| # taz.de -- Klimaschutz in Berlin: Höchste Zeit für eine Wende | |
| > Klimaschutz ist das Thema der Stunde, auch dank der DemonstrantInnen von | |
| > „Fridays for Future“. Sie fordern radikales Umsteuern. Was macht der | |
| > Senat? | |
| Bild: Sollten keine Luftnummer bleiben: erneuerbare Energien in Berlin | |
| Ein paar Kilometer südlich der Berliner Stadtgrenze, zwischen der | |
| Justizvollzugsanstalt Heidering, dem Mercedes-Werk Ludwigsfelde und der | |
| Golf-Range Großbeeren, erzeugt ein kleiner Windpark seit Jahren saubere | |
| Energie. Drei Räder erheben sich auf einer ovalen, von einer | |
| Schienenschleife umschlossenen Brache, dazwischen stehen | |
| Photovoltaikpanels. Seit März 2018 dreht sich jenseits der Bahngleise ein | |
| viertes Rad, das von einem neuen Player auf dem Energiemarkt betrieben | |
| wird: den Berliner Stadtwerken. Die Anlage des Herstellers Vestas ist mit | |
| Flügeln 200 Meter hoch und versorgt rechnerisch rund 3.800 Haushalte mit | |
| Ökostrom. | |
| War’s das schon? Nein: Ihr Windrad bei Großbeeren sei „mehr als nur ein | |
| Ökokraftwerk“, verkündeten die landeseigenen Stadtwerke bei der | |
| Inbetriebnahme stolz. „Es ist die Möglichkeit für BürgerInnen, Teil der | |
| Energiewende zu werden und davon zu profitieren.“ Denn im Rahmen eines | |
| [1][„Klimarendite“ genannten Finanzierungsmodells] bekamen diese | |
| BürgerInnen die Gelegenheit, Anteile zu kaufen, die mit 1,75 Prozent | |
| jährlich – für Stadtwerke-KundInnen sogar 2,25 Prozent – eine in diesen | |
| Zeiten fast schon beträchtliche Rentabilität boten. | |
| Allein, die Leute kauften nicht. Oder jedenfalls viel zu wenige: Nach Ende | |
| der einjährigen Zeichnungsfrist hatten allem Zielgruppen-Marketing zum | |
| Trotz nur 349 AnlegerInnen Anteile im Wert von 1,35 Millionen Euro | |
| erworben, deutlich weniger als ein Drittel der benötigten Summe von 4,7 | |
| Millionen Euro. Den Rest müssen die Stadtwerke sich nun bei der Bank | |
| besorgen – was grundsätzlich kein Problem ist, aber der AfD im | |
| Abgeordnetenhaus eine Steilvorlage lieferte. Auf deren Anfrage hin musste | |
| die Wirtschaftsverwaltung einräumen, dass die glanzlose Bürgerbeteiligung | |
| inklusive der damit verbundenen Werbemaßnahmen das Land rund 230.000 Euro | |
| extra gekostet hat. | |
| Energiewende, sauberer Strom, Klimaschutz – ist das den BerlinerInnen egal? | |
| Das Beispiel Stadtwerke könnte diese Annahme nahelegen, auch beim Blick auf | |
| seine sonstigen Zahlen: Obwohl das einst als „Bonsai“ verspottete | |
| Unternehmen vom rot-rot-grünen Senat mit frischem Kapital aufgepäppelt | |
| wurde, dümpelt es mit derzeit rund 11.600 KundInnen weiterhin in einer | |
| unteren Liga. „Wir liegen deutlich hinter den Erwartungen, aber es geht | |
| aufwärts“, sagt Sprecher Stephan Natz mit Zweckoptimismus. Tatsächlich | |
| konnten nur 14,2 der im Jahr 2018 erzeugten 46,4 Gigawattstunden (GWh) an | |
| eigene EndkundInnen verkauft werden. Und das, obwohl die regional | |
| produzierte Power aus Wind und Sonne billiger ist als der Mischstrom von | |
| Platzhirsch Vattenfall. | |
| ## Paradoxes Verhalten? | |
| Ganz schön paradox – wenn man sieht, mit welcher Inbrunst gleichzeitig die | |
| von SchülerInnen und Studierenden getragene Fridays-for-Future-Bewegung | |
| immer wieder Zehntausende mobilisieren kann, um gegen den völlig normalen | |
| CO2-Wahnsinn zu demonstrieren. Auch für den Freitag vor den Wahlen zum | |
| Europaparlament, bei denen der Klimaschutz mittlerweile zum Topthema | |
| aufgestiegen ist, [2][luden die jungen AktivistInnen wieder zur Großdemo am | |
| Brandenburger Tor]. | |
| Mittlerweile haben die Jungen Unterstützung von einem neuen Bündnis | |
| bekommen, das die Berliner Politik zu einer radikalen Anpassung ihrer | |
| Klimaziele und zum schnellstmöglichen Handeln zwingen will: Die | |
| [3][Volksinitiative „Klimanotstand Berlin“] will einen solchen ganz | |
| offiziell ausrufen lassen und sammelt dafür zurzeit Unterschriften. Wenn | |
| sie bis Mitte August 20.000 Stück zusammenhat, erwirbt sie damit das von | |
| der Verfassung verbriefte Recht, ihr Thema in die Plenardebatte des | |
| Abgeordnetenhauses und in dessen Ausschüsse zu tragen. | |
| Die Sammlung ist sehr gut gestartet“, sagt Initiator Marko Dörre nach drei | |
| Wochen, „die Listen werden uns schier aus den Händen gerissen.“ Dass | |
| „Klimanotstand“ als Begriff keine rechtliche Relevanz hat, räumt Dörre ei… | |
| es gehe aber darum, mit einem Symbol Druck zu erzeugen, so wie es andere | |
| Städte bereits vorgemacht haben. Und: „Regine Günther hat sich vor Kurzem | |
| zum ersten Mal hingestellt und gesagt: ‚Wir haben eine Klimakrise.‘ Das war | |
| eine Reaktion auf uns“, sagt Dörre mit Blick auf die Grünen-nahe Senatorin | |
| für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz. | |
| Aus Sicht von Dörre und seinen MitstreiterInnen ist es für das Klima kurz | |
| vor knapp. Wenn man das 2015 in Paris völkerrechtlich verbindlich | |
| festgesetzte Ziel noch erreichen wolle, die globale Erwärmung unter der | |
| Marke von 1,5 Grad zu halten, müsse eine Stadt wie Berlin ihren CO2-Ausstoß | |
| radikal zurückfahren. Nicht bis zum Jahr 2050 um 85 Prozent gegenüber den | |
| Emissionen von 1990, wie es im Berliner Energiewendegesetz steht, nein: auf | |
| „nettonull“ bis spätestens 2035. Das legten die neuesten wissenschaftlichen | |
| Erkenntnisse nahe. | |
| Auch Volker Quaschning, Professor am Fachbereich Regenerative Energien der | |
| Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin, geht davon aus, dass | |
| „Deutschland und damit auch Berlin eine Klimaneutralität bis 2035 | |
| anstreben“ müssen, um die Ziele von Paris zu erfüllen. Unternimmt denn | |
| Rot-Rot-Grün wenigstens genug, um seine nicht ganz so ambitionierten | |
| eigenen Ziele zu erreichen? „Definitiv nein“, so Quaschning zur taz. „Mit | |
| dem derzeitigen Rückgang der CO2-Emissionen hat Berlin keine Chance, in den | |
| nächsten 50 Jahren klimaneutral zu werden, geschweige denn im Jahr 2035.“ | |
| ## Photovoltaik auf alle Dächer | |
| Was müsste das Land tun, um eine echte Klimawende hinzubekommen? Im | |
| Gegensatz zur Volksinitiative, die sich eher bedeckt hält und Lösungen von | |
| der Politik einfordert, hat Quaschning ganz konkrete Vorstellungen. Zwar | |
| könne sich eine Stadt wie Berlin nie autark mit regenerativen Energien | |
| versorgen, sie habe jedoch ein gewaltiges unausgeschöpftes Potenzial: | |
| „Werden alle geeigneten Dächer genutzt, kann die Photovoltaik einen Anteil | |
| von bis zu 30 Prozent des künftigen Strombedarfs decken.“ Nutze man die | |
| Dächer nicht, müssten im Umland „zusätzliche große Erzeugerkapazitäten“ | |
| entstehen. Das würde die „Akzeptanz der Energiewende deutlich erschweren“. | |
| Die wachsenden Windparks sind bei vielen verhasst, und auch endlose Felder | |
| von Photovoltaikpanels sind nicht unbedingt eine Augenweide. | |
| Dem Wissenschaftler schweben auch eine Citymaut und hohe Parkplatzgebühren | |
| vor, mit deren Einnahmen ein massiver Ausbau von Radverkehr und des ÖPNV | |
| finanziert werden kann. Fahrzeuge, die mit fossilem Diesel oder Benzin | |
| angetrieben werden, dürften ab spätestens 2035 gar nicht mehr in der Stadt | |
| unterwegs sein. All das zu verwirklichen, „wird am Ende nur mit | |
| ordnungsrechtlichen Maßnahmen gelingen können“, sagt Quaschning. Klingt | |
| ziemlich vernünftig und gleichzeitig komplett utopisch. | |
| Aber was tut der Senat? Mit Sicherheit nicht nichts: „Wir haben für Berlin | |
| den kompletten Kohleausstieg bis 2030 gesetzlich beschlossen“, betont Jan | |
| Thomsen, der Sprecher von Klimaschutz-Senatorin Günther. Die | |
| Machbarkeitsstudie, mit der das Land und Vattenfall erkunden wollen, wie | |
| die drei großen Berliner Steinkohlekraftwerke Reuter, Reuter West und | |
| Moabit klimafreundlich ersetzt werden können, ist allerdings immer noch in | |
| Arbeit. Thomsen verweist auch auf das [4][Berliner Energie- und | |
| Klimaschutzprogramm 2030 (BEK)]. Mit ihm habe Rot-Rot-Grün sich „ehrgeizige | |
| Ziele gesetzt, um die Hauptstadt mit 100 Maßnahmen im Umfang von insgesamt | |
| 100 Millionen Euro langfristig klimagerecht zu machen“. | |
| Tatsächlich geschieht überall etwas, wobei vieles sich noch in der | |
| Vorbereitungsphase befindet. Ein Masterplan Solar City ist in der Mache, | |
| die energetische Dämmung von Gebäuden und der Austausch von Ölheizungen | |
| sollen verstärkt gefördert werden. In der Verkehrspolitik steht die | |
| Elektrifizierung der BVG-Busflotte ganz oben auf der To-do-Liste, sie soll | |
| bis 2030 abgeschlossen sein. | |
| Das Mobilitätsgesetz privilegiert die klimafreundlichen Verkehrsmittel, | |
| hier wird die Umsetzung allerdings viele Jahre benötigen. Damit der nicht | |
| mehr vermeidbare Klimawandel möglichst glimpflich vonstattengeht, sollen | |
| ein „1.000-Grüne-Dächer-Programm“ und die 2018 gegründete | |
| „Regenwasseragentur“, aber auch der Waldumbau und die Investition in mehr | |
| Straßenbäume für eine Verbesserung des Mikroklimas sorgen. | |
| ## Freier denken! | |
| Schön und gut – aber aus Sicht der KlimaaktivistInnen reicht das alles | |
| hinten und vorne nicht. Von anderen massiven CO2-Quellen wie dem boomenden | |
| Flugverkehr ganz zu schweigen: Hier ist der Senat heilfroh, wenn das | |
| BER-Debakel 2020 wirklich überwunden werden sollte, [5][über eine | |
| Begrenzung der steil ansteigenden Passagierzahlen wird zumindest derzeit | |
| nicht nachgedacht]. | |
| Etwas freier denkt da Georg Kössler, klimaschutzpolitischer Sprecher der | |
| Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus: „Es heißt jetzt immer, den BER | |
| erwarteten Kapazitätsprobleme. Die können wir ganz einfach lösen, indem wir | |
| keine Inlandsflüge mehr zulassen oder sie stark verteuern“, sagt er zur | |
| taz. Auch beim Autoverkehr ist er ganz nah an Volker Quaschnings Ideen: Er | |
| könne sich gut vorstellen, dass die Einfahrt für Pkws mit Verbrennungsmotor | |
| in die Umweltzone ab 2030 verboten würde, so Kössler. | |
| Für derart radikale Maßnahmen bräuchte er natürlich die Unterstützung | |
| seiner eigenen Partei und auch die der Koalitionspartner. Erstere hat sich | |
| durchaus bereits bewegt: Auf ihrem letzten Landesparteitag sprachen sich | |
| die Grünen für eine Pflicht zur Ausstattung aller Neubauten mit | |
| Solaranlagen aus, egal ob der Bauherr öffentlich oder privat ist. Ein | |
| Beschluss, der laut Kössler „weit über den Koalitionsvertrag hinausgeht“. | |
| Er sei für das weitere Regieren mit SPD und Linker ein „Knackpunkt“. | |
| Tatsächlich war vor Kurzem bekannt geworden, dass auf keinem einzigen der | |
| aktuellen Schulneubauten Photovoltaik installiert wurde. In der links | |
| geführten Senatsverwaltung für Stadtentwicklung hatte man die potenzielle | |
| Rendite des damit erzeugten Stroms für zu klein befunden. | |
| In der 2017 von den drei Parteien unterzeichneten Regierungsvereinbarung | |
| heißt es, man strebe eine „ambitionierte Umsetzung des Pariser | |
| Klima-Abkommens“ an. Für Kössler heißt das, dass die noch unter Rot-Schwarz | |
| beschlossenen und eigentlich obsoleten CO2-Reduktionsziele des | |
| Energiewendegesetzes verschärft werden müssen. Im Übrigen glaubt der | |
| Grünen-Politiker, dass seine Partei damals „härter verhandelt“ hätte, we… | |
| ihr die Dramatik des Themas so bewusst gewesen wäre wie heute. | |
| Den Schwung, der durch die Fridays-for-Future-Demos entstanden ist, will | |
| Kössler produktiv nutzen: „Das war ein Arschtritt, aber die Zeit der | |
| Trippelschritte ist jetzt eben vorbei.“ Ja, das Berliner Energie- und | |
| Klimaschutzprogramm 2030 mit seinen vielfältigen Maßnahmen sei „super“ und | |
| Rot-Rot-Grün habe auch schon eine Menge Geld für den Klimaschutz | |
| bereitgestellt. „Aber wir können nicht länger sagen, in dieser | |
| Legislaturperiode werden nur Strukturen aufgebaut und i„Mama, das ist jetzt | |
| unsere Demo!“n der nächsten wird gehandelt.“ | |
| Die Frage bleibt, warum so viele Menschen, denen der Klimaschutz eigentlich | |
| am Herzen liegt, so wenig tun, wenn es konkret damit wird. Sei es die | |
| Veränderung von Essgewohnheiten, die ganz persönliche Mobilitätswende oder | |
| eben der – kinderleichte – Umstieg auf regionalen Ökostrom. Zumindest was | |
| das Windrad in Großbeeren angeht, hat Stadtwerke-Sprecher Natz eine | |
| Theorie: „Vielleicht fehlt es hier in der Großstadt noch an Identifikation. | |
| Anderswo, in Baden-Württemberg etwa, funktioniert dieses Beteiligungsmodell | |
| hervorragend, da gehen die Leute unter ihrem Windrad picknicken.“ | |
| So lange kann das Klima wohl nicht mehr warten. Ein Picknick unter dem | |
| eigenen Photovoltaikpanel wäre schon mal ein guter Anfang. | |
| 25 May 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.klimarendite.de/ | |
| [2] /Fridays-for-Future/!5595001 | |
| [3] https://klimanotstand.berlin/ | |
| [4] https://www.berlin.de/senuvk/klimaschutz/bek_berlin/ | |
| [5] /Interview-mit-Ramona-Pop/!5595070 | |
| ## AUTOREN | |
| Claudius Prößer | |
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