# taz.de -- Studentenproteste in London: Eine schlagkräftige Verbindung | |
> In London solidarisieren sich Studenten mit Leiharbeitern und Opfern von | |
> Polizeigewalt. Die Hochschulleitung verbietet Demos auf dem Campus. | |
Bild: Protestieren nicht gegen Studiengebühren, sondern gegen die zunehmende P… | |
LONDON taz | An diesem Mittwoch gehen erneut mehrere hundert Studenten in | |
London auf die Straße. Doch diesmal demonstrieren sie nicht wie vor drei | |
Jahren vor allem in eigener Sache – gegen hohe Studiengebühren. Die | |
Studierenden der University of London haben sich mit denjenigen verbündet, | |
die sonst die Flure und Hörsäle ihrer Hochschulen putzen. | |
„Wir unterstützen uns gegenseitig, und zwar zu hundert Prozent“, sagt Henry | |
Chango Lopez von der unabhängigen Arbeitergewerkschaft, der Independent | |
Workers of Great Britain union (IWGB). | |
Lopez organisiert die meist aus Lateinamerika stammenden Reinigungskräfte, | |
die von Leiharbeitsfirmen auf den Campus geschickt werden. Bis zum Dezember | |
bekamen sie weder Urlaubs- noch Krankengeld und zahlten keine Beiträge in | |
die Rentenkasse ein. Genau diese drei Dinge fordern sie ein und nennen sich | |
deshalb „3 Cosas“ – „3 Forderungen“. | |
Dass sich Studenten, also die potenzielle Elite der Gesellschaft, | |
ausgerechnet mit den schwächsten Mitgliedern solidarisieren, ist keine | |
Selbstverständlichkeit. Der Soziologe Richard Seymour von der London School | |
of Economics (LSE) sieht dafür verschiedene Gründe. „Es gibt ein wachsendes | |
Gefühl von Prekarisierung unter den Studenten“, sagt Seymour. | |
Durch höhere Studiengebühren und eine generelle Tendenz zur Privatisierung | |
der Universitäten funktionierten diese immer mehr nach den Regeln des | |
Marktes – und produzierten Gewinner und Verlierer. Auch müssten immer mehr | |
Studenten neben dem Studium jobben und bekämen so einen Einblick in die | |
Welt der Arbeiter, meint Seymour. | |
## Die Gewerkschaften lassen sich inspirieren | |
Bei den Arbeitnehmervertretern begrüßt man den Zusammenschluss mit den | |
jungen Akademikern. „Die Studentenproteste haben sogar die etablierten | |
Gewerkschaften inspiriert“, erzählt Chris Ford, Vorsitzender der IWGB, die | |
die Mehrzahl der Leiharbeiter an englischen Universitäten vertritt. „Ohne | |
die Studierenden wären unsere Reaktionen auf die Sparmaßnahmen der | |
Regierung viel schwächer ausgefallen.“ | |
Vor drei Jahren kamen in Großbritannien Zehntausende Schüler und | |
Studierende zusammen, um gegen steigende Studiengebühren zu demonstrieren. | |
Im Jahr darauf zogen rund 250.000 Menschen gegen die geplanten Kürzungen | |
der konservativen Regierung im öffentlichen Sektor durch die Straßen. | |
Die Universitätsleitung der University of London ist offenbar beunruhigt | |
über den Zusammenschluss von Leiharbeitern und Studierenden. „Werden die | |
Forderungen der 3 Cosas realisiert, bedeutet das enorme Mehrkosten für die | |
Universitätsverwaltung. Deshalb will man diese Union schnellstmöglich | |
zerschlagen“, meint Seymour. | |
Als am 4. Dezember 2013 rund hundert Studenten verschiedener Fakultäten der | |
Universität London, das Senate House, den Verwaltungssitz ihrer | |
Universität, besetzen wollten, ließ sich die Leitung gar nicht erst auf | |
Gespräche ein. | |
Die Studierenden forderten die sofortige Umsetzung der Anliegen der 3 | |
Cosas. Doch die Universitätsleitung rief sofort die Polizei, die innerhalb | |
kürzester Zeit mit einem Sondereinsatzkommando erschien. Zugleich holte die | |
Uni eine einstweilige Verfügung im Eilverfahren ein, die jegliche Form von | |
Protest auf Grundstücken der Universität London bis Juni 2014 strafbar | |
macht. „Das ist bedauerlich, aber angesichts des gewalttätigen und | |
bedrohlichen Verhaltens der Protestierenden notwendig“, kommentiert der | |
Sprecher der Universität London, James Pestell. | |
## Die Hochschulen reagieren panisch | |
Dass die Universität Studentenproteste rechtlich unterbindet, sei neu, | |
meint der Soziologe Seymour: „Rechtlich gesehen hat die Universität zwar | |
schon immer die Möglichkeit gehabt, Studenten von dem Universitätsgelände | |
zu bannen. Dass aber von diesem Recht gebraucht gemacht wird, das ist | |
meines Wissens noch nicht vorgekommen. Universitätsverwaltung und Polizei | |
wirken geradezu panisch.“ | |
Bereits im Vorfeld waren mit Elektroschockern bewaffnete Polizisten | |
angetreten, um eine Demonstration der 3 Cosas zu überwachen. Und als eine | |
Studentin im Juli 2013 mit abwaschbarer Kreide die Forderungen der | |
Leiharbeiter an ein Universitätsgebäude schrieb, wurde sie in Handschellen | |
abgeführt und wegen krimineller Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch | |
verhaftet. Schließlich wurde der Präsident der Studentenvertretung, Michael | |
Chessum, im November verhaftet, als er eine Solidaritätsversammlung mit den | |
3 Cosas einberufen hatte. | |
Gegen die vermehrte Präsenz der Polizei auf dem Campus riefen die Studenten | |
im Dezember zu einer „Cops off Campus“- Demonstration auf. Mehrere tausend | |
Menschen kamen daraufhin in der Londoner Innenstadt zusammen. Wieder | |
reagierte die Polizei hart. „Der beängstigendste Moment für mich war, als | |
ich in einen Polizeikessel geriet. Ich war direkt neben einer | |
U-Bahn-Station und konnte raus, aber andere wurden von Polizisten in | |
Mannschaftswagen gezogen und zu Polizeistationen weitab vom Zentrum Londons | |
gebracht“, erzählt Hannah Webb (21). | |
Sie studiert Geschichte am University College of London. Über 40 Teilnehmer | |
wurden ohne Anklage verhaftet und auf Kaution entlassen mit der Auflage, | |
sich bis März nicht in Gruppen von mehr als vier Personen aufzuhalten. Auch | |
Wochen nach den Ereignissen ist Hannah Webb aufgebracht und will sich mit | |
dem Verhalten der Polizei nicht abfinden. Sie hat die Demonstration am | |
heutigen Mittwoch mit organisiert. | |
## Die Studierenden schmieden neue Allianzen | |
Bereits 2010 geriet die Londoner Polizei in die Kritik, weil sie | |
gewalttätig gegen Studenten vorging, die gegen Studiengebühren | |
protestierten. Damals machten viele der damaligen Studenten ihre ersten | |
Unrechtserfahrungen mit der Polizei. Seither sind die Fronten verhärtet, | |
und von studentischer Seite erwartet man von den Autoritäten gar nichts | |
mehr. „Wir setzen jetzt unsere eigene Agenda“, verkündet die Aktivistin | |
Webb. Man suche neue Verbündete. | |
So solidarisiert sich der akademische Nachwuchs auch mit der Familie von | |
Mark Duggan. Der schwarze 29-Jährige aus dem ärmeren Stadtbezirk Tottenham | |
war 2011 von der Polizei erschossen worden. Ihm wurden Waffenbesitz und | |
kriminelle Aktivitäten vorgeworfen. Sein Tod löste Unruhen in ganz England | |
aus. | |
Den Prozess um die tödlichen Schüsse auf Duggan begleiteten Studenten | |
ebenfalls mit Protesten. Das Gericht erklärte die Schüsse im Januar für | |
rechtens. | |
Ob die neuen Allianzen zwischen der angehenden geistigen Elite und den | |
britischen Unterschichten langfristig halten werden, will der Soziologe | |
Seymour erst mal abwarten: „Studentenproteste bauen sich oft imposant auf, | |
fallen dann aber wieder zusammen und hinterlassen ein Vakuum.“ | |
Erste Erfolge konnten die Leiharbeiter von den 3 Cosas im Verbund mit den | |
Studierenden jedoch bereits erzielen: Seit Dezember erhalten sie Kranken- | |
und Urlaubsgeld. Für Rentenbeiträge kämpfen sie weiter. | |
22 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Sybille Biermann | |
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