# taz.de -- John Lanchesters „Capital“: Die gentrifizierte „Pieps-Straße… | |
> Lanchesters jüngster Roman porträtiert die Bewohner einer Straße Londons. | |
> Sie sind Profiteure der Finanzkrise – wären da nicht diese | |
> Ansichtskarten. | |
Bild: Nicht die Pepys Road, sondern irgendeine Straße in Südlondon. | |
Die Frage lautet: Wo ist eigentlich die Mitte hin? Jedenfalls, was Bücher | |
und Texte angeht. Die dürfen in der digitalisierten Gesellschaft nämlich | |
entweder höchstens 1.400 Zeichen haben oder sie müssen Backsteinformat | |
haben. Das kann man in jedem öffentlichen Nahverkehrsmittel sehen: Unter | |
600 Seiten wird da erst gar kein Buch ausgepackt. Das gilt, man denke an | |
die Erfolge von „2666“ oder „Unendlicher Spaß“, auch für das, was noc… | |
als „ernste“ Literatur gehandelt wird. | |
So ein Trumm, so ein Backstein ist auch „Kapital“ von John Lanchester. 682 | |
Seiten, die sich angeblich schnell weglesen lassen. Dieses Buch, | |
Lanchesters bereits vierter und bislang erfolgreichster Roman, sei, so | |
hörte man, eine Art „linker Schmöker“, also im besten Sinne | |
Unterhaltungsliteratur mit politischem Anstrich. Aber spricht das schon für | |
ihn? | |
Der Titel, „Kapital“, leitet sich übrigens vom englischen „capital“ ab… | |
eher mit „Kapitale“ als mit dem „Kapital“ im Marxschen Sinne zu überse… | |
wäre. Es geht tatsächlich irgendwie um beides in dem Buch. Eine scheinbar | |
wahllos herausgegriffene Straße nicht ganz im Zentrum der englischen | |
Hauptstadt und ihre Bewohner werden kapitelweise vorgestellt – von der | |
Großmutter über den Kioskbesitzer und das Performance-Art-Genie bis zum | |
Banker samt Gattin. | |
## Aus allen Schichten | |
Die Straße, benannt nach dem berühmten Tagebuchschreiber Samuel Pepys aus | |
dem London des 17. Jahrhunderts, spricht sich „Pieps“. Also wohnen die | |
Menschen in „Kapital“ ganz richtig in der „Pieps-Straße“. Die Protagon… | |
sind meist mehr als weniger sympathisch und wirklich aus allen Schichten | |
gegriffen. Die meisten von ihnen bekommen Ansichtskarten ihrer Haustüren | |
geschickt, auf denen eine Drohbotschaft geschrieben steht: „Wir wollen, was | |
ihr habt.“ Denn, klar, die Finanzkrise lässt grüßen: Die Immobilienpreise | |
sind ins Exorbitante gestiegen. Die Hausbesitzer der Pepys Road profitieren | |
in ganz besonderem Maße davon: Sie sind schlichtweg reich. | |
Das Buch handelt also von den Lebenswelten dieser englischen | |
Lindenstraßenbewohner, von den Vorzügen und Nachteilen der (längst | |
erledigten) Gentrifizierung und vom Damoklesschwert des politischen | |
Terrors, das über ihnen hängt. Lanchester wählt neben dem Panorama noch | |
einen derzeit besonders in der heutigen englischen Soziologie üblichen | |
Ansatz: Klassen werden durch Staffage erzählt, ganz so, wie es Daniel | |
Miller in „Der Trost der Dinge“ vorgemacht hat. Die Analyse nimmt sich | |
zurück, die Dinge stehen meist vielsagend für sich selbst. | |
Der Typ, der sich beim Premier League Club (vermutlich Chelsea) um die | |
Unterbringung des neu eingekauften Spielers aus dem französischsprachigen | |
Afrika kümmert, fährt ein James Bond Auto (einen Aston Martin, den die | |
Politesse mit dem schönen Namen Quentina, die hier natürlich ebenfalls | |
ausführlich vorgestellt wird, sofort auf dem Kieker hat). Für | |
Bankiersgattin Arabella zählt sowieso nur die Markenwelt, usw.. Das alles | |
ist genau wie bei Miller leicht und unterhaltsam dahinerzählt: | |
Ausstattungsliteratur der aufgeklärten und vielleicht sogar aufklärenden | |
Sorte, sieht man einmal davon ab, dass man bei Miller und Kollegen auch | |
schon vergeblich nach den erhellenden Metaebenen gesucht hat. | |
## Ohne Dichtung auskommen | |
Aber hier sind wir schon mitten in der Kritik. Der Literaturkritiker | |
Stephan Wackwitz hat hier vor Kurzem einen Aufsatz von Heinz Schlaffer von | |
2002 zitiert. Da geht es um die Kulturindustrie des 21. Jahrhunderts; | |
darum, wie das „Fun-Stahlbad“ „das Publikum daran gewöhnt, ebenso gut au… | |
ohne Dichtung auszukommen“. Die meisten Romane von heute, schließt | |
Wackwitz, „sind geschriebene Filme oder TV-Serien“; Verdichtung findet kaum | |
noch statt, die Experimente beschränken sich auf Spielereien mit | |
Formatvorgaben. | |
Dies ist auch in „Kapital“ so: Im Grunde hat man das Gefühl, eine | |
auserzählte BBC-Serie zu lesen. Eine Art „Lindenstraße“ in gut mit Anstri… | |
von Reitz’ „Heimat“. Dass Verdichtung nicht stattfindet, merkt man schnell | |
– und was die einen „unterhaltsam und gut lesbar“ finden, wird den anderen | |
schnell langweilig: „Die unbeliebteste Frau in der Pepys Road ging langsam | |
die Straße hinunter, Angst und Schrecken verbreitend. Dafür nahm sie sich | |
Zeit. Sie schaute von rechts nach links, sah nach vorn und zurück, und es | |
entging ihr nicht die kleinste Kleinigkeit. Sie schien alle Zeit der Welt | |
zu haben, aber gleichzeitig von einem starken Sendungsbewusstsein erfüllt | |
zu sein. Sie sah nicht so aus, als wüsste sie, wie viel Angst und Schrecken | |
sie verbreitete; aber das stimmte nicht. Sie wusste es nur zu genau.“ | |
Zwei Sachen fallen auf: Das ist der mittlerweile typische englische | |
Plauderton, immer noch eine Spur plauderhafter als es in amerikanischen | |
Romanen der Fall war (nach D.F. Wallace hat man dort ja die Postmoderne | |
entdeckt, spät, aber immerhin). Das ist natürlich von Dorothee Merkel sehr | |
gut übersetzt worden. Und zweitens: Im Grunde ginge es auch abgespeckter, | |
ohne dass die Spannung wirklich darunter leiden würde, im Gegenteil. | |
Probieren Sie es aus, streichen sie jeden zweiten Neben- oder Hauptsatz. | |
Geht fast komplett auf. | |
Natürlich hat das Buch sehr gute Strecken, amüsante Stellen, gut | |
zugespitzte Entwicklungen. Es bietet Realismus, der Sozialkritik leisten | |
möchte. Aber das Buch leidet eben auch unter Geschwätzigkeit. Das wird | |
durch die vielen Seiten nicht besser. | |
„Echte narrative Freiheit“, sagte John Lanchester dann auch laut FAZ, | |
„biete nur der realistische Roman des 19. Jahrhunderts.“ – „Der Roman d… | |
19. Jahrhunderts“, das ist schön vage gehalten. Geht es um die | |
Langatmigkeit eines, sagen wir, Fontane? Um das Erzählen mit ungeahnten | |
Einsichten wie bei Balzac, um das Auserzählen ganzer soziohistorischer | |
Zusammenhänge wie bei Dostojewski oder Tolstoi, oder um den perfekten Roman | |
mit der perfekten Sprache wie bei Flaubert geht es hier jedenfalls nicht. | |
Und doch ahnt man, was Lanchester meint: „Der Roman des 19. Jahrhunderts“ | |
entspricht nämlich exakt der Narrationslinie, die von den Experimenten des | |
20. Jahrhunderts nichts mehr wissen will, und sich vom Fernsehen her | |
erzählt – von den DVD-Boxen der amerikanischen Serien, zu denen inzwischen | |
ein ganzer Sekundärapparat erscheint. (Und nicht, dass wir uns falsch | |
verstehen – dagegen ist nichts zu sagen, auch wenn ich persönlich meist | |
irgendwo in den dritten Staffeln schlapp mache, übersättigt bin). | |
Gemeint ist also: konventionelles Erzählen, Erzählen, was ist, unter | |
Verzicht auf weitergehende Interpretationen. Im Grunde ein Erzählen, das | |
vergisst, sich von den anderen, größeren Medien zu unterscheiden. Die | |
Auflösung aller Distinktion bei Behauptung derselben. Oder, wie es Stephan | |
Wackwitz so ähnlich formuliert hat, das eine Ende der Gattung Roman. Ein | |
Roman, der so unterhaltsam ist, dass man ihn im Grunde nicht mehr zu lesen | |
braucht. | |
27 Feb 2013 | |
## AUTOREN | |
René Hamann | |
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