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# taz.de -- Jubiläum der Lindenstrasse: Hassliebe in Serie
> Die deutscheste aller deutschen Serien ist unaushaltbar – und zu
> verteidigen. Zwei Autoren gratulieren zum 30. Geburtstag.
Bild: Die Lindenstraße von oben und im Hintergrund dudelt das Serien-Jingle
Kleinbürgertum naturnah
Mitte der Achtziger, das erste TV-Gerät mit Fernbedienung. In der ARD lief
die erste Folge der „Lindenstraße“ – und keine andere Serie musste so
sofortig umgeschaltet werden. Ein Blick, und man war mit dem engen,
miefigen Albtraum jener Menschen behelligt, von denen man nie auch nur ein
bisschen mehr wissen wollte. Die Nachbarn. Menschen, die keifen, die
giften, die drängen, nölen, meckern, um Fassung ringen. Alles in gefühlt
sehr kleinen Zwei- bis Dreizimmerwohnungen in einer Münchner Straße. Der
gewöhnliche Durchschnitt aller Leben, die in Deutschland das Kreuz der
Anständigkeit bilden.
Ich habe keine einzige Folge vollständig gesehen. Nur beim Zappen blieben
einige Bilder hängen. Iffi Zenker, Carsten Floeter, Dr. Dressler, ein Gung
und natürlich Mutter Beimer, dazu Herr Schiller: Das sind jene, die in den
vergangenen Monaten, aus dem Metaphorischen ins Konkrete übertragen, die
sogenannte Willkommenskultur ins Werk setzten, sodass inzwischen von
Pakistan bis zum letzten Winkel in Syrien Deutschland als Heimstatt der
Sehnsucht gilt.
Die „Lindenstraße“, das sind jene Leute mit ihren Lebensstilen, die man
sonst in der ARD nicht mehr wahrzunehmen vermag – und die im Privat-TV nur
als Trashkultur serviert werden. Über 30 Jahre haben wir in der
„Lindenstraße“ alle Probleme verhandelt bekommen, die die Republik bewegten
und ja immer noch bewegen werden. Essstörungen, Neonazis, Patchworkfamilie,
Multikulti, Zottelfrisuren, lesbische Leihmutterschaft (wenn ich es richtig
verstanden habe) und ein Frisörsalon.
Und ein Carsten Floeter, der vom heldenhaften Georg Uecker gegeben wird und
der in der „Lindenstraße“ mit einem Geliebten den ersten schwulen Kuss der
deutschen Serien-TV-Geschichte schmatzt. Uecker wurde übrigens heftig von
Meinungsfreudigen wie Max Goldt kritisiert: Er sei als Schwuler nicht
akzeptabel, weil allzu steril – und, so etwa lautete seine Paraphrase,
röche nicht aus dem ... Jedenfalls: Uecker hat für die Entdramatisierung
der deutschen Gefühlslandschaft zum Thema Homo mehr beigetragen als sehr
viele andere Aufrechte zusammen.
Drei Jahrzehnte und nur ein wirrer Bilderbogen. So viel ist jedoch gewiss:
Diese Serie ist unerträglich naturnah. Deshalb ist sie nur verdünnt zu
genießen. Aber sollte sie abgeschafft werden? Auf gar keinen Fall. Sie muss
in ihrer Existenz so tüchtig verteidigt werden wie eine unliebsame Meinung.
Wie Voltaire zur Meinungsfreiheit sagte: Verabscheut sei das, was Sie
finden, aber Sie sollen es können, so gut es Ihnen gelingt. Und das, diese
Kebab-Schweinebraten-vegetarische Geschmacksmatrix des Deutschen, die die
„Lindenstraße“ uns zeigt, verdient jeden Kampf um ihr ewiges Fortleben.
Jan Feddersen
Butterfahrt im Röhrenbus
Der Anblick von Gelenkbussen berührt mein Innerstes – er erinnert mich an
die „Lindenstraße“. Tödel-lödel-dödel-lödel-dödel-lödel-döhdel-löh…
Der klobige Röhrenbildschirm, von dem allsonntäglich die Essenz deutscher
Nachbarschaft herunterschwamm, wurde mir in den vergangenen 19 Jahren zum
Muttermilchersatz (Milch verbrennt, „Lindenstraße“ nicht).
Von der Titelmelodie, die sich anhört wie ein mit Butterfahrtsrentnern voll
besetzter Interregio in der extremsten Phase der Notbremsung – von jener
Musik also in den jungen Gebirgsbach einer begonnenen „Lindenstraßen“-Folge
gestoßen, folgt der Zuschauer sanft genießend den allmählich sich
entwickelnden Konflikten zwischen Leuten, die sich so vorhersehbar
verhalten, dass sich das Leben in dieser Murmeltier-Vorhölle zwischen
Lindenstraße 2 1/2 und Lindenstraße 3 1/2 auf maximal ein Dutzend Variablen
reduziert.
En passant mitgenommen: die obligatorische politische Minute (vgl. auch
„Tatort“), in der die Programmmacher noch mal sichergehen, dass sich hier
auch wirklich jedes Sofagemüse treudeutsch brav mit den Charakteren
identifiziert. Wobei die Unwahrscheinlichkeit der Serie ja schon daran
abzulesen ist, dass Butterfahrten statt wie oben behauptet normalerweise in
Schrammelbussen stattfinden und dass aufgrund des mangelnden Aktivistentums
Marie-Luise Marjans (und ihrer Mutter Helga Beimer) keine Interregios mehr
fahrplanmäßig über deutsche Gleise rollen.
Aber wir wollen ja keine Gerüchte streuen, nicht wie „Mutter“ Beimer und
vor allem nicht über diese. Das rüstige deutsche Wunder ist einmal im Jahr
eh schon so was von fertig mit den Nerven, dass sie ihre „Raben“ genannten
Weihnachtskekse, für die manch eingefleischter Fan wohl selbst seine
„Mutter-Beimer-Klobürste“ aus dem Fanshop verscherbeln würde, nicht mehr
aus dem schon a priori sicheren Ofentod zu retten vermag – was man sich als
pedantischer Deutscher in jahrelanger Kleinarbeit eben so an
detailverliebten Marotten erkämpft.
Und wer jetzt sagt, die „Lindenstraße“ sei (wie letztlich alles) bloß die
Kopie irgendeiner Ami-Serie, dem haut Lisa eine Bratpfanne auf den Schädel
– so wie damals Pfarrer Matthias Steinbrück, als der ihren Freund Olli
Klatt würgte. Ein Moment, der in seiner Archaik nicht mal von Einsätzen der
„Dicken Bertha“, Hitlers Kopulation mit einer Kokusnuss, übertroffen wurde.
Irgendwie muss der Deutsche ja seine Wut sublimieren, wenn er schon keine
Weltkriege mehr führen darf.
Während die Charaktere also gründlich stritten, schnackten, schnackselten,
jeder mal jedem ein Kind gemacht hat, jeder mal jedes Geschäft geführt und
jedes Kind mal groß geworden ist, zog mein erstes Lebensviertel komplett an
mir vorbei. Ohne, dass ich je eine Folge verpasst hätte. Wer krank im Bett
liegt, sollte übrigens unbedingt mal durch die Rollenbiografie aller
„Lindensträßler“ klicken. Vorausgesetzt, die Krankheit dauert lang genug.
So zwei, drei Wochen.
Abspann: Wie sie beginnt, so endet jede Folge, nachdem sie als reißender
Strom an den Staumauern des Lebens so pathetisch wie möglich aufgeklatscht
ist. Bloß, ob der Bus auch im Vorspann fährt, das habe ich, warum auch
immer, noch nicht herausgefunden.
Adrian Schulz
6 Dec 2015
## AUTOREN
Jan Feddersen
Adrian Schulz
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