, die augenblicklich an die Geschichte von Walter White in „Breaking
Bad“, dem aktuell wohl größten Antihelden der Seriengeschichte und
Hersteller von kristallblauem Crystal Meth, erinnert.
Der von Schauspieler Robert Wisden verkörperte „Pusher“ könnte eine direk…
Vorlage für den White-Darsteller Bryan Cranston gewesen sein. Ein
Kontrollfreak, der die Menschen in seinem Umfeld durch Suggestion zu den
widernatürlichsten Handlungen antreibt – bis in den Tod.
## Die Blaupause für „Breaking Bad“
In ebendieser frühen „Akte X“-Folge, der zweiten, die Autor Vince Gilligan
geschrieben hat, ist die „Blau“-Pause seiner späteren Erfolgsserie
„Breaking Bad“ im Grunde schon angelegt.
Ein unterschätzter und vom Leben enttäuschter Durchschnittsbürger erlangt
durch einen Hirntumor telekinetische Fähigkeiten, entwickelt sich zum
Auftragskiller und stirbt lieber in einem spektakulären Showdown, als sich
einer lebensrettenden Operation zu unterziehen: „Er war immer so ein
kleiner Mann. Das war endlich etwas, mit dem er sich groß fühlen konnte“,
fasst FBI-Special-Agent Mulder (David Duchovny) „Pushers“ Schicksal am Ende
der Folge zusammen.
Die von Serienschöpfer Chris Carter erdachte Serie wurde nicht nur zu einem
der größten Fernsehhits der 1990er Jahre. Der Rest ist Geschichte: Die
beiden Hauptdarsteller Gillian Anderson (als Mulders Kollegin Dana Scully)
und David Duchovny erlangten den Status von Popkultur-Ikonen, die Serie
selbst löste einen ziemlich langlebigen Boom an Alien-Verschwörungstheorien
und Film- und Fernsehstoffen aus, die sich mit allerlei Übernatürlichem
beschäftigten.
In Deutschland feiert die Serie in diesem Jahr ihr 20-jähriges Jubiläum.
1994 wurde „Akte X“ beim jungen Kabelsender Pro7 zum identitätsstiftenden
Kulthit. Nun strahlt der Digitalableger ProSieben Maxx die Serie erneut von
der ersten Folge an aus. Die Hommage zum Jubiläum kann aber nicht darüber
hinwegtäuschen, dass der Einfluss von „Akte X“ auf die aktuell gefeierte
TV-Serienlandschaft häufig unterschätzt wird. Denn es ist nicht nur
Gilligan, der seine ersten Erfahrungen in Carters Schreibwerkstatt
sammelte.
Auch die ehemaligen „Akte X“-Autoren und -Produzenten Alex Gansa und Howard
Gordon sitzen heute regelmäßig bei den wichtigen Preisverleihungen. Mit
„24“ haben sie Anfang des Jahrtausends dem politischen Actionthriller im
Fernsehen eine radikal neue Ästhetik verpasst, seit drei Jahren bringen sie
mit der heiß diskutierten Politserie „Homeland“ die Regierungsparanoia
zurück auf den Bildschirm.
## Anfangs fand „Akte X“ keine Beachtung
Frank Spotnitz ist ebenfalls ein „Absolvent der ’Akte X‘-Universität“,…
er sich und seine Exkollegen bezeichnet. Carter holte ihn als unerfahrenen
Autor im zweiten Serienjahr ins Team und machte ihn im Laufe der neun
Staffeln zu einem seiner engsten Vertrauten. Heute lebt Spotnitz in London,
entwickelte für die BBC die Spionageserie „Hunted“ und unterrichtet im
Rahmen des europäischen Workshops „Serial Eyes“ an der Deutschen Film- und
Fernsehakademie in Berlin junge Nachwuchsautoren.
Er erinnert sich gut daran, dass die „Akte X“ anfangs keine Beachtung in
der Branche fand: „Die ernst zu nehmenden Dramaserien erzählten von
Anwälten, Ärzten und Polizisten. Das, was wir machten – all diese Monster
und kleinen grünen Männchen – war für sie nerdiger Kram für Teenager und
Freaks.“
Tatsächlich hatte die erstmals im September 1993 ausgestrahlte Serie das
Glück, in den frühen Tagen auf dem US-Kabelsender Fox zu laufen – der
Sender war auf der verzweifelten Suche nach einem Hit und verlängerte das
Format nach einer ordentlichen, aber nicht übermäßig erfolgreichen ersten
Staffel. „Im Laufe der Zeit vergrößerte sich die Zuschauerzahl immer
weiter, in den ersten fünf Jahren ging es stetig nach oben. Wir bekamen
Emmy-Nominierungen und gewannen dreimal den Golden Globe als beste
Dramaserie.“
## Standard für gegenwärtige Qualitätsserien
Doch was ist nun eigentlich das Erfolgsrezept dieser Geschichte um das
ungleiche Agentenpaar, das scheinbar übernatürlichen Fällen auf den Grund
ging, Aliens jagte und dabei eine undurchsichtige Regierungsverschwörung
aufdeckte?
„Chris Carter hatte einen außergewöhnlichen Geschmack. Er stellte
ausgezeichnete Leute ein und ließ sie verdammt hart arbeiten, egal wie groß
ihr Talent war“, erzählt Spotnitz. „Er erwartete viel von uns und
akzeptierte nie weniger als unser Bestes.“ – „Es war eine Erfahrung fürs
Leben.“ Ohne „Akte X“, ist sich Spotnitz sicher, gäbe es heute auch kein
„Breaking Bad“.
Die erste Folge, mit dem deutschen Titel „Gezeichnet“, definierte den
außergewöhnlichen filmischen Look von „Akte X“, der für die gegenwärtig…
„Qualitätsserien“ zum Standard gehört, um sich von der für gewohnt biede…
Fernsehästhetik zu unterscheiden.
## Die Mythologie hinter den grünen Männchen
Zudem entwickelten die Schöpfer im Laufe von 202 Episoden neben den
üblicherweise in einer Folge abgeschlossenen „Fall der Woche“-Folgen eine
staffelübergreifende Mythologie, die auch heute noch Fans auf der ganzen
Welt fasziniert und fesselt.
„In der Mytholgie ging es um einige wirklich profunde Dinge, die von den
meisten Zuschauern gar nicht wahrgenommen werden“, erklärt Spotnitz. „Auf
den ersten Blick mag es um alberne grüne Männchen gehen, aber eigentlich
geht es um Glaube und Sinn – die Geschichten sollten zuallererst
unterhaltsam sein. Aber wenn man innehält und darüber nachdenkt, stößt man
auf viele nette Ideen.“
Spotnitz überlegt einen Moment und fügt dann hinzu: „Was alle Absolventen
von ’Akte X‘ gemeinsam haben, ist ihr enormer Ehrgeiz bei allem, was sie
tun, und die Intelligenz, mit der sie es tun.“ Eigentlich, sagt Spotnitz,
habe er immer für das Kino schreiben wollen, „weil ich dachte, das sei das
Medium für kluge Menschen. Bei der Arbeit mit Carter habe ich gelernt:
Fernsehen kann schlau und anspruchsvoll sein!“
Dass die großartigsten Serien unserer Zeit, wie eben nun „Akte X“, nur noch
im TV-Spartenprogramm zu verfolgen sind, zeugt indes nicht gerade von sehr
viel Klugheit. „Für mich war das amerikanische Fernsehen niemals besser,
als es das jetzt gerade ist“, erklärt Frank Spotnitz und stimmt der
Entwicklung zu: „Was schade ist, da wir alle diesen fantastischen Serien
haben. Ich vermisse den großen, übergreifenden kulturellen Dialog.“ Bei
„Akte X“, sagt Spotnitz, „konnten wir uns darauf verlassen, dass es am
nächsten Tag alle gesehen hatten und darüber geredet haben. Das gibt es so
nicht mehr.“
19 Jan 2014
## AUTOREN
Jens Mayer
## TAGS
Fernsehserie
Repräsentation
Belfast
Golden Globes
Sky
The Sopranos
Serien
Breaking Bad
## ARTIKEL ZUM THEMA
Frauen in Naturwissenschaften: Der „Scully-Effekt“
Eine Studie zeigt, dass Dana Scully aus „Akte X“ Mädchen und Frauen
ermutigt hat, Naturwissenschaftlerin zu werden. Motto: Was die kann, kann
ich auch.
BBC-Krimiserie „The Fall“: Mehr als das alte patriarchale Spiel
Gillian Anderson jagt einen Serienmörder durch Belfast. Auf eine
Entmenschlichung der weiblichen Opfer verzichtet „The Fall“
dankenswerterweise.
Die Wahrheit: Schiefstand im Hirn
Die Bahn. Die Rüstungsindustrie. Remoulade auf belegten Brötchen. Für
Hochleistungsneurotiker lauert die alltägliche Paranoia allüberall.
Verleihung der Golden Globes: Das Siegestänzchen, der Hustle
Die Favoriten gewannen, die deutschen Nominierten gingen leer aus: Alles
wie üblich bei den Golden Globes. Bis auf den zynischen Gruß einer
Preisträgerin an ihre Mutter.
Wiederauferstehung des Pay-TV: Bedingungslose Liebe ist anders
Vor acht Jahren war Pay-TV in Deutschland am Ende. Heute ist Marktführer
Sky erfolgreicher als je zuvor – aber es gibt auch viel Kritik an dem
Sender.
Hype um US-Fernsehserien: Bling-Bling fürs Bürgertum
Das Feuilleton tut so, als hätte erst der US-Sender HBO den Anspruch ins
Fernsehen gebracht. Falsch! Die wahre Königin des Intellektuellen-TV heißt
„Buffy“.
Essay neue TV-Serien: Immer schön unberechenbar bleiben
Früher galten sie als Trash, nun werden sie gefeiert: neue Qualitätsserien.
Denn sie setzen auf Entwicklung – und das Paradox.
Serienfinale von „Breaking Bad“: Moralisch zweifelhaft
Die letzte Folge der Dramaserie „Breaking Bad“ hat in den USA noch einmal
einen neuen Zuschauerrekord aufgestellt. Walter White, du wirst fehlen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.