# taz.de -- Soziologin Sassen über Desintegration: „Teilhabe war gestern“ | |
> Für die Soziologin Saskia Sassen erleben wir gerade eine beispiellose | |
> Desintegration. Immer mehr Menschen werden „ausgewiesen“. | |
Bild: Von so gut wie allem ausgeschlossen: Bettler in Athen. | |
taz: Frau Sassen, Ihrer Ansicht nach beschreibt der Begriff „Ausweisung“ so | |
gut wie kein anderer unsere Gegenwart. Warum? | |
Saskia Sassen: Wenn ich von Ausweisung spreche, dann meine ich etwa die | |
Bewohner der 13 Millionen Häuser, die seit 2006 in den USA | |
zwangsversteigert wurden. Oder die Millionen, die in den USA im Gefängnis | |
sitzen. Ich meine die verarmte Mittelschicht in Europa und die Milliarde | |
Menschen, die in absoluter Armut leben. | |
Alles Dinge, die es schon lange gibt. Wo ist das Neue? | |
Nehmen wir Griechenland. Dort verlieren immer mehr Leute ihre Arbeit, immer | |
mehr sind zu arm, um für ihre Kinder zu sorgen. Doch wenn man dort ist, | |
sieht alles aus wie früher: Es gibt Bars, es gibt Restaurants, Büros, Leute | |
mit Jobs. Doch verliert man den, ist man raus, wirklich raus. Das ist nicht | |
einfach nur ein bisschen mehr Arbeitslosigkeit und Armut. | |
Sondern? | |
Die Ungleichheit wächst und wächst, und ab einem bestimmten Punkt ist die | |
Veränderung ist so nachhaltig, dass wir es mit etwas Anderem zu tun haben: | |
mit Ausweisung. Nehmen wir die Zwangsversteigerungen. Die gibt es schon, | |
seit es Hypotheken gibt. Aber heute stehen ganze Stadtteile leer. | |
Sie vergleichen die Lage von Beamten mit Lohneinbußen in Südeuropa mit der | |
inhaftierter afroamerikanischer Jugendlicher und der von Landraub | |
betroffener Kleinbauern in Afrika: Sie alle seien „ausgewiesen“. Tun Sie | |
der Wirklichkeit nicht einen ziemlichen Zwang an? | |
Ich vergleiche nicht. Wenn wir alte Erklärungsmuster beibehalten, dann | |
lassen sich diese Dinge nicht vergleichen. Ich frage, ob diese | |
Erklärungsmuster geeignet sind, die tiefen Veränderungen zu beschreiben, | |
die am Werk sind. Und meine Antwort lautet: Nein, sind sie nicht. Wenn es | |
Brüche in der Verhältnissen gibt, braucht man neue Konzepte, um sie zu | |
erkennen. | |
Und das ist Ihnen gelungen? | |
Als der Industriekapitalismus in England bereits zur dominanten | |
Wirtschaftsweise aufgestiegen war, sah das Land im Großen und Ganzen noch | |
aus wie vorher: ein Agrarland mit etwas Handel. Es gab weiter | |
Landwirtschaft, aber die Schafe waren jetzt nicht mehr einfach Schafe, | |
sondern Grundlage des Betriebs der Textilfabriken. Jetzt ist es ähnlich: An | |
der Oberfläche sieht alles noch aus, wie vor 40 Jahren. Ist es aber nicht. | |
Für die Dinge, die Sie nennen, gibt es doch längst einen Begriff: sozialer | |
Ausschluss. | |
Nein, den gibt es eben nicht. Was wir heute sehen, hat mit sozialem | |
Ausschluss nichts zu tun. Die Grenze, die jemand überschreitet, der in | |
Griechenland seinen Job und sein Haus verliert, ist eine neue Sorte von | |
Grenze. Das nenne ich Ausweisung. Sozialer Ausschluss ist Diskriminierung, | |
aber im Innern des Systems. Das ist schlimm, das gibt es weiter, aber was | |
mich hier besorgt, ist etwas Neues. Es sind die Logiken der Ausweisung von | |
Menschen aus traditionellen Ökonomien, von der Möglichkeit, ein Teil der | |
neuen und alten Ordnung zu bleiben. | |
Was verbindet denn den griechischen Erwerbslosen mit dem geräumten | |
US-Immobilienbesitzer? | |
Beide werden aus ihrem Lebensraum vertrieben. Dass es in Griechenland und | |
Spanien inzwischen auch keinen Schutz mehr gibt gegen den totalen Abstieg, | |
so wie in den USA. | |
Sie behaupten, nach dem 11. September habe die US-Regierung begonnen, die | |
Bevölkerung derart exzessiv zu überwachen, dass sie aus der Sphäre der | |
Bürger mit historisch gewachsenen Bürgerrechten in die „Sphäre der | |
Verdächtigen ausgewiesen“ worden sei. Ist das nicht reichlich dick | |
aufgetragen? | |
Natürlich gab es schon immer Überwachung, aber heute sehen wir ein | |
transnationales System, von dem alle Demokratien ein Teil werden. In den | |
USA gibt es 10.000 öffentliche Einrichtungen, die sich mit der Überwachung | |
beschäftigen, und sie arbeiten mit den Engländern und den Deutschen et | |
cetera zusammen. Es ist eine neue Art des Krieges, der diese Zustände | |
geschaffen hat: Wenn der Feind ein anderer Staat ist, ist er sichtbar. Aber | |
jetzt, wo der Bürger, der Immigrant, der Tourist ein Terrorist sein kann, | |
existiert eine Vorstellung totaler Überwachung – auch deshalb, weil wir | |
über die nötigen Technologien verfügen. Diese Logik der totalen Überwachung | |
macht uns alle zu Verdächtigen. | |
Sie schreiben, in der Vergangenheit habe es „kleinere Verluste“ gegeben, | |
jetzt komme es zur „massiven Ausweisung“. Romantisieren Sie nicht den | |
Keynesianismus? | |
Es gab im Keynesianismus Ausbeutung, Rassismus und sozialen Ausschluss, | |
aber in der Tendenz wuchs die Zahl der Integrierten: Die wohlhabende | |
Arbeiterklasse und die wohlhabende Mittelklasse wurden größer. Das geschah | |
nicht, weil das System nett war, sondern weil die Wachstumsdynamik nach | |
immer mehr von allem verlangt hat. Das Ergebnis: Es gab zunehmend Menschen | |
mit Haus, Bildung, Pensionen, mit Teilhabe. Heute ist die Tendenz | |
andersherum. | |
Wandert die Dritte Welt in den Norden? | |
Zwischen 1985 und 1995 hat der Internationale Währungsfonds in über 70 | |
Krisen interveniert, die Gewerkschaften in die Schranken gewiesen, Löhne | |
gedrückt, den öffentlichen Sektor ausgedünnt. Die Ökonomien wurden | |
„gesundgeschrumpft“. Doch bei diesen „Schrumpfungen“ fliegen die Leute | |
raus, von denen man glaubt, sie nicht zu brauchen. Es ist eine Ausweisung, | |
eine wirtschaftliche Säuberung. Seit dem letzten Jahrzehnt gibt es dies | |
auch im globalen Norden. Die Krise von 2008 wurde dazu benutzt, | |
Sozialleistungen zu kürzen. Das sieht man besonders extrem in Spanien und | |
Griechenland. Die griechischen Banken wurden gerettet, die Wirtschaft | |
geschrumpft, die Leute flogen raus. | |
Sie nennen das die „aktive Herstellung einer Überschussbevölkerung“. Soll | |
das heißen, dass dies mit Absicht geschieht? | |
Nein, nicht absichtlich. Es ist eine systeme Tendenz. Man braucht keine | |
Verschwörung, keine Zirkel, die Entscheidungen treffen. Die Dinge | |
entwickeln sich in diese Richtung. Im Keynesianismus ging es in Richtung | |
mehr Integration, jetzt drehen sich die Zeiger der Uhr rückwärts. | |
Haben diese Veränderungen etwas mit fallenden Profitraten zu tun? | |
Das ist eine sehr marxistische Vorstellung. Die Ausweisungen haben nicht | |
mit der Profitrate in einem mechanischen Sinn zu tun. Eine Bergbaufirma | |
vergiftet eine ganze Region innerhalb von zehn Jahren Abbau so, dass die | |
Leute dort umgesiedelt werden müssten. Das passiert aber nicht, weil die | |
Profitrate gefallen wäre, sondern weil diese Leute egal sind. Wenn sie | |
sterben, dann sagen die Verantwortlichen: „Oh, das müsste unseretwegen | |
nicht sein.“ Und machen einfach weiter | |
10 Feb 2013 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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