# taz.de -- Christian Krachts Frankfurter Vorlesung: Zweifellos kein Eichenlaub | |
> Rätselhaft war lange die Haltung Krachts zu seinen Figuren. Nach seiner | |
> MeToo-Offenbarung befasst er sich nun mit seinen kognitiven Dissonanzen. | |
Bild: Im Rückblick erscheint Christian Kracht als ein anderer. Hier zu sehen i… | |
Als Christian Kracht die Lesebühne im Literaturhaus Frankfurt betritt, | |
schweben in den vorderen Reihen des Auditoriums zahlreiche Kugelschreiber | |
über Notizbüchern. Das Feuilleton lauscht. Wird er neue Einzelheiten über | |
den Missbrauch preisgeben, dem er als Zwölfjähriger im kanadischen Internat | |
ausgesetzt war? Mehr über den Selbstmordversuch der Mutter? Neues vom | |
hochmächtigen Vater? Damit wir am Ende nicht nur einen Schlüssel, sondern | |
einen rasselnden Schlüsselbund zu seinem Werk in Händen halten? | |
Die Bühne betritt ein leicht verhuschter 51-Jähriger in seiner üblichen | |
Panzerung, Pullunder, grüner Parka, runde Brille und Bart, nach gängigen | |
Vorstellungen eher Männlein als Mann. Er nimmt Platz, gießt Wasser in ein | |
Glas, schaut sich um und spricht die einzigen freien Worte aus, die er an | |
diesem Abend von sich geben wird: „Wir kehren jetzt einfach wieder zurück | |
zum Text.“ | |
In seinen drei Vorlesungen zur Poetik an der Universität von Frankfurt | |
hatte er immer wieder mit kleinen Ausfallschritten den Text verlassen – und | |
mit lakonischen Exkursionen in die eigene Biografie ein Beben in der | |
Leserschaft, vor allem aber in literaturwissenschaftlichen Zirkeln | |
ausgelöst. | |
Abzusehen war das nicht. Was seine Vorgängerinnen und Vorgänger an dieser | |
ehrwürdigen Stelle zu sagen hatten, war nicht von großem öffentlichem | |
Interesse begleitet. Von welchem Vergil eine Sibylle Lewitscharoff sich an | |
die Hand nehmen ließ, mochte man gar nicht so genau wissen. Dass Thomas | |
Meinecke an der performativen Dekonstruktion des Autorenbegriffs arbeitet, | |
dürfte dem Publikum schon vor seinem Auftritt in Frankfurt nicht entgangen | |
sein. | |
Anders lag der Fall bei Christian Kracht. Unwahrscheinlich, von dieser | |
Sphinx eine poetische Programmatik zu erwarten. Selten waren die | |
Erwartungen an die Selbstauskunft eines Dichters größer – und zugleich | |
geringer. Geschürt hatte er sie mit fünf Romanen, von „Faserland“ bis „… | |
Toten“, in denen es um den Dandy ging und den irrlichternden Einzelgänger, | |
die Feier der Oberfläche und die Auslotung der Tiefe. Mit ihrem Labyrinth | |
aus Referenzen könnte man ein germanistisches Proseminar mühelos ein ganzes | |
Semester beschäftigen. | |
## „Wunderkind der Bohème“ | |
Auch gibt es nur wenige zeitgenössische Schriftsteller, die so mit | |
Zuschreibungen bombardiert wurden wie Christian Kracht: „Wunderkind der | |
Bohème“, altershalber; „Dandy“, der sorgfältig ausgewählten Kleidung w… | |
„parfümierter Popschnösel“, wegen seiner königlichen Tristesse; Meister … | |
mehrfach gespiegelten Ironie sowieso. Krachts Reisenotizen aus Asien wurden | |
als „elitärer Ennui“ und seine Begeisterung für Kim Jong Il für bare Mü… | |
genommen. | |
„Imperium“, über einen deutschen Kolonialisten, trug ihm den Vorwurf ein, | |
ein „Céline seiner Generation“ und also talentierter Antisemit zu sein. | |
Zuletzt, angesichts von „Die Toten“, warfen Kritiker ihm mangelnden Witz | |
vor. Und einen Manierismus, der an Thomas Mann geschult war, dessen Zürcher | |
Grab der Held von „Faserland“ vergeblich suchte. Rätselhaft war weniger die | |
Sprache seiner Erzählungen, rätselhaft war in erster Linie die Haltung des | |
Künstlers zu seinen Figuren und Sujets. | |
Der Umstand, dass Kracht sich diesen Fragen durch beharrliches Schweigen | |
und Emigration nach Los Angeles entzog, machte die Neugier noch größer. | |
Unklar, ob wirklich Bescheidenheit oder doch Selbstinszenierung | |
dahintersteckte. Es war nur einer von vielen Vorwürfen, auf die zu | |
reagieren ihm ein Bedürfnis gewesen sein muss: „Als wäre es nicht möglich, | |
ein Schriftsteller zu sein, der Angst davor hat, ein Schriftsteller zu | |
sein!“ | |
„Emigration“ war auch der Titel seiner Frankfurter Vorlesungsreihe, der er | |
sich mit maximaler Gewissenhaftigkeit angenommen hat. Im Reden über sich | |
selbst und seine Bücher, sagte er eingangs, klinge er allzu oft wie „ein | |
autistischer Säugling“. Er sprach von der „Angst, zu Ihnen zu sprechen“ … | |
seinem Hadern mit der eigenen „Talentlosigkeit“. Ein Schriftsteller, was | |
ist das? Und wovor könnte er sich fürchten? | |
## In einem Internat in Kanada | |
In seinen Vorlesungen ließ Christian Kracht nicht nur ein Senkblei hinab, | |
er stieg selbst in den „trüben Erinnerungstümpel“ hinein, auf dessen Grund | |
die verschüttete Erfahrung gärte, im Alter von zwölf Jahren an einem | |
Internat in Kanada sexueller Gewalt seitens eines Priesters ausgesetzt | |
gewesen zu sein. Hier ist sie, die Erfahrung. So war das. Ich hatte es | |
selbst verdrängt, vergessen, verdaut, meiner eigenen Erinnerung misstraut, | |
wie mir auch meine Mutter nicht glaubte. Me, too. | |
Damit widerspricht Kracht der Auffassung, seine Texte seien nur Texte über | |
Texte, ein unendliches und inhaltsloses Spiegelkabinett spielerischer | |
Uneigentlichkeiten. Das Nichts, das im Werk des Nihilisten vermutet wurde, | |
stellt er nun vor als schwarzes Loch, um das seine Galaxien schon immer | |
kreisten. | |
Diese Offenbarung war nicht der dramatische Höhepunkt der Vorlesung, | |
sondern der rhetorische Ausgangspunkt einer Selbstbefragung. Wie wurde ich, | |
was ich bin? Warum schreibe ich, wie ich schreibe? Im frühen Trauma meint | |
Kracht einen Generalschlüssel zum eigenen Werk gefunden zu haben. Zitiert | |
die Peiniger und Gepeinigten aus seinen Romanen herbei, all die | |
Gefühlskalten, Gelangweilten, Kraftlosen. Sogar ein Priester ist dabei, der | |
sich hinter einem kleinen Jungen selbst befriedigt. Der Schlüssel passt auf | |
viele Türen. | |
## Ringen mit den Dämonen | |
Staunend erkennt der Autor sein eigenes Schreiben als paratherapeutische | |
Tätigkeit, als sublimes Ringen mit den Dämonen der Kindheit: „Die Heilung | |
für den Missbrauch ist immer die Kunst.“ Einerseits ist das Apodiktische | |
und Überspannte dieser Rede eine scharfe Abgrenzung zu den weichen | |
Innerlichkeitsresten der Achtundsechziger und deren „pädagogischem Eros“; | |
Kracht erwähnt auch Salem, die Odenwaldschule denkt man mit. Andererseits | |
belässt er es nicht dabei, schneidet tiefer. Und betritt, nachdem er die | |
literaturwissenschaftliche Interpretationsmaschinerie mit einem ganzen | |
Eimer Sand zum Stillstand gebracht hat, endlich das Kontrollzentrum seiner | |
Poetologie. Und begegnet dort einem Paradoxon. | |
Wie kann Kunst retten, wenn sie sich doch mit ihrem hohen Ton „selbst | |
freigibt für die Parodie“? Wie könnte man kunstreligiösen Kitsch vermeiden? | |
Wie also wäre ein Ernst zu erhalten, der um seine innewohnende | |
Lächerlichkeit weiß? Wie kann etwas zugleich Welle und Teilchen sein? Eben | |
das ist der Weg, den Kracht zur Lösung seines poetologischen Paradoxons | |
eingeschlagen haben will. Er nennt es „Quantenverschränkung“, scherzhaft | |
„Quantenpseudotelepathie“ und meint damit handwerklich den Einbau | |
„kognitiver Dissonanzen“ in den Text. Surreale Splitter, die das kohärente | |
Kontinuum der Erzählung für einen Augenblick aufheben. Unmögliche Bilder, | |
wie der Windsurfer, der bei einer Jane-Austen-Verfilmung im Hintergrund | |
über das Meer gleitet. Oder, im eigenen Werk, ein dezent sinnloser und | |
leicht zu überlesender Satz wie „Zweifellos lag kein Eichenlaub zu seinen | |
Füßen.“ | |
Ein Satz von Alain Robbe-Grillet, als Spolienstein verbaut in „Die Toten“, | |
aus denen Kracht an diesem Abend im Literaturhaus liest, für anderthalb | |
Stunden, unterbrochen nur vom Griff zum Wasserglas. Bald werden | |
Kugelschreiber und Notizbücher weggepackt, kommen zerfledderte Ausgaben von | |
„Die Toten“ zum Vorschein. | |
Wir kehren jetzt einfach wieder zurück zum Text. | |
26 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Arno Frank | |
## TAGS | |
Schwerpunkt #metoo | |
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