# taz.de -- Neuer Roman von Christian Kracht: Selbstporträt im Ökopulli | |
> Der Schriftsteller Christian Kracht bricht aus dem Rad des Missbrauchs | |
> aus und testet erzählerische Grenzen. „Eurotrash“ ist seine | |
> Familiengeschichte. | |
Bild: Kurvenreiche Küstenstraße am Thunersee in der Schweiz | |
Wer [1][den neuen Roman von Christian Kracht] gelesen hat, hat viel zu | |
erzählen, das schon. | |
„Eurotrash“ beginnt furios, wie eine Dämonenaustreibung oder als gäbe es | |
für diesen Erzähler einiges nachzuholen. Auf gerade einmal vierzig Seiten | |
bringt Kracht die Nazivergangenheit auf der Großvaterseite des | |
Ich-Erzählers unter („Parteimitglied seit 1928“), die Aufstiegs- und | |
Lügengeschichten des Vaters als erfolgreicher Manager bei Axel Springer, | |
die fortwährende Vergewaltigung der Mutter als Elfjährige nach ihrer Flucht | |
am Ende des Zweiten Weltkriegs ins schleswig-holsteinische Itzehoe sowie | |
die Erwähnung des Missbrauchs am Erzähler selbst, auch im Alter von elf | |
Jahren, als er auf einem Internat in Kanada war. | |
Die Abrechnung mit der Familiengeschichte des Erzählers – die mit dem | |
realen Hintergrund des Autors Christian Kracht viele Berührungspunkte | |
aufweist – ist also mit der Offenlegung von Traumata verknüpft, sie | |
registriert [2][schlimme Kontinuitäten von der Nazizeit] bis in die eigene | |
Jugend des Erzählers hinein, und, man kann es gar nicht anders sagen, sie | |
ist heftig. | |
## Hochstapelei und Erniedrigung | |
„Dass meine Kindheit und Jugend d[3][urchdrungen war von Angeberei und | |
Übertreibung] und Hochstapelei und Erniedrigung“, heißt es in einem | |
Thomas-Bernhard-haften Duktus an einer Stelle. Woanders werden „die | |
Mecki-Bücher“ erwähnt, jene drolligen Igel-Zeichnungen, „in denen sich da… | |
die gesamte SS-Rassenlehre mit einer himmelschreienden Kleinbürgerlichkeit | |
paarte“. | |
Wir befinden uns jetzt am Ende des ersten Viertels dieses Romans – der | |
danach in eine stellenweise lustige, stellenweise auch schlicht | |
traditionelle Road-Novel mit alkoholkranker dementer Mutter im Taxi durch | |
die Schweiz kippt. Von der Abrechnung mit der Familie wird nichts | |
zurückgenommen. Aber sie wird eingebaut in und überformt durch diese | |
Geschichte zwischen Mutter und Sohn, die im Fortgang dunkel märchenhafte | |
Züge annimmt und eine Leichtigkeit teilweise tatsächlich entwickelt, | |
teilweise aber auch nur entwickeln soll. | |
Die Szene, in der der Roman kippt, lohnt sich genau anzusehen. Es ist die | |
Szene im dritten Kapitel, der Ich-Erzähler besucht, wie er es alle zwei | |
Monate macht, seine Mutter in Zürich. Das „silbern gerahmte Foto von mir | |
als siebenundzwanzigjährigem Faserland-Autor in Barbourjacke“ steht im | |
Salon, gleich zu Beginn hatte sich der Erzähler als Verfasser dieses | |
inzwischen nahezu klassischen Romans vorgestellt. | |
## Bye bye Barbourjacke | |
Nun sitzt er seiner Mutter aber in einem kratzigen Ökopullover gegenüber, | |
den er gerade zuvor am Verkaufsstand einer Kommune gekauft hatte. Der | |
Ökopullover wird in diesem Roman nicht so gut wegkommen, aber immerhin: Von | |
Markenfetischismus kann in diesem Buch keine Rede sein. Über die Mutter | |
heißt es in der Szene: „Sie saß in ihrer Wohnung wie Miss Havisham aus | |
Große Erwartungen, gefangen in einem Spinnennetz aus Ressentiments, Wut und | |
Einsamkeit. In diesem Augenblick wußte ich, daß es alles jetzt exakt | |
entweder so weitergehen würde bis zu ihrem Tod oder daß ich jetzt, nur | |
jetzt, genau jetzt in diesem Moment ausbrechen könnte aus dem Kreis des | |
Mißbrauchs, aus dem großen Feuerrad, aus dem sich drehenden Hakenkreuz.“ | |
Aufbruch also. Aber wohin? Die Fahrt im Taxi wird Mutter und Sohn erst zu | |
einer Bank führen, wo sie 600.000 Schweizer Franken abheben, dann zur | |
Öko-Kommune, von der der Erzähler den kratzenden Pullover gekauft hat und | |
die sich allerdings als Nazi-Refugium herausstellt, zu einem | |
Provinzflughafen, wo ihnen in einem slapstickhaften Showdown fast das Geld | |
gestohlen wird, hinauf auf einen Berggipfel, in eine steckenbleibende | |
Gondel eines Lifts, ans Grab von Borges und schließlich zu einem | |
bittersüßen Abschied. | |
Beginnen aber wird die Fahrt mit einem knappen Dialog, den man, dafür sorgt | |
Christian Kracht stellenweise überdeutlich, beim Lesen im Hinterkopf | |
behält. „Erzähl mir doch etwas“, bittet die Mutter. „Wahrheit oder | |
Fiktion?“, fragt der Erzähler. „Das ist mir egal. Entscheide du“, sagt d… | |
Mutter. Es ist ein Aufbruch ins Erzählen, das der Roman hier behauptet, bei | |
allen Realien, die er dabei transportiert. | |
## Hermeneutische Maschinerie | |
Als Christian Kracht in seiner Frankfurter Poetikvorlesungen – und auf dem | |
Höhepunkt der #MeToo-Debatten – den Missbrauch an ihm selbst eben als | |
elfjährigem Schüler eines kanadischen Internats offenbarte und auch | |
offenlegte, dass seine Familie darauf nicht adäquat reagieren konnte, war | |
die Aufregung groß. Das ging bis hin zur Frage, ob man die bei diesem Autor | |
längst angelaufene akademische hermeneutische Maschinerie (kaum ein | |
Gegenwartsautor wird literaturwissenschaftlich so dechiffriert wie er) | |
nicht doch auf biografische Motive umstellen sollte. Zumal Kracht selbst | |
anmerkte, dass sein Schreiben von dem Missbrauch geprägt sei. | |
Auf diese Frage gibt nicht nur dieser Dialog zwischen Mutter und Sohn, | |
sondern im Grunde der ganze Roman nun eine literarische Antwort. Wahrheit | |
oder Fiktion – egal, Hauptsache Erzählen. Der „Kreis des Mißbrauchs“ ist | |
zwar da, aber er soll das Erzählen nicht bestimmen. Das Erzählen soll | |
siegen und selbst so eine Abrechnung mit der Familie, wie Krachts | |
Protagonist sie hier vorlegt, leicht machen. | |
Dabei geht Kracht mit dieser Abrechnung überraschend weit. Die | |
Nachkriegswelt des erfolgreichen Vaters inklusive all seiner Chalets, | |
seiner Kunstsammlungen und seines Snobismus steht nackt da. Der Erzähler | |
fragt sich, ob das gesamte Umfeld seiner Familie sich von der Erniedrigung | |
anderer nährte, „von einem Elitenbewußtsein, das in Wirklichkeit das | |
Gebaren einer Mittelschicht war, die in die Oberschicht hinaufwollte und | |
gleichzeitig vor nichts mehr Angst hatte als vor ihrer eigenen | |
proletarischen Herkunft“. | |
## Betrunkener Ringkampf | |
Im Zuge dieser Abrechnung wirkt auch der Christian Kracht der | |
„Faserland“-Zeit inklusive solcher Anekdoten wie des betrunkenen Ringkampfs | |
mit den Leibwächtern von Joschka Fischer auf der Verlagsparty von | |
Kiepenheuer & Witsch wie entzaubert. Bis zu dem Punkt, an dem man ihn vor | |
sich selbst in Schutz nehmen will. Als die Mutter ihm auf den Kopf zusagt, | |
er solle lieber mal so schreiben wie Marcel Beyer, ist das lustig. Dass der | |
Erzähler mit Daniel Kehlmann verwechselt wird, auch noch. Als später aber | |
solche Namen wie Houellebecq, Knausgard, Sebald und Ransmayr ins Spiel | |
kommen, erscheint einem der Witz schon totgeritten. | |
Mal sehen, was die Kracht-Dechiffriersyndikate so alles an Spiegelungen und | |
Anspielungen herausfinden, aber festhalten lässt sich erst mal, dass der | |
Versuch, durch das Erzählen eine spielerische Leichtigkeit zu behalten (und | |
der Markenerzähler Christian Kracht zu bleiben), alles in allem eher | |
wechselhafte Ergebnisse zeigt. Die Wandlung der ressentimentgeladenen alten | |
Frau zur streckenweise sympathischen Mutterfigur mit eigenem Witz vollzieht | |
sich jedenfalls allzu schnell. | |
Und es sind oft zu deutliche Bilder, die Kracht hier findet. Als der Sohn, | |
der bis dahin vom künstlichen Darmausgang der Mutter nichts wusste, den | |
Kotbeutel zum ersten Mal wechseln soll, ist das noch ein Schock. Doch schon | |
bald geht dieser Vorgang zügig von der Hand, was dann doch eher dem | |
gedrängten Ablaufs des Romans als einer realistisch anmutenden | |
Durchdringung von Schamgefühlen geschuldet ist. | |
## Wechselseitiges Lächeln | |
Die Dramaturgie einer Road-Novel hat sowieso etwas Versöhnlerisches, sie | |
setzt sich letztlich durch. Das betrifft auch die Gespräche der beiden. | |
Während in Faserland alle wörtliche Rede noch indirekt wiedergegeben war, | |
löst sich die Handlung in „Eurotrash“ im letzten Viertel ganz in Dialoge | |
auf, und irgendwann münden diese Dispute wiederum in ein wechselseitiges | |
Lächeln. | |
Ein komplizenhaftes Fazit wird gezogen. Von ihrem Sohn schließlich darauf | |
angesprochen, warum sie ihre Eltern nie mit ihrer Nazivergangenheit | |
konfrontiert hat, sagt die Mutter: „Du siehst ja an uns beiden, wie | |
schwierig es ist, nein, wie unmöglich es ist, seine eigenen Eltern mit der | |
Wahrheit zu konfrontieren.“ Und er fragt: „Und hast du ihnen jemals | |
verziehen?“ – „,Nein', antwortete sie.“ | |
Das ist klar und deutlich. Aber bis zum Heraustreten aus dem Kreis des | |
Missbrauchs bedürfte es noch einiger erzählerischer Schritte, vor denen der | |
Erzähler aber geradezu zurückschreckt: „Ich schwieg einfach lieber, wie | |
alle immer geschwiegen hatten in meiner Familie, wie alle lieber alles | |
heruntergeschluckt und verborgen und geheimgehalten hatten, ein ganzes | |
totes, blindes, grausames Jahrhundert lang.“ | |
Und vor allem: Der Dialog kommt einem auch forciert vor, Christian Kracht | |
hat sich zuwenig Zeit gelassen, um ihn vorzubereiten, psychologische | |
Feinmalerei ist seine Sache sowieso nicht, und die Kombination aus harter | |
Abrechnung, selbstironischem metafiktionalen Spiel und | |
On-the-road-Slapstick geht nicht auf. | |
Die Stelle in „Faserland“, in der der Ich-Erzähler von einem einsamen Leben | |
mit Kindern auf einer Hütte in den Bergen fantasiert, kann einem einfallen. | |
Der Erzähler träumt da: „Alles, was ich erzählen würde, wäre wahr.“ Die | |
Kinder können es ja nicht überprüfen. „Eurotrash“ ist der Versuch, das | |
Ausbrechen aus dem Kreis des Missbrauchs erzählerisch wahrzumachen. | |
Christian Kracht geht darin erstaunlich weit, testet dabei seine | |
erzählerischen Grenzen aus. Und stößt letztendlich an sie. | |
4 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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