# taz.de -- Nach Rücktritt von Grünen-Politikerin: Wenn Macht krank macht | |
> Immer öfter ziehen Politiker:innen wegen des massiven Drucks einen | |
> Schlussstrich – um sich selbst und andere zu schützen. Wo führt das hin? | |
Bild: Die Fraktionschefin der Berliner Grünen, Antje Kapek (l.), hat sich für… | |
Wie anstrengend, nervenaufreibend und gesundheitszehrend darf ein Job sein? | |
Manche werden sagen: Stress lässt sich bei zahlreichen Jobs schlicht nicht | |
vermeiden, mehr noch, der gehört einfach dazu. Andere werden widersprechen: | |
[1][Arbeit darf nicht krank machen.] | |
Nun gibt es eine Branche, in der die Frage vermutlich erst gar nicht | |
gestellt und die Antwort bereits eingepreist ist: Politik. Wer, wenn nicht | |
Politiker:innen, sollte allseits bereit und einsatzfähig sein, zu | |
nahezu allen Themen eine kompetente und vor allem die passende Antwort | |
geben können, in Talkshows und anderswo öffentlich präsent sein, aber auch | |
vor Ort bei den Menschen im Wahlkreis. So denken sicher viele Menschen im | |
Land. Der Anspruch an Politiker:innen ist hoch. Und gleichzeitig ganz | |
schön viel Ballast für die einzelne Person. | |
Wer hält so was lange durch? Welchen Preis zahlen Politiker:innen für | |
die Macht, die mit einem Amt oder einem Mandat verbunden ist? Persönlich, | |
gesundheitlich, familiär? | |
Gerade [2][hat die Fraktionchefin der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus | |
Antje Kapek ihr Amt niedergelegt] – nur einen Monat nach ihrer Wiederwahl | |
im Januar. Sie begründete ihren Schritt mit „mentalen und physischen | |
Spuren“, die der vergangene Wahlkampf, die Koalitionsverhandlungen und die | |
Coronapandemie hinterlassen hätten. Diese Spuren „kann ich nicht mehr | |
weiter ignorieren“, sagte Kapek. | |
## Die persönliche Reißleine ziehen | |
Ist das verantwortungslos gegenüber dem politischen Amt? Oder | |
verantwortungsvoll gegenüber sich selbst? | |
Kapek ist nicht die Erste, die die Härte des Politikbetriebs anprangert. 12 | |
Stunden Koalitionsverhandlungen, Dauersitzen, viel Kaffee, kaum Schlaf, die | |
herumlungernde Presse, die nach einem astreinen O-Ton giert. | |
Claudia Roth, ein Grünen-Urgestein und heute Kulturstaatsministerin, | |
erzählte vor gut zehn Jahren der taz, dass sie manchmal nachts nach Hause | |
in eine leere Wohnung komme und sich wahllos durch das Fernsehprogramm | |
zappe. Einmal sei sie wenige Stunden später auf dem Sofa aufgewacht – immer | |
noch im Mantel. | |
Die Linken-Politikerin [3][Anke Domscheit-Berg beklagte vor zweieinhalb | |
Jahren] öffentlich sowohl Arbeitsvolumen als auch Arbeitsbelastung im | |
Bundestag, sie nannte sie „menschenfeindlich“ und „gesundheitsschädlich�… | |
Kurz zuvor waren zwei Abgeordnete mit Schwächeanfällen zusammengebrochen, | |
Domscheit-Berg selbst erlitt zweimal einen Burn-out. Auch ihre Kollegin, | |
die Linke Sahra Wagenknecht, zog sich nach einem Burn-out aus der ersten | |
Reihe zurück. Die Grüne Renate Künast offenbarte, dass die Härte des | |
Politikbetriebs auch sie härter gemacht habe. | |
Bis vor Kurzem waren solche Outings ein absolutes No-go, ein Tabuthema, | |
über das öffentlich zu sprechen lediglich eine offene Flanke bot – | |
persönlich, vor allem aber für den politischen Gegner. | |
## Politik als Droge | |
Auffällig ist, dass es Frauen sind, die Überlastungen des Politikbetriebs | |
und das eigene Ausgebranntsein zum öffentlichen Thema machen. Männer | |
hingegen zeigen sich meist von überbordender Potenz. Der | |
CDU-Bundestagsabgeordnete Philipp Amthor findet, an die Belastungsgrenzen | |
zu gehen, „gehört zu einer verantwortlichen Führungsposition dazu“. Oder | |
anders formuliert: Heul nicht rum, du hast es so gewollt, also komm damit | |
klar. | |
Damit klarkommen müssen oder mussten Politiker wie der Linke Gregor Gysi, | |
Ex-Innenminister Horst Seehofer, die Ex-Bundeskanzler Willy Brandt und | |
Helmut Schmidt, FDP-Mann Hans-Dietrich Genscher, [4][SPD-Innenpolitiker | |
Peter Struck], der FDP-Politiker Wolfgang Gerhardt, der Grüne Jürgen | |
Trittin. Sie alle erlitten einen Herzinfarkt oder lebensbedrohliche | |
Herz-Rhythmus-Störungen, manche haben sie nicht überlebt. Zugespitzt ließe | |
sich die Zivilisationskrankheit auch als neue männlich-dominierte | |
Politikerkrankheit bezeichnen. | |
Als Krankheit könnte man indes auch das Festhalten an politischer Macht | |
bezeichnen. Zumindest wenn man Sucht als Krankheit definiert, wie das | |
mittlerweile der Fall ist. Politik als Droge. So hatte es Seehofer einst | |
gesehen hatte: Er komme einfach nicht davon los. Herzerkrankung hin oder | |
her. So könnte es Gysi formulieren, der mit 74 Jahren augenscheinlich nicht | |
in den politischen Ruhestand treten kann. | |
Ex-Kanzlerin Angela Merkel hatte erkannt, wann es Zeit ist zu gehen. Und | |
das nicht nur politisch, sondern auch persönlich, gesundheitlich, privat. | |
Die erlebte Erschöpfung stand ihr am Ende förmlich ins Gesicht geschrieben. | |
Erinnert sei an ihre Zitteranfälle vor über einem Jahr, [5][die in der | |
Öffentlichkeit – leider viel zu – ausführlich debattiert] worden waren. I… | |
Politik für die ehemalige Kanzlerin eine Droge? Heute macht Merkel | |
jedenfalls nicht den Eindruck, dass ihr die Politik fehlt. | |
24 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Simone Schmollack | |
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