# taz.de -- Lehrkräftemangel in Sachsen-Anhalt: Darf’s ein Stündchen mehr s… | |
> Weil in Sachsen-Anhalt so viel Unterricht ausfällt, müssen | |
> Lehrer:innen dort künftig länger unterrichten. Dagegen regt sich | |
> Widerstand. | |
Bild: Volle Klassenzimmer – heute wie damals: Die erste Klasse einer Grundsch… | |
BERLIN taz | Es rumort in Sachsen-Anhalt. Zumindest an den gut 800 Schulen | |
im Land. Weil in den vergangenen Monaten so viel Unterricht ausgefallen ist | |
wie nie, greift die schwarz-rot-gelbe Landesregierung nun zu einem | |
drastischen Mittel. | |
Ab Mitte Februar, nach den Winterferien, sollen alle Lehrkräfte eine Stunde | |
mehr pro Woche unterrichten. Eine entsprechende Verordnung will die | |
Koalition jetzt auf den Weg bringen. Das kündigte Bildungsministerin Eva | |
Feußner (CDU) am Dienstagnachmittag nach einer Kabinettssitzung an. | |
Rechtlich verbindlich soll die Maßnahme ab März sein – und für fünf Jahre | |
gelten. | |
Für Lehrkräfte unter 62 Jahren heißt das: Wer an einer Grundschule | |
arbeitet, muss bald 28 statt 27 Stunden die Woche ableisten, an | |
Sekundarschulen und Gymnasien sind es 26 statt 25. Die Mehrarbeit soll zwar | |
vergütet oder auf einem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben werden, dennoch | |
lehnen Opposition und Lehrer:innenschaft den Beschluss ab. Die | |
Bildungsgewerkschaft GEW hat zu [1][Protesten im Februar] in Halle und | |
Magdeburg aufgerufen. | |
Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) dagegen hält die Maßnahme für | |
unvermeidlich. „Überall fehlen Lehrerinnen und Lehrer, überall fallen | |
Stunden aus“, begründet Haseloff die Aufstockung. Mit ihr glaubt er die | |
Personalnöte der Schulen – dem Land fehlen aktuell 1.000 Lehrkräfte – zur | |
Hälfte kompensieren zu können. | |
## Ziehen die anderen Länder nach? | |
Sachsen-Anhalt ist damit das erste Bundesland, das seine Lehrkräfte wegen | |
des akuten Personalmangels zu Mehrarbeit verdonnert. Und möglicherweise | |
nicht das letzte. Vergangenen Freitag hat ein Expertengremium aus 16 | |
Bildungsforscher:innen – die Ständige Wissenschaftliche Kommission, | |
kurz SWK – den Ländern [2][eine Reihe von zeitlich befristeten | |
„Notmaßnahmen“ empfohlen]. Darunter die „maßvolle Aufstockung der | |
Arbeitszeit aller teilzeitbeschäftigten Lehrkräfte“ sowie die Erhöhung der | |
Unterrichtsverpflichtung. Weil die Hälfte aller Lehrkräfte bundesweit in | |
Teilzeit arbeitet, sieht die SWK hier das größte Potenzial, um den | |
Unterricht bei anhaltendem Fachkräftemangel zu decken. | |
Auch die Bildungsminister:innen wissen, dass sie mit | |
[3][Quereinsteiger:innen, Studierenden und Pensionären] allein nicht mehr | |
weiterkommen. Aktuell bilden die Länder 18 Prozent weniger Lehrkräfte aus, | |
als sie benötigen. Und [4][trotz steigender Studienplätze] nimmt die Zahl | |
derer, die auf Lehramt studieren, seit Jahren ab: seit 2013 um ganze 13 | |
Prozent. | |
Deshalb forderte die Präsidentin der Kultusministerkonferenz Astrid-Sabine | |
Busse (SPD) die Hochschulen auf, mehr Studierende „zu einem erfolgreichen | |
Abschluss“ zu führen. Busse machte aber klar, dass es damit nicht getan | |
sei. Es werde „offensichtlich, dass es nicht das eine Wundermittel gegen | |
den Fachkräftemangel gibt, sondern dass wir an mehreren Stellschrauben | |
drehen müssen“. | |
Welche das sein werden, prüfen die Ministerien derzeit. Nur die | |
Linkenpolitikerin Simone Oldenburg hat bislang für ihr Bundesland | |
Mecklenburg-Vorpommern eine Mehrarbeit für Lehrer:innen ausgeschlossen. | |
„Eine Verschlechterung der Unterrichts- und Arbeitsbedingungen führt auf | |
Dauer zu noch größerem Lehrermangel“, teilte Oldenburg am Montag mit. | |
## Scharfe Kritik von der GEW | |
Diesen Schluss zieht auch die Vorsitzende der GEW Sachsen-Anhalt, Eva | |
Gerth. „Die Landesregierung vergrault mit diesem Zwang alle, die das System | |
trotz hoher Belastung seit Jahren am Laufen halten“, sagt Gerth zur taz. | |
Mit Freiwilligkeit komme man da aus ihrer Sicht weiter. Schon jetzt könnten | |
sich Lehrkräfte pro Woche bis zu vier Vertretungsstunden anrechnen lassen. | |
Tausende bezahlte Überstunden kämen so landesweit im Jahr zusammen. Dieses | |
Engagement sieht Gerth nun gefährdet. | |
Auch wegen der Art und Weise, wie die Landesregierung mit den Betroffenen | |
umspringe. Auf dem Bildungsgipfel, zu dem Ministerpräsident Haseloff Ende | |
Januar geladen hatte, seien die übrigen Akteure zum Publikum degradiert | |
worden. „Der Ministerpräsident hat uns mit der Entscheidung konfrontiert, | |
einen Dialog gab es dazu nicht“. | |
Tatsächlich hat Haseloff direkt im Anschluss an das Treffen bereits die | |
Pläne seiner Regierung vorgestellt. Neben der Mehrarbeit für | |
Lehrer:innen sollen stufenweise auch das Gehalt der | |
Grundschullehrer:innen angehoben werden und die Schulen Extrabudgets | |
für Aushilfskräfte erhalten. Mit diesen Maßnahmen wolle er den | |
Unterrichtsausfall „in Richtung null schieben“. | |
Nach Angaben der Landesregierung liegt die Unterrichtsversorgung in | |
Sachsen-Anhalt aktuell bei nur mehr 92 Prozent – ein historischer | |
Tiefstand. An manchen Schulen kann sogar nur mehr die Hälfte des | |
vorgesehenen Unterrichts stattfinden, teilte die Landesregierung im | |
Dezember auf eine [5][Kleine Anfrage der Linksfraktion] im Landtag mit. | |
## Landschulen trifft es hart | |
Die Zahlen machen Thomas Lippmann fassungslos. „In manchen Regionen wie | |
Börde oder der Altmark liegt die Unterrichtsversorgung bereits unter 90 | |
Prozent“, sagt der bildungspolitische Sprecher der Linksfraktion im | |
Gespräch mit der taz. Vor allem an den Sekundarschulen herrsche wegen des | |
Personalmangels „Endzeitstimmung“. Heute räche sich, dass das Land die | |
Lehramtsausbildung in der Vergangenheit [6][radikal zusammengestrichen] | |
habe. 1.000 Lehrkräfte brauche das Land im Jahr – nur etwa 300 bis 350 | |
kommen von den eigenen Hochschulen nach. Laut Lippmann also ein | |
hausgemachtes Problem. | |
Die nun beschlossene Mehrarbeit sei ein Affront gegen die Lehrkräfte, die | |
schon jetzt die fehlenden Kolleg:innen auffangen – und sozial ungerecht. | |
In Halle beispielsweise ist die Versorgung an vielen Schulen sichergestellt | |
– auf dem Land hingegen können die Kollegien die Lücken auch mit einer | |
Stunde Mehrarbeit nicht schließen. Laut Bildungsministerin Feußner ist das | |
Ziel, Gymnasiallehrer:innen auch an die Schulen abzuordnen, wo der | |
Bedarf besonders hoch ist. Lippmann hingegen kann sich schwer vorstellen, | |
dass die angeordneten Mehrstunden tatsächlich vor der Klasse landen – er | |
tippt eher auf den Krankenschein. | |
Eine bundesweite Umfrage im Auftrag der Gewerkschaft VBE unter 1.300 | |
Schulleiter:innen unterstützt Lippmanns Vermutung. So berichteten 2021 | |
die Hälfte der Schulen von mehr krankheitsbedingten längeren Ausfällen, | |
deutlich mehr als noch 2019. Gleichzeitig sah sich nicht mal mehr jede:r | |
vierte Schulleiter:in in der Lage, für die Gesundheit ihres Kollegiums | |
zu sorgen. | |
Auch die jährlichen Umfragen des „[7][Schulbarometers]“ zeigen, wie stark | |
die Arbeitsbelastung für Lehrkräfte in den vergangenen Jahren gestiegen | |
sind. Die SWK hat in ihren Empfehlungen deshalb auch unterstrichen, dass | |
die Länder die Gesundheitsvorsorge für ihr Personal intensivieren müssen. | |
## Keine Alternative? | |
Doch wie das alles gleichzeitig funktionieren kann, wenn die überlasteten | |
Lehrkräfte jetzt noch mehr leisten sollen, ist die große Frage. | |
Sachsen-Anhalts Bildungsministerin geht darauf nicht wirklich ein. „Ich | |
weiß, dass unsere Entscheidung vonseiten der Lehrerschaft sehr kritisch | |
gesehen wird“, sagte sie. Allerdings handle es sich nicht um eine Erhöhung | |
der Arbeitszeit. | |
Die zu viel gearbeiteten Stunden könnten die Lehrkräfte später wieder | |
abbauen. Feußner betonte, dass Sachsen-Anhalt mit den zusätzlichen Stunden | |
im bundesweiten Mittel läge – und dass die sogenannte Vorgriffsstunde nur | |
eine von vielen Maßnahmen gegen den Personalmangel sei. | |
Gewerkschafterin Gerth bezweifelt dennoch, dass der Landesregierung die | |
Trendwende gelingt. Für zusätzliche Assistenzkräfte seien landesweit gerade | |
mal 50 Stellen ausgeschrieben – bei mehr als 800 Schulen. Und für die | |
Gehaltserhöhung an Grundschulen gebe es noch keinen Zeitplan. Insgesamt | |
denke die Landesregierung zu klein: Ein gutes Beispiel dafür seien die | |
Stipendien für angehende Lehrer:innen, die die Bildungsministerin kurz vor | |
Weihnachten angekündigt hat. | |
Wer sich verpflichtet, später ein paar Jahre an einer Schule auf dem Land | |
zu unterrichten, erhält während des Studiums 600 Euro pro Monat. Ein | |
Lockmittel, das auch Brandenburg und Sachsen einsetzen. Nur: Reichen 25 | |
solcher Stipendien pro Semester, wenn der Personalmangel im vierstelligen | |
Bereich liegt? | |
## Hohe Abbrecherquoten | |
Vor allem an der Uni Halle, an der der Löwenanteil der Lehrkräfte | |
ausgebildet wird, schließt nicht mal mehr jede:r Zweite sein Studium ab – | |
Ziel sind jedoch 75 Prozent. Selbst Uni-Rektoren fordern, mehr | |
Fächerkombinationen beim Lehramt zuzulassen und den Seiteneinstieg weiter | |
zu öffnen. Zu diesen Schritten hat sich die Koalition bislang noch nicht | |
entschlossen. | |
„Die Landesregierung“, fasst die bildungspolitische Sprecherin der | |
Grünen-Landtagsfraktion Susan Sziborra-Seidlitz zusammen, „scheint nicht zu | |
erkennen, dass die Hauptursache des Lehrkräftemangels die fehlende | |
Attraktivität des Lehrberufs in Sachsen-Anhalt ist“. | |
Mit einer von oben verordneten Extrastunde, da sind sich viele | |
Beobachter:innen einig, dürfte der Job nicht attraktiver werden. | |
31 Jan 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.gew-sachsenanhalt.net/aktuelles/detailseite/hoch-mit-der-bildun… | |
[2] /Teilzeitquote-an-Schulen/!5908091 | |
[3] /Arbeitsbelastung-von-Lehrkraeften/!5909028 | |
[4] /Studie-zu-Lehrerinnenmangel/!5900697 | |
[5] https://www.dielinke-fraktion-lsa.de/fileadmin/user_upload/Anlagen__KA_8-11… | |
[6] /Rektor-der-Uni-Magdeburg-ueber-Sparkurs/!5849515 | |
[7] https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/herausforderungen-schulleitu… | |
## AUTOREN | |
Ralf Pauli | |
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