# taz.de -- Kolumne Jung und Dumm: Kracht als Erscheinung | |
> Sorgsam kiefermalmend hört Christian Kracht verunsicherten Germanisten im | |
> Frankfurter Hörsaal zu. Da müssen Schlagworte her. | |
Bild: Christian Kracht nach der Präsentation des Films „Finsterworld“ in 2… | |
Das Chamäleon entwickelt eine Meinung zu David Foster Wallace, sobald ein | |
Mittzwanziger den Raum betritt: So hieß es vor Kurzem unter einer Karikatur | |
im New Yorker. Auf Deutschland übertragen, müsste man nur die Namen | |
ersetzen – Wallace durch Christian Kracht und Mittzwanziger durch | |
universitäre Germanistik, deren Protagonisten schließlich meist ja auch | |
schon etwas älter sind. Die Uhren der Forschung gehen halt langsamer und | |
sowieso sehr eigen. | |
So ist es zum Beispiel schon fünf nach zehn, als an jenem Freitag in | |
Frankfurt die neuerdings in „Prä- und Post-Frankfurt“ unterteilende (oder | |
diese Unterteilung fortan zumindest genauso emphatisch, augenrollend, | |
ablehnen müssende) Kracht-Rezeption, passend zur Themenwoche Kracht, sich | |
selbst eine Germanistentagung eröffnet, auf der alte Professorenmänner aus | |
ganz Deutschland Anzugschrankduftwolken ausströmen, am Pinkelbecken | |
Projektstellen zuteilen und, einander rhetorisch umscharrend, gleich zwei | |
dieser immer seltsamen Kanonisierungen auf einmal prozessieren (einerseits | |
Krachts, andererseits ihres Forschernachwuchses), als deren Zuschauer man | |
nicht anders kann als sich obszön und falsch am Platz zu fühlen. | |
Jene, also die Zuschauer, sind, und deshalb lesen Sie, anders als von den | |
aufsehenerregenden Poetik-Vorlesungen, erst an dieser Stelle darüber, außer | |
den Literaturwissenschaftlern selbst und mir, nur ein paar andere Studis | |
und ein bisher beharrlich schweigender Feuilleton-Redakteur. | |
## Verunsicherte Germanisten | |
Außerdem Kracht selbst. „Verschwommene Realität“ wird einer der Germanist… | |
den Effekt nennen, der von seinen Texten ausgeht; dass das zu | |
institutionalisierende Forschungsobjekt, eben der Autor Kracht in seiner | |
wunderlichen Schratigkeit, während all dieser Interpretationsverhandlungen | |
anwesend ist, lässt deren Realität indes ganz gehörig verschwimmen. Sorgsam | |
kiefermalmend hört er zu. Themen sind: Ironie und neue Ernsthaftigkeit, | |
Paratexte, Selbstinszenierung; Kracht als Schriftsteller, Kracht als | |
Reporter, Kracht als Herausforderung. Kracht als Erscheinung. Es ist ein | |
bisschen wie bei „Das ist Ihr Leben“. | |
Die Germanisten sind, jung wie alt, spürbar verunsichert, wie sie mit | |
alledem denn nun vernünftig umgehen sollen. Schließlich war Christian | |
Kracht doch der stets sich Entziehende, Spielende, fünfzehnfach Ironische, | |
bei dem man sich immerzu fragt, ob er jetzt überhaupt wirklich da sitzt. | |
Jetzt sitzt er da. | |
Ebenso wie, zitternd, am Pult der Poetik-Vorlesung dasteht, in der er | |
schildert, als Kind im kanadischen Internat missbraucht worden zu sein – | |
von ebenjenem Pfarrer Keith Gleed, der in Ich werde hier sein im | |
Sonnenschein und im Schatten hinter dem juvenilen Ich-Erzähler keucht und | |
masturbiert; in der er von Folterungen durch Mitschüler und gefühlskalten | |
Eltern erzählt, sein Werk davon ausgehend deutet, sich einer geradezu | |
mustergültigen Selbstanalyse unterzieht: „Homosexualität als Avatar“, | |
Körperpanzer, Subjektwerdung, Lacan, Objekt klein a, Lindtschokolade, | |
Libido, Mutter. Väter – eine ganze, leicht surreale Reihe: Mann, Benjamin, | |
Theweleit, Adorno, Eliot, Schlingensief, Paul Celan, Alice Schwarzer. | |
## Bis zur Parodie übererfüllt | |
Er habe sein Internatszimmer mit Alufolie ausgekleidet, sagt er einmal, und | |
es ist ein bisschen so, als habe er das auch mit dem Vorlesungssaal | |
gemacht, als sei dieser sein insektoides „Exoskelett“ (aus welchem, | |
übrigens, weder eigene Foto- noch Videoaufnahmen nach draußen gesendet | |
werden durften; selbst längere Zitate aus der Veranstaltung wurden Spiegel | |
Online landgerichtlich verboten), innerhalb desselben er die Anforderungen | |
dieser merkwürdigen Literaturbetriebs-Institution Poetik-Vorlesung bis zur | |
Parodie übererfüllt und doch so ernst und verletzlich erscheint wie noch | |
nie. | |
So müssen bei aller Verunsicherung Schlagworte herhalten: „jüngste | |
Ereignisse“, „Unumstößlichkeit“, „Werkherrschaft“. „Prä- und | |
Post-Frankfurt“. Später am Tag, als Kracht nicht mehr da ist, geht es | |
handfester zu: Steht die Forschung über ihn nun unter geänderten | |
Vorzeichen? Was bedeutet das? Vor allem, um einmal mehr mit Spiegel Online | |
zu fragen: „Kann man Kracht glauben?“ | |
Es fällt der Name Bruno Dössekker, ein Autor, der als Binjamin Wilkomirski | |
vor gut zwanzig Jahren gefälschte Erinnerungen an die Zeit im | |
Konzentrationslager veröffentlicht hatte (so wie sie dem Erzähler in | |
erwähntem Roman eingepflanzt worden waren). Aber Moment mal – war man nicht | |
eigentlich gegen „biographistische Lesarten“? Nicht zuletzt: Ist die grüne | |
Vorlesungsjacke etwa eine Barbour-Jacke, so wie die aus Faserland? | |
Hinter lauter Menschen am Signiertisch ist der Autor ganz verschwunden. Als | |
nach langer Zeit endlich ich an der Reihe bin, sage ich meinen Namen so | |
undeutlich, dass er ihn erst beim dritten Mal versteht, und vergesse vor | |
Aufregung völlig zu fragen. | |
30 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Adrian Schulz | |
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