| # taz.de -- Junge Menschen in der Politik: Die Ausnahmepolitiker*innen | |
| > In der klassischen Politik eine Minderheit, aber keineswegs unpolitisch: | |
| > Eine Abgeordnete, ein Ex-Bürgermeister und eine Aktivistin U30 berichten. | |
| Bild: Sonntagsreden und Machtspielchen: So sieht Umweltaktivistin Carla Reemstm… | |
| Auf den ersten Blick ist der Bundestag ein Hort der Jugend. Schaut man sich | |
| etwa im Paul-Löbe-Haus um, dem kafkaesken Riesenbau gegenüber dem | |
| Reichstag, sieht man pausenlos Schülergruppen durch die ellenlangen Gänge | |
| schreiten. Auch die Besuchertribüne im Plenarsaal ist an Sitzungstagen voll | |
| von [1][jungen Menschen]. Das Parlament – ein Tummelplatz der | |
| U30-Generation? | |
| In Bezug auf Besucher und Zuschauer: ja. Doch dort, wo Politik gemacht | |
| wird, ist das mitnichten der Fall. Die meisten Abgeordneten sind dem | |
| Rentenalter näher als der Schulzeit. So waren zu Beginn der laufenden | |
| Wahlperiode nur 12 der 709 Abgeordneten unter 30 Jahre alt. Der | |
| Altersschnitt betrug 49,4 Jahre – zum Vergleich: Die deutsche | |
| Gesamtbevölkerung ist mit rund 44 Jahren weit jünger. | |
| Warum das so ist, hat verschiedene Gründe. Einer lautet, dass viele Junge | |
| durch Job, Familie und Hobbys so beschäftigt sind, dass ein längerfristiges | |
| politisches Engagement wenig attraktiv erscheint. Die abnehmende | |
| Parteibindung ist ein weiterer. | |
| Doch was ist mit denen, die sich tatsächlich einbringen? Wie und warum | |
| engagieren sich junge Menschen politisch? Auf welche Widerstände auch und | |
| vor allem durch Ältere treffen sie? | |
| ## Mit 29 ganz oben | |
| Erste Station, um diese Fragen zu beantworten, ist der Bundestag. | |
| Schließlich geht es hierzulande, von Kanzleramt und Ministerposten mal | |
| abgesehen, politisch kaum höher. In ihrem lichtdurchfluteten | |
| Abgeordnetenbüro empfängt Gyde Jensen. | |
| Die heute 29-Jährige, weißes T-Shirt, weiße Sneaker, ist an der | |
| schleswig-holsteinischen Ostseeküste aufgewachsen und sitzt seit 2017 für | |
| die FDP im Bundestag – als jüngste weibliche Abgeordnete. Sie hat es als | |
| junger Mensch also nach ganz oben geschafft. Aber wie? „Mit viel Zutrauen | |
| in mich selbst“, sagt sie. | |
| Sie erzählt von einem Erlebnis, das sie neulich mit einem älteren | |
| CDU-Kollegen hatte. Abends, vor Feierabend, hätten die beiden den gleichen | |
| Weg gehabt. „Ich erzählte ihm, dass ich noch an einer Rede schreiben muss.“ | |
| Worauf ihr Gegenüber entgegnete: „Ach, macht das der Chef nicht selbst?“ | |
| Sie nimmt solche Momente mit Humor. „Ich sehe das entspannt.“ Unangenehm | |
| sei es wohl eher für den Kollegen gewesen. „Der hat das erst gar nicht | |
| realisiert“, meint sie. Solange Junge im Bundestag in der Minderheit seien, | |
| passiere so etwas, glaubt sie. Dass sie zudem nicht in Hosenanzug oder | |
| Kostüm rumläuft, irritiere manche ebenfalls. „Diese Spießigkeit ist nicht | |
| meins.“ | |
| ## Notfalls schwingt sie die Glocke | |
| Jensen, die unter anderem Internationale Politik und Anglistik studiert | |
| hat, ist zugleich Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im Bundestag. | |
| Gewalt gegen Homosexuelle, Genitalverstümmelung von Frauen in Afrika – es | |
| sind Themen, die auch viele andere junge Menschen ihrer Meinung nach | |
| beschäftigen. Ob sie idealistisch ist? Unbedingt. „Wenn junge Menschen | |
| nicht Idealen folgten, wäre das fatal.“ | |
| Im Ausschuss muss sie auch Führung zeigen. Hier sitzen ihr vor allem ältere | |
| Männer gegenüber. Anfangs sei das schon komisch gewesen, doch inzwischen | |
| gebe es keine Probleme. Und wenn ihr im Ausschuss doch mal jemand ins Wort | |
| fällt? „Dann habe ich meine große Glocke“, sagt Jensen und muss schmunzel… | |
| Sie meint die Glocke, mit der sie als Ausschussvorsitzende im Notfall zur | |
| Ruhe bimmeln kann. | |
| Nicht nur der Bundestag, auch sonst hat die klassische Politik ein | |
| Nachwuchsproblem. Unter Parteimitgliedern finden sich viele Grauhaarige. | |
| So lag das Durchschnittsalter der Mitglieder von SPD und CDU Ende 2017 bei | |
| 60. Die Grünen sind da mit 50 fast Jungspunde. Die Lokalpolitik ist | |
| ebenfalls eher von der Generation 40 plus dominiert. | |
| ## Kurztrip in den Burnout | |
| Eine Ausnahme hiervon konnte man vor einigen Jahren ganz im Osten des | |
| Landes besichtigen. Im brandenburgischen Forst, einer Kleinstadt direkt an | |
| der polnischen Grenze, wurde Philipp Wesemann mit 25 Jahren zum | |
| Bürgermeister gewählt – bei seinem Amtsantritt im Frühjahr 2015 war er der | |
| jüngste hauptamtliche Rathauschef Deutschlands. | |
| Allerdings sollte der Ausflug des jungen Sozialdemokraten in die | |
| Lokalpolitik nur ein Kurztrip werden. Denn nach knapp zwei Jahren trat er | |
| zurück. Burn-out. | |
| Heute, anderthalb Jahre nach seinem Rücktritt, sitzt er in einem Café | |
| unweit der Berliner Friedrichstraße. Der heute 29-Jährige trägt Hemd, | |
| dunkelblondes Haar, Dreitagebart. Vor ihm steht eine große Tasse Kaffee. Er | |
| wirkt mit sich im Reinen. Vom einstigen Druck ist nichts mehr zu spüren. | |
| Dieser kam damals von allen Seiten: von der eigenen Verwaltung, dem | |
| Stadtparlament, der Bevölkerung. „In den ersten Monaten hatte ich kein | |
| freies Wochenende“, sagt er. Manche Wochen habe er 80 Stunden gearbeitet. | |
| Auftritte bei der Feuerwehr, der Landesrammlerschau. Und dann die | |
| Büroarbeit. „Ich war nur noch am Rotieren“, sagt er. | |
| ## Fehler vermeiden helfen | |
| Irgendwann hielt er es auch gesundheitlich nicht mehr aus. Am Ende | |
| schleppte ihn sein Freund zum Arzt, der ihn krankschrieb. | |
| Hat er die Aufgabe unterschätzt? Ganz sicher, sagt Wesemann. „Ich hätte | |
| viel mehr kommunizieren müssen.“ Mit den anderen Fraktionen, mit den | |
| eigenen Mitarbeitern. Er erzählt, wie er einmal versäumte, den | |
| Mitarbeitern in seiner Verwaltung, vorwiegend Frauen, zum Internationalen | |
| Frauentag eine Glückwunschmail zu schicken. Dabei hatte ihm niemand gesagt, | |
| dass das Usus war. Vom Personalrat bekam er trotzdem eine Rüge. | |
| Dabei war es noch nicht einmal so, dass er mit allzu progressiven Themen | |
| angetreten wäre. „Ich hatte eine sehr realistische Sicht auf alles“, sagt | |
| Wesemann. Von einzelnen Projekten wie der Gründung eines Jugendbeirats | |
| abgesehen, ging es vor allem um klassische Kommunalthemen: Mittelstand | |
| stärken, Stadtentwicklung fördern, etc. „Damit hätte auch jemand mit Mitte | |
| vierzig antreten können“, sagt er. | |
| Sein politisches Interesse hat Wesemann durch seine ernüchternde Erfahrung | |
| nicht verloren. Noch immer engagiert er sich für die SPD auf Lokalebene. | |
| Zugleich berät der gelernte Biologielaborant zurzeit Kandidaten für die | |
| Landtagswahl im Spätsommer. „Ich will nicht, dass andere die gleichen | |
| Fehler machen wie ich“, sagt er. | |
| ## Kein Bock auf verkrustete Strukturen | |
| Dass Menschen wie Wesemann in der klassischen Politik eine Rarität sind, | |
| lädt zu Missverständnissen ein. Denn es ist mitnichten so, dass die Jugend | |
| politisch uninteressiert wäre. Im Gegenteil: Die [2][„Fridays for | |
| Future“-Demos] für mehr Klimaschutz offenbaren dies. | |
| Auch die jüngste Shell-Jugendstudie kam zu dem Ergebnis, dass das | |
| politische Interesse unter den Jungen in letzter Zeit eher zugenommen hat. | |
| Nur: Statt in Parteien bringen sich Junge lieber projektbezogen ein. | |
| „Die eher verkrusteten Strukturen in Parteien schrecken viele junge | |
| Menschen ab“, sagt Thorsten Faas, Politikwissenschaftler an der FU Berlin. | |
| Viele hätten kein Interesse, sich langfristig zu binden – eine Entwicklung, | |
| mit der auch Sportvereine und Kirchen zu kämpfen haben. | |
| Für die Jungen gilt daher: Lieber eine Petition unterzeichnen oder zur Demo | |
| gehen, als sich im Kleinklein der Parteien zu verlieren. | |
| ## Nicht ernst genommen | |
| Sich für ein Thema richtig reinhängen, das tut auch Carla Reemtsma. Die | |
| 21-Jährige studiert in Münster Politik und Wirtschaft, ihren Hauptjob sieht | |
| sie aktuell aber eher als Klimaaktivistin. In der westfälischen Stadt ist | |
| sie Organisatorin der „Fridays for Future“-Bewegung. Jeden Freitag geht sie | |
| dort mit vielen anderen Schülern und Kommilitonen auf die Straße, um für | |
| konsequenteren Klimaschutz zu demonstrieren. | |
| Gerade ist die Studentin bei ihren Eltern in Berlin zu Besuch, weshalb sie | |
| nun in einem Café in der Stadt sitzt. Reemtsma, blonde Haare, rot-blauer | |
| Strickpulli, hat sich schon in ihrer Schulzeit als Klassen-und | |
| Schülersprecherin eingebracht. „Ich habe schon als Kind alles hinterfragt“, | |
| erzählt sie. | |
| Als sie vor drei Jahren ihr Studium begann, knüpfte sie daran an – zum | |
| Beispiel als Jugendbotschafterin der Lobbyorganisation ONE, die sich für | |
| Armutsbekämpfung in Afrika einsetzt. Reemtsma glaubt, dass Ungerechtigkeit | |
| viele ihres Alters umtreibt. „Wir leben in so einem privilegierten Land und | |
| es gibt so viele strukturelle Ungleichheiten.“ Sie tritt auch für | |
| Antirassismus und Feminismus ein. | |
| In der Anfangszeit der Klimademos fühlte sich Reemtsma nicht ernst | |
| genommen. „Erst hieß es: Alles Schulschwänzer. Dann: Alles Utopisch“, sagt | |
| sie. Dabei hält sie die Forderungen, die ihre Bewegung stellt, überhaupt | |
| nicht für naiv. „Wir stellen doch gar keine utopischen Forderungen“, sagt | |
| sie. | |
| ## Die Stunde der Jungen | |
| Viele Politiker hätten einfach nicht verstanden, dass die Zeit dränge, | |
| meint sie. Dass das Thema Klimawandel nun bei der Europawahl derart | |
| entscheidend war, sieht sie klar als Verdienst ihrer Bewegung. | |
| Ob sie sich auch ein Partei-Engagement vorstellen kann? Schließlich, das | |
| sagt Politikwissenschaftler Thorsten Faas, sei es wohl als junger Mensch | |
| noch nie einfacher gewesen, in einer Partei zu reüssieren. | |
| „Leute wie Juso-Chef Kevin Kühnert machen es vor“, sagt Faas. Für später | |
| will Carla Reemtsma das nicht ausschließen. Aber aktuell sei es für sie | |
| keine Option. „Ich habe das Gefühl, da geht es vor allem um Sonntagsreden | |
| und Machtspielchen“, sagt sie. | |
| So gesehen dürfte es für die meisten jungen Menschen im Bundestag vorerst | |
| nur bei der Zuschauerrolle bleiben. Zumindest dann, wenn nicht gerade | |
| Freitag ist – und der Klimawandel auf die Straße ruft. | |
| 4 Jun 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Daniel Godeck | |
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