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# taz.de -- Neoliberales London: „Wir müssen die Klassen abschaffen“
> London, „Brutstätte und Multiplikator der Deregulierung“, könnte
> Ausgangspunkt für eine neue Linke sein. Das hofft Doreen Massey,
> kritisch-materialistische Stadtforscherin.
Bild: Herrschaft der Finanztürme: Im ökonomischen Sinne sei London eine parad…
taz: Welches Image von London werden die Medien der Welt während der
Olympischen Spiele präsentieren wollen?
Doreen Massey: Sie werden versuchen, London als wohlhabende, boomende und
kulturell vielfältige Stadt zu präsentieren.
So falsch ist das doch nicht.
Natürlich ist da auch was Wahres dran. Der Wahrheit am nächsten kommt, dass
London im ökonomischen Sinne eine der paradigmatischen Global Cities ist.
Es ist einer der Plätze, an denen die kapitalistische Globalisierung
koordiniert wird. Und die besondere Rolle Londons ist die eines
Finanzzentrums. Eine Rolle mit langer Geschichte, die aber in jüngerer
Vergangenheit massiv expandierte, die internationaler und viel stärker
explizit neoliberal geworden ist. Und die sowohl die metropolitane Ökonomie
als auch das ganze Land immer mehr dominiert.
Für Regionen außerhalb Londons und des Südostens wird es zunehmend
schwieriger, wirtschaftlich zu bestehen, denn die City bestimmt die
makroökonomische Politik. Das Scheitern des Nordens und der Erfolg der City
hängen zusammen.
Aber auch nicht alle Londoner profitieren, oder?
Die Dominanz der Finanzen mit ihren Auswirkungen auf Haus- und
Grundstückspreise macht es kleineren Unternehmen fast unmöglich, in den
Gegenden rund um die City zu überleben. Einer der Merkmale von Londons
Wirtschaft war immer ihr Mix aus vielen kleinen Industrien, und deren
Aussterben ist ein Ergebnis der Finanzaktivitäten und des
Immobiliensektors. Aber überhaupt ist es schwierig, die soziale
Reproduktion der Stadt durch die dafür notwendigen Arbeitskräfte
aufrechtzuerhalten. Innerhalb Großbritanniens ist London die Stadt mit den
größten sozialen Ungerechtheiten.
In ihrem Buch „World City“ erklären sie, dass diese Entwicklungen ihre
Wurzeln in den 1980er Jahren haben – als die Sozialdemokratie in die Krise
geriet.
Ich denke, wir müssen erkennen, dass sie in Großbritannien wie auch
generell in Europa in die Krise getrieben wurde, weil die Arbeiter zu viel
verdienten, die Ideologie der Gleichheit tatsächlich damals sehr stark war
und die Gewerkschaften sehr erfolgreich waren. Der Wohlfahrtsstaat hatte
eine große Bedeutung. Und das Kapital konnte das nicht ertragen. Die
Morgenröte der neoliberalen Periode war das Zurückschlagen von alter Elite
und neuem Kapital, um die Initiative wiederzuergreifen und sich die Gewinne
wieder zurückzuholen.
Ein Vorgehen, das nicht reibungslos vonstatten ging.
Es fand ein Kampf zwischen sozialen Kräften statt, und es war nicht
unausweichlich, dass der Neoliberalismus diesen Kampf gewinnen würde.
Während der 80er Jahre war ich wie eine Menge anderer Linker im Greater
London Council involviert. Das war ein echter Versuch, das Regieren von
Städten anders zu denken – zum Vorteil der Bevölkerungsmehrheit. Wir
wollten eine Art Alternativmodell zur Sozialdemokratie, denn wir hatten ja
unsere eigene Kritik an einigen Aspekten des sozialdemokratischen
Etatismus.
Und was passierte? Es kam zu einem Kampf darum, welcher der Wege das Rennen
machen würde. Interessant an der Situation in Großbritannien war, dass die
nationale Labour Party dabei nichts zu sagen hatte. Die treibenden Kräfte
waren außerparlamentarisch und konzentrierten sich oft rund um lokale
Regierungen in den Städten. Wir hatten eine neue urbane Linke, die sich mit
den streikenden Bergarbeitern zusammenschloss.
Zwei doch sehr unterschiedliche linke Bewegungen an unterschiedlichen
geographischen Orten.
Ja, und als Geographin habe ich mich natürlich damit auseinandergesetzt.
Die Bergarbeiter hingen der in die Defensiove geratenen, alten Linken an
und lebten in den heute strukturschwachen Regionen des Nordens und Westens.
Aber die Leute vom Greater London Council reisten dorthin und bildeten
Partnerschaften. Wir experimentierten, diese Dinge passierten so unheimlich
schnell. Es gab den Versuch, über alle Gräben hinweg miteinander zu reden.
Türkische Migranten und Schwule kamen in die Minenregionen, und die Leute
dort setzten sich mit Menschen und Stimmen auseinander, die sie noch nie
gehört hatten. Zu 99 Prozent war das eine positive Erfahrung.
Die Geschichte der damals neuen urbanen Linken wird allerdings heute kaum
noch überliefert.
Für Nicht-Linke steht der Greater London Council für all die Leute, die
sagen: Nimm das Wort „Tafel“ (blackboard) nicht in den Mund, das ist
rassistisch. Sie haben ihr Bestes getan in all den Jahren seit dem Ende des
GLC, um das, was damals passierte, kontinuierlich schlecht zu machen, um
dass Potenzial, dass der Erinnerung an diese Zeit innewohnt, auszulöschen.
Und doch gibt es Verbindungen zwischen unseren Ideen und dem, was heute
unter den Indignados oder bei Occupy diskutiert wird.
Was waren denn überhaupt die Inhalte der neuen urbanen Linken im Greater
London Council?
Wir versuchten, die Politik, Ökonomie und Kultur der Stadt neu zu
überdenken; stärker von unten und breit gefächerter. Anstelle der großen
Blöcke des Modernismus sollte eine Anerkennung von Differenz stehen, die
auch dem Feminismus der 60er Jahre entsprang. Ich war zum Beispiel in einem
Ausschuss, der eine ökonomische Strategie ausarbeitete. Wir wollten die
Kontrolle durch die Arbeiter einführen, deren Rechte in den Fabriken
verbessern, die Fabriken wieder flott machen, Genossenschaften ermöglichen.
Angesichts des Niedergangs der verarbeitenden Industrie dachten wir aber
auch darüber nach, was jenseits des Finanzsektors für Londons Wirtschaft
künftig von Bedeutung sein könnte. Auch Hausarbeit war für uns ein
Produktionssektor. Unsere Ökonomie ging von der Arbeit aus, die nötig war,
um London für die Menschen lebenswert zu machen.
Wann kam der Moment an dem Sie dachten, jetzt haben wir die Schlacht
verloren?
Offensichtlich wurden wir von der rechten Presse gehasst; ein Indiz dafür,
dass wir etwas richtig gemacht hatten. Aber dann verloren die Minenarbeiter
ihren Streik. Und das Greater London Council wurde abgeschafft – ebenso wie
andere englische Stadtregierungen. Während bedeutender historischer Momente
realisiert man nicht, dass man in sie verstrickt ist, aber rückblickend
lässt sich feststellen, dass die Periode der 80er Jahre ein Kampf darum
war, welches London und, letzten Endes auch, welche Welt wir haben wollten.
Aber warum sollten vergangene Kämpfe in London denn überhaupt eine Relevanz
für den gesamten Globus besitzen?
London vielleicht noch mehr als New York oder andere US-Städte ist die
Brutstätte für eine Ökonomie und Ideologie der Deregulierung,
Privatisierung und des „allwissenden Marktes“ gewesen. Es hat eine Menge
Anstrengungen unternommen, um zum nationalen wie globalen Multiplikator
dieser Ideologie zu werden. Bei den Nachforschungen für mein Buch „World
City“ verbrachte ich viel Zeit damit, die vom Finanzsektor und den von ihm
abhängigen Branchen produzierten Papiere zu lesen. Sie pflegen zu sagen:
Freie Märkte sind die besten, die Finanzen sind der Wachstumssektor der
britischen Wirtschaft, ohne sie wären wir praktisch tot. Die Finanzen sind
die goldene Gans.
Eine Propaganda, die erfolgreich war.
Weil die neoliberale Ideologie zum common sense geworden ist. Wir bemerken
ja nicht einmal mehr, dass wir sie denken: die Idee, den Markt nicht zu
beeinträchtigen, Individualismus, Wettbewerbsfähigkeit. Ich würde sagen, so
wird Hegemonie hergestellt. Ich kann nur für Großbritannien sprechen, aber
sicherlich passiert das auch in anderen Ländern Europas: selbst die kleinen
Leute werden materiell und ideologisch in den neoliberalen Diskurs
hineingezogen. Deine Interessen werden in gewisser Weise mit denen des
Kapitals auf eine Linie gebracht, denn nicht auf lange Sicht, sondern jetzt
und sofort sorgst du dich darum, ob deine Hypothekenzinsen steigen oder
dass Deine Pension verfallen könnte.
Trotz der von ihnen gezeichneten Entwicklung, weisen Sie immer auch auf die
verbleibenden, sozialdemokratischen Arrangements rund um den neoliberalen
Raum der City hin.
Das ist meine Antwort auf Überdramatisierungen. Diese sind sehr lauten
Stimmen aus den USA geschuldet. Und weil die Vereinigten Staaten eine so
laute Stimme haben, wird diese hier oft kopiert ohne zu zutreffen. Noch
haben wir einen nationalen Gesundheitsdienst, Überreste an Kollektivität
und Solidarität, die innerhalb der Kultur der Vereinigten Staaten nicht in
derselben Weise existieren. Manchmal driften die Leute in eine
apokalyptische Sprache ab, die sagt: alles ist vorbei. Dem entgegne ich:
seid vorsichtig, denn wir wollen doch verteidigen, was übrig geblieben ist
und darauf aufbauen.
Ausgerechnet die Labour Party war es, die entscheidend an der Etablierung
der neoliberalen Hegemonie in Großbritannien mitwirkte.
Jeder wird zustimmen, dass New Labour unter Tony Blair sich komplett ans
neoliberale Modell gebunden hatte. Stuart Hall vetritt die Auffassung, dass
dies ein Neoliberalismus mit freundlichem Gesicht war, plus ein bisschen
sozialdemokratische Umverteilung. Und er sagt, dass die Umverteilung selbst
eine Reartikulierung des öffentlichen Sektors bedingt hatte, hin zu einem
Denken wie in der Privatwirtschaft – als ein Teil der Herstellung von
Hegemonie. Ich würde behaupten, Thatcher hat den Neoliberalismus hier
etabliert, aber es war New Labour, das vermochte, die Arbeiterklasse, den
Norden und Westen des Landes ideologisch zu indoktrinieren, genau aufgrund
dessen, was es im öffentlichen Sektor unternahm.
Die Indoktrinationen durch New Labour haben wohl so einige zentrale
sozialdemokratische Begriffe aus der politischen Debatte verbannt.
Unter der traditionellen Sozialdemokratie wurde versucht, für die Rechte
einer Gruppe, einer Klasse zu kämpfen. Aber heute reden sie nicht mehr über
Gleichheit, sondern nur über Chanchengleichheit oder soziale Mobilität,
über das individuelle Vermögen, dem eigenen sozialen Hintergrund zu
entrinnen und in die Mittelklasse hochzuklettern. Doch was soll das mit der
sozialen Mobilität? Das ändert nichts an den Strukturen? Was wir benötigen,
ist zu allererst, die Klassen abzuschaffen. Unglücklicherweise fällt diese
Entwicklung mit dem Aufstieg des Multikulturalismus insbesondere unter
Liberalen zusammen.
Was ist denn daran zu beklagen?
Mulitkulturalismus hat in vielen Dingen den Platz des Klassendiskurses
eingenommen. Aber ich denke, beide sollten eine Allianz miteinander
eingehen. Multikulturalismus wird oft genug auch von der Linken als etwas,
über das man leicht reden kann, gesehen, weil es das eigene
(Mittelklasse-)Dasein nicht in Frage stellt. Und Klasse wird als etwas
Gestriges abgetan. Selbst die urbane Linke, die wir jetzt haben, fokussiert
stark auf Migration.
Oft wird die einheimische Arbeiterklasse ignoriert. Und die ist eben nicht
nur weiß. Keine Klasse in diesem Land ist vermischter und stärker
interethnisch integriert. Und natürlich ist es hierzulande das Kapital, das
Migration möchte, weil es die Löhne der Arbeiterklasse niedrig halten will.
Die Linke sollte nicht so tun, als ob das nicht der Fall sei. Wir haben uns
schwierigen Fragen zu stellen, und manchmal verweigert sich die Linke
diesen Fragen.
Bleibt trotzdem das Problem des alltäglichen Rassismus auch in
Großbritannien.
Doch können wir den Menschen nicht immer nur ihre Positionen vorwerfen.
Wenn wir politisch erfolgreich sein wollen, müssen wir verstehen, wie es
dazu kommt, dass sie so denken. Die Linke ist nicht gut darin. Wir sagen
bloß: Oh, die sind rassistisch, die sind sexistisch. Die Bedingungen, unter
denen sich solche Standpunkte ausbilden, verstehen wir nicht. Daher sind
wir unfähig, ihnen, altmodisch gesprochen, ins Wort zu fallen, direkt mit
den Leuten zu reden. Die rechte Presse ist dagegen sehr geschickt darin,
sich an die Stelle armer Leute zu versetzen und zu sagen: Schaut, die
Straße runter, da sind noch mehr arme Leute, und die leben von Euren
Steuern.
Sie spielen sehr effektiv verschiedene Gruppen armer Leute untereinander
aus. Die Wut von Menschen aus der Arbeiterklasse, die sich gelegentlich
Bahn bricht, kann ich verstehen, denn bis zu einem gewissen Grad werden sie
von allen Seiten ignoriert, und von der Rechten dämonisiert. Und manchmal
auch von der Linken, dafür dass sie rassistisch sind.
In der Finanzkrise von 2007 und 2008 geriet die neoliberale Ideologie
heftig ins Wanken. Warum nur vorübergehend, wie Sie sagen?
Ganz am Anfang gab es mal einen Moment, als jeder dachte: Hey, etwas sehr
Grundlegendes könnte passieren. Die Menschen stellten Gier und
Individualismus in Frage. Und dann verschwand der Moment wieder. Wenn man
so will, schafften sie es, die Geschichte umzuerzählen. Es ist nun nicht
mehr länger ein Problem der Banken, es ist eins der öffentlichen Ausgaben.
Und wir dachten: Wie konnte das passieren. Aber sie haben sich darauf schon
seit langem vorbereitet.
Das ganze System implodierte und sie vermochten es dann, ihre ideologische
Hegemonie wiederherzustellen. Weshalb ich mit Gramsci sage, dass wir im
Moment eine ökonomische Krise haben, die die Vorbedingungen für einen
größeren Wandel der Balance zwischen den sozialen Kräften ist. Doch solange
wir keine ideologische und politische Krise haben, werden wir nicht zu
grundlegenderen Fragen vorstoßen. Und das ist, denke ich, was wir im Moment
hauptsächlich tun müssen: die Ideologie des Marktes herausfordern.
Occupy hat das im vergangenen Herbst getan, als es sein Zeltlager vor den
Stufen der St. Paul's-Kathedrale nahe den Banken der City aufschlug.
Ja, aber Occupy war sehr, sehr klein. Doch seine symbolische Präsenz und
das Chaos, das es innerhalb der Kirche verursachte, waren bemerkenswert.
Die Tatsache, dass Occupy fundamentale Fragen stellte, war wirklich
beunruhigend für die Mächtigen. Mit der Ideologie des Neoliberalismus aufs
Engste verbunden ist die Behauptung, dass es keine Alternative zu ihr gebe.
Wir haben den Märkten zu gehorchen, Ökonomie ist keine Politik, sondern
Wissenschaft. Und dann sagte Occupy: Gut, lasst uns einige fundamentalere
Fragen stellen. Lasst uns doch sagen, dass es verschiedene Weisen gibt, die
Dinge in Angriff zu nehmen. Deshalb musste man sich Occupy entledigen. Ich
hielt mehrere Male Vorträge Universitätszelt und war auch an einer Gruppe
unter dem Titel „Kartierung, Raum und Demokratie“ zum Thema der Beziehungen
zwischen Raum und Demokratie beteiligt. Es gab dort einen Bienenstock
voller Ideen. Occupy schaffte einen öffentlichen Raum, einen Ort, an dem
Potenzial für die Entwicklung wirklicher Demokratie bestand. Es war
unglaublich - und deshalb musste es weichen.
Und jetzt ruhen ihre Hoffnungen mal wieder auf der Labour Party?
An die Labour Party hat man wohl immer zu viele Erwartungen! Es gibt
natürlich auch Freunde von mir, die sich von ihr zu keinem Zeitpunkt
irgendetwas von ihr erhofft haben. Doch ob man's mag oder nicht: Die Labour
Party existiert, in der britischen Politik hat sie eine massive Präsenz.
Und in gewisser Weise kann man ihr nicht aus dem Weg gehen. Selbst jene,
die die repräsentative Demokratie ablehnen, wie einige der Leute rund um
Occupy, finden sich selbst dabei wieder, verschiedentlich mit der Labour
Party zu tun zu haben. Und das ist so, weil es in diesem Land keine linke
Partei gibt; weder eine Syriza noch eine Linkspartei.
Das liegt doch vor allem am Mehrheitswahlrecht in Großbritanniens.
Ja, und dennoch habe ich gegen eine Reform des Wahlsystems gestimmt. Ich
möchte hier nicht eine Situation wie in Deutschland haben.
Warum nicht?
Weil dort die FDP immer an der Macht ist. Von allen sind sie die
Schlimmsten. Außerdem möchte ich eine richtige Opposition, ein starkes
Pendeln der Macht zwischen den Parteien, richtige Politik; kein konstantes
Oszillieren rund um die Mitte. Und ich denke, dass in der Labour Party im
Moment wahrscheinlich mehr Potenzial steckt als in den deutschen
Sozialdemokraten.
Woran machen Sie das fest?
Ich finde Ed Milliband sehr, sehr interessant. Ich kenne ihn ein wenig, da
er aus derselben intellektuellen linken Arena stammt. Und ich habe viel
dafür übrig, dass er sich viel Zeit nimmt, um darüber nachzudenken, wie das
neue Projekt aussehen könnte. Es ist nicht damit getan, mit sechs neuen
Richtlinien daherzukommen. Ich denke, er möchte die Begriffe der Debatte
ändern.
Doch er sieht sich starken Zwängen innerhalb seiner Partei gegenüber.
Zu Beginn wurde er attackiert, weil jeder in der Partei zumeist die weiter
rechts stehenden Kandidaten an der Spitze sehen wollte. Ed Balls und Ed
Miliband aber repräsentierten den linken Flügel. Und Miliband ist weiter
von Blair-Getreuen umgeben, pro-neoliberalen New Labour-Leuten, die ihn
nicht das sein lassen wollen, was er gerne selber wäre. Dass kreiiert eine
unangemehme Atmosphäre innerhalb der Partei. Gerade wegen dieser Stimmen
sind die Schwierigkeiten, Labour auf substanzielle Weise zu bewegen, sehr
groß. Für diese sorgen aber auch Teile des linken Flügels, die sagen, wir
müssen nun mit den Liberaldemokraten sprechen. Ich bin nicht daran
interessiert, mit den Liberaldemokraten zu reden.
Aber so ließe sich eine Bresche in die recht wackelige konservativ-liberale
Koalition schlagen, von der Großbritannien regiert wird.
Die Koalition hasse ich. Es ist wirklich dumm, dieses Wort politisch zu
benutzen, aber ich hasse sie anders als ich einst Thatcher hasste. Und das
hat was mit ihrer Klasse zu tun. All diese glatten Oberklasse-Jungs. Ich
kam von der Sozialbausiedlung an die Universität in Oxford, und da lernte
ich sie zu hassen. Das machte mich zur Sozialistin. Und nun regiert dieser
Haufen wieder das Land. Thatcher musste die Arbeiterklasse gar nicht
erreichen, in gewisser Weise konnte sie deren Stimme annehmen. Thatcher war
eine sehr geübte Sprecherin und konnte an den Verstand der Leute
appellieren.
Schließlich kam sie aus einem Krämersladen. Dieser Haufen ist anders. Und
Teil ihres Erfolgs ist es, dass sie damit irgendwie durchgekommen sind. Das
derzeitige Ausmaß halbaristokratischer Herrschaft in diesem Land würde das
18 und 19. Jahrhundert vor Scham erröten lassen. Aber darin liegt auch eine
potenzielle Verletzlichkeit, denn am Ende wissen die derzeit Regierenden
nicht wirklich, wie die Leute denken. Sie haben keine Ahnung, wie es ist,
nach draußen zu gehen und einen Liter Milch zu kaufen. Und die Leute
beginnen, ihre Inkompetenz an ihren Status als Oberklasse-Jungs zu heften.
Wie sollte denn die Politik einer neuen urbanen Linken innerhalb dieses
politischen Kontexts aussehen?
Gerade dreht sich eine Menge um das Recht auf Stadt und um urbane Kämpfe.
In derselben Weise, wie mich die Überfokussierung auf Multikulturalismus
besorgt macht, beunruhigt mich auch die übermäßige Konzentration auf
Städte, nur weil wir uns gerade in ihnen befinden. Und auch eine Dominanz
der Politik durch die großen Städte. Kann ja sein, dass dort die Dinge
explodieren, in diesem Sinne ist es richtig, auf sie zu schauen. Aber es
ist auch eine Form von Insularität und Selbstobsession, dass wir alle
dorthin sehen, wo wir sind, anstatt nach außen gerichtet zu denken.
Ich würde nicht die kleinen, furchtbar armen Städte im Norden vergessen
wollen. Von London aus ist das praktisch ein anderer Planet. Auch sie haben
Rechte und Bedürfnisse. Und es gibt ja auch noch ländliche Bewegungen. Man
denke nur an die Zapatisten in Mexiko oder die Naxalisten in Indien. In
Südamerika entspringen viele neue Ideen an Schnittstellen mit den indigenen
Bevölkerungen ländlicher Gebiete ebenso wie mit den Indigenen, die in die
Städte gekommen sind. Immer nehmen wir das Wort „urban“ in den Mund. Warum?
Warum nicht „Gesellschaft“?
1 Aug 2012
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Oliver Pohlisch
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