Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- „Die Toten“ von Christian Kracht: Zwischen Setzung und Zersetzu…
> Der Schweizer Schriftsteller Christian Kracht führt uns in seinem neuen
> Roman „Die Toten“ ins Geisterreich der Fotografie und des Kinos.
Bild: Geraunt wird nicht: Kracht bleibt seinem Pop-Erbe verbunden
Liebevoll. Das hätte man auch nicht gedacht, dass man das mal als Attribut
für einen Kracht-Roman wählen würde. Doch nicht anders als liebevoll ist
die Art zu nennen, wie hier Figuren, die soeben aus der Romanhandlung
entsorgt wurden, der Lehrer, der Liebhaber, noch mit einem Kapitelchen
bedacht werden, bevor sie versinken.
Liebevoll ist auch die Art, wie historische Fakten mit fiktiven vermischt
und versetzt sind, sorgfältig angereichert mit vielschichtigen Anspielungen
auf europäische und japanische Literatur, auf Film, Populärkultur und
Geschichte des 20. Jahrhunderts, auch auf heutige Diskurse bis hin zu
Kracht und seinem Werk selbst – angereichert zu dieser irritierend
komplexen und doch so süffigen Textur, wie sie derzeit im Deutschen
vielleicht nur dieser Autor hinbekommt.
Auch in diesem Roman hängt ein Barometer an der Wand, der Realismus-Effekt
ist also eingeschaltet. Es sieht so aus, als wären wir in den frühen
dreißiger Jahren, und ein Schweizer Autor, dessen Vater gerade gestorben
ist – äh, nein, er sieht nur aus wie Kracht und ist auch gar kein Autor,
sondern ein Regisseur namens Nägeli – soll nach Willen einiger Nazi-Größen
„eine zelluloidene Achse“ zwischen Berlin und Tokio bauen, stumm und
schwarz-weiß, und zwar möglichst unter Verwendung von Heinz („wie die rote
Tomatensoße“) Rühmann oder wenigstens Ida von Uexküll.
Auf japanischer Seite tritt der filmaffine Offizier Masahiko Amakasu hinzu,
Chaplin irrlichtert durch die Kulissen und überlebt, wie im wirklichen
Leben, den Anschlag vom 15. Mai 1932, Siegfried Kracauer und Lotte Eisner
haben Cameo-Aufritte, zurück geht’s auf der „MS Tatsuta Maru“ und wird am
Ende doch in Hollywood enden, mit großem H wie Hölderlin. Man könnte eine
„Die Toten“-Wiki einrichten (wie für Pynchon oder Wallace) oder mit Second
Screen lesen, aber der Text funktioniert, dank des Realismus-Effektes und
der guten Schauspieler, auch einfach so.
Was ist nun das Ergebnis, wenn die Liebe zum obskuren historischen Detail,
der Wille zum Archiv der vergessenen Dinge zwischen Aufklärung und Pop
(„Wildlederstiefeletten in hellhölzernen Schuhspannern, eine Reproduktion
der Totenmaske Voltaires“) auch poetologisch auf den radikalen „Glauben an
das Unechte“ stößt? Heraus kommt ein raffinierter Realismus, der nicht auf
eine repräsentative Wiedergabe der historischen Wirklichkeit abzielt,
sondern mit den medialen Repräsentationen dieser Wirklichkeit sein mal
frivoles, mal elegisches und öfters auch grausames Spiel treibt.
Heraus kommt, mit anderen Worten: Kunst. Eine Kunst freilich – und 20 Jahre
Kracht-Rezeption belegen das zur Genüge –, die alle irritieren muss, die
Literatur (und ihren eigenen Umgang damit) mit Identitätspolitik
verwechseln. Über Nazis zu sprechen, ohne Nachkriegsliteratur zu sein, das
gelingt eben nur, wenn man Identitätsangebote, das A = A eines
links-politisch-korrekten oder pegidesk-empörten Anrechts des Wirklichen
auf die Sprache, konsequent verweigert.
## Das Geisterreich der Medien
Stattdessen führen „Die Toten“ uns ins Geisterreich der Medien, vor allem
der Fotografie und des Films, deren diverse historische und systematische
Aspekte in liebevoller Kleinarbeit in den Text eingewoben sind: vom
Höhlengleichnis bis zur Militärtechnik wird hier nichts ausgelassen. Und
sogleich stellen sich die alten Fragen nach dem Echten und Wahren neu,
jetzt innerhalb des Mediums: Stiehlt das Fotografiertwerden, wie die
Ureinwohner Japans (angeblich) glauben, die Seele, oder zeigt sich, wie es
Amakasus Eltern scheint, die wahre Seele nur im Foto?
Ist nicht im stummen Schwarz-Weiß der Frühzeit, dessen Kontrasteffekte auch
Krachts Beschreibungstextur immer aufs Neue inszeniert, ein Absolutes
erfasst und getroffen, das mit Einführung der Farbe („diese psychotische
Ludik, jenes unreife Chaos der Retina“) und des Tones verloren geht?
Eine Argumentationsfigur, mit der man die Zelluloidachsenmächte wieder
gegen Hollywood ausspielen könnte, wäre nicht das Halbseidene der
Hugenbergs und Hanfstaengls allzu offensichtlich. Die karge japanische
Bauernhütte, der deutsche Wald, die großen Genies der Filmkunst oder gleich
im ersten Kapitel das Seppuku, also der rituelle Suizid – an
Eigentlichkeits-Angeboten mangelt es nicht. Krachts Text ruft sie in ihrem
ästhetischen Potenzial auf und relativiert sie wieder, ohne sie
zwangsläufig der Lächerlichkeit preiszugeben.
Auch Fritz Langs internationalistische „Flammenrede“ („Gebt mir den
Parthenon, die Alhambra …“) verliert ja nicht an Großartigkeit dadurch,
dass es sich dabei um Hollywood-Kulissen handelt oder Lang heimlich weiter
mit der UFA verhandelt.
Schließlich kommt auch das Verhältnis von visuellen Medien und Literatur
aufs Tapet: „Am Ende“, so heißt es am Anfang, „lief es doch darauf hinau…
dass wirkliche Empfindungen sich eher um eine Fotografie oder einen Film
kristallisieren als etwa um eine verbale Äußerung“ – ein Satz, den
vermutlich auch so mancher heutige Jünger des Punctum unterschreiben würde.
## Die anderen Stimmen sprechen mit
Aber wer spricht hier eigentlich? Kracht, der ja auch schon an
Filmprojekten („Finsterworld“) beteiligt war? Der Erzähler? Nein,
binnenfiktional handelt es sich um Gedanken Amakasus, der überlegt, wie er
die deutschen Partner in Berlin am besten manipulieren kann. Darüber hinaus
wird uns der Gedanke aber als Satz eines Romans vermittelt, als verbale
Äußerung also, und führt schon deshalb einen Hauch von Paradoxie mit sich.
Vielleicht ist dies überhaupt der Kern von Krachts Prosa: dass an jeder
Stelle, in jedem Satz, vielleicht in jedem Wort die anderen Stimmen
mitsprechen, die ironischen oder besorgten Gegenstimmen, die Stimmen der
Toten. Der russische Literaturtheoretiker Bachtin hat für dieses Phänomen
einst den Begriff der Heteroglossie geprägt und gezeigt, dass diese immer
schon, von Rabelais bis Dostojewski, ein Merkmal großer Romane war. Dass
uns Kracht damit jedes Mal wieder neu überraschen kann, sagt vielleicht
mehr über die Lebenden aus, die Nachkriegsliteratur und ihren
Wie-es-wirklich-war-Realismus.
Angesichts dieser komplexeren Prosa gälte es folglich, zwar nicht gleich
das Leben zu ändern, aber doch womöglich unsere Einstellung zum
Ästhetischen etwas nachzujustieren, und zwar durchaus mit Blick auf die
Klassische Moderne: Wenn Nägeli Walser liest, dann Robert.
Ist es nicht bezeichnend, dass die Kritik diese Form nicht-banalen
Erzählens lange Zeit nur als Ironie-Problem verhandeln konnte, nach dem
Motto: Meint der Autor das jetzt ernst oder nicht, und nervt das nicht
allmählich? Als ob zwischen Setzung (A = A) und Zersetzung nicht das ganze
Reich der Fiktion läge! Der Kokosnuss-Extremist Engelhardt in „Imperium“
war vielleicht als Gegenstand noch zu abstrus, indem „Die Toten“ jedoch die
Filmkunst zwischen Deutschland, Japan und den USA ins Zentrum rückt,
betreffen die aufgeworfenen Fragen immer zugleich auch die eigene Kunst.
Wo sie im Roman gestellt werden, kommt zur historischen somit immer auch
die poetologische Dimension hinzu. Wenn also Nägeli nichts Geringeres
versucht, als „mit den Mitteln der Filmkunst innerhalb der
Ereignislosigkeit das Heilige, das Unaussprechliche aufzuzeigen“, wenn die
Rede auf „die Unmöglichkeit, die Farbe Schwarz darzustellen“, oder „das
Aufzeigen der Anwesenheit Gottes“ in den Filmen Ozus kommt, dann sind diese
großen Forderungen immer schon historisch relativiert, mitunter bis hin zur
politischen Dubiosität, und stehen doch zugleich im Raum als das, was man
Kunst – auch der eigenen – im Letzten abverlangen darf.
An die „absolute Wirklichkeit seines Stoffes glauben“ heißt aber eben auch:
das Triviale, den Effekt umarmen, „an Vampire und an Geister und an Wunder
glauben. Erst daraus entstünde presto: Wahrheit“. Hier bleibt Kracht zum
Glück seinem Pop-Erbe verbunden: geraunt wird nicht. Und doch hält dieser
Roman die Hoffnung, man könne „sich die Pein der Welt und ihre Grausamkeit
für kurze Zeit borgen und sie umkehren, sie in etwas anderes, etwas Gutes
verwandeln“, nicht nur lebendig, sondern macht sie liebevoll zur
ästhetischen Praxis. Nihil nisi bene.
13 Sep 2016
## AUTOREN
Moritz Baßler
## TAGS
Christian Kracht
Roman
Schwerpunkt #metoo
Familie
Literaturkritik
Sprache
Christian Kracht
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
## ARTIKEL ZUM THEMA
Christian Krachts Frankfurter Vorlesung: Zweifellos kein Eichenlaub
Rätselhaft war lange die Haltung Krachts zu seinen Figuren. Nach seiner
MeToo-Offenbarung befasst er sich nun mit seinen kognitiven Dissonanzen.
Roman „Marie“ von Steven Uhly: Das Mädchen aus dem Müll
Der Schriftsteller Steven Uhly schreibt über eine einsame Mutter und das
Leben ihrer Kinder. Das Übel der Familie ist ein lang gehütetes Geheimnis.
Denis Scheck moderiert jetzt „Kunscht“: Nur nicht rammdösig werden
Der Literaturkritiker Scheck moderiert am Donnerstag „Kunscht!“ im SWR.
Seine Redakteursstelle beim Deutschlandfunk hat er gekündigt.
Die Wahrheit: Gleichsam deglasiert
Sprachkunde: Wörter werden in den Medien grausam entstellt. Und selbst bei
Kracht kracht‘s im Text gleichsam gewaltig.
Krachts „Imperium“ im Thalia-Theater: Splitternackt im Sand
Diese lächerlichen Aussteiger: Regisseur Jan Bosse hat am Hamburger Thalia
Christian Krachts Roman „Imperium“ inszeniert. Ein sehr deutscher Stoff.
Kinostart von „Finsterworld“: Deutsche Schrecken
Ein schönes Land, in dem viel Hässliches gedeiht: Der Film von Frauke
Finsterwalde und Christian Kracht kratzt an den wunden Stellen der
Republik.
Die Wahrheit: Hmmm, joaaar, pffff
Christian Kracht, Strahlemann von Braunschweig.
Autor Christian Kracht über sein Buch: „Ich kann kein Hakenkreuz entdecken“
Christian Kracht hat sich erstmals zu den Rassismus-Vorwürfen gegen sein
Buch „Imperium“ geäußert. Trotz einiger Parallelen habe er sich weniger an
Hitler als an Kästners Stil orientieren wollen.
Christian Kracht auf der Buchmesse: Der Autor und sein Verleger
Erst hieß es, Christian Kracht lasse die Lesung ausfallen, dann las er
doch. Differenziert konnte auf der Messe über sein umstrittenes Buch nicht
gesprochen werden.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.