# taz.de -- Dramatischer Lehrermangel: Auf dem Rücken der Lehrer | |
> Mit den kürzlich vorgeschlagenen Maßnahmen werden die Bundesländer das | |
> Problem des Lehrkräftemangels nicht lösen. Weder jetzt noch in zehn | |
> Jahren. | |
Bild: Lehrer:innen sind nicht einverstanden: Proteste der GEW in Berlin am 7. F… | |
Mit Spannung waren sie erwartet worden, die „Empfehlungen zum Umgang mit | |
dem akuten Lehrkräftemangel“ der Ständigen Wissenschaftliche Kommission | |
(SWK). Doch für Lehrkräfte, die immer häufiger über der Belastungsgrenze | |
arbeiten und täglich die Folgen des Lehrkräftemangels erleben, sind die | |
vorgeschlagenen Maßnahmen ein Schlag ins Gesicht. Die zentralen | |
Empfehlungen der SWK – Einschränkung von Teilzeitarbeit, Erhöhung der | |
Unterrichtsverpflichtung und Möglichkeiten für längeres Arbeiten im Alter – | |
lassen sich in einem Satz zusammenfassen: Lehrer*innen sollen halt mehr | |
arbeiten. Und dann ’nen Yoga- oder Achtsamkeitskurs als Ausgleich machen, | |
falls es durch die Mehrarbeit zu stressig wird. Nichts gegen Maßnahmen zur | |
Gesundheitsförderung. Aber hier werden sie zur Rechtfertigung von | |
[1][individueller Mehrarbeit in Zeiten des strukturellen Problems] | |
Lehrkräftemangel missbraucht. Neoliberalismus at its best. | |
Die Vorschläge der SWK sind vor allem auch deshalb eine Enttäuschung, weil | |
sie die zentralen politischen Versäumnisse der letzten 20 Jahre außen vor | |
lassen. So werden die jetzt politisch Handelnden in die | |
Verantwortungslosigkeit entlassen. | |
Dass der Lehrkräftemangel durch eine politische Fehlsteuerung hervorgerufen | |
wurde und in fast allen Bundesländern Jahr für Jahr [2][zu wenig Lehrkräfte | |
ausgebildet] sowie tausende Bewerber*innen für ein Lehramtsstudium | |
abgelehnt wurden, weil der NC zu hoch war und es in vielen Fächern zu | |
wenige Studienplätze gab und gibt, erwähnt die SWK nicht. Doch wer das | |
Problem und seine Ursachen nicht anerkennt, wird keine brauchbaren | |
Lösungsvorschläge machen können. | |
Dazu passend wird gerade in der öffentlichen Debatte immer wieder das | |
Mantra des „demografischen Problems“ als Ursache für den Lehrkräftemangel | |
wiederholt. Dabei ist der Lehrkräftemangel vor allem das Ergebnis | |
politischen Versagens, das jetzt von der demografischen Entwicklung | |
verstärkt wird. | |
Ohne eine echte Ausbildungsoffensive wird sich der Lehrkräftemangel nicht | |
in den Griff bekommen lassen. Leider wird eine solche Ausbildungsoffensive | |
in den Empfehlungen der SWK nicht einmal erwähnt. | |
Wie eklatant die Situation ist, zeigt sich beispielsweise in Berlin. Dort | |
müssten die Schulen in den nächsten Jahren jährlich rund 3.000 Lehrkräfte | |
einstellen, aber nicht mal 1.000 Lehramtsabsolvent*innen verlassen | |
jährlich die Berliner Unis. Dennoch wurden im letzten Wintersemester knapp | |
3.000 Bewerbungen auf einen Lehramtsstudienplatz abgelehnt, darunter viele | |
in Mangelfächern. Jetzt die Studienbedingungen zu verbessern, um die | |
Abbruchquoten zu verringern und parallel mit einer Ausbildungsoffensive | |
mehr Studienplätze für das Lehramt zu schaffen, um so zusätzlich | |
ausgebildete Lehrkräfte in sechs, acht oder selbst zehn Jahren zu haben, | |
wäre ein zentraler Schritt auf dem Weg zu einer nachhaltigen Lösung des | |
Lehrkräftemangels. | |
Eine Ausbildungsoffensive braucht es aber nicht nur in Berlin, sondern | |
bundesweit. Auch hier ist das politische Versagen immens: Es gibt in | |
Deutschland keine funktionierende bundesweite Koordination zwischen den | |
Ländern in Bezug auf die Zahl der auszubildenden Lehrkräfte. Auch in der | |
jetzigen Situation setzen einzelne Länder, beispielsweise Bayern, auf | |
wettbewerbsorientierte Lösungen statt auf eine abgestimmte Prognostik, eine | |
koordinierte Bedarfsplanung und eine gemeinsame Ausbildungsoffensive. | |
Um in diesen Punkten etwas zu erreichen, muss man nicht den Föderalismus im | |
Bildungsbereich abschaffen. Aber ein Staatsvertrag Lehrkräftebildung, eine | |
grundsätzlich bessere Bund-Länder-Kooperation und eine Aufweichung des 2006 | |
im Zuge der Föderalismusreform beschlossenen Kooperationsverbots sind | |
notwendig. | |
Die Umsetzung ist eine Frage des politischen Willens. Gerade im | |
Bildungsbereich, den der Staat quasi monopolartig organisiert, muss er doch | |
alles unternehmen, um Bildung in guter Qualität zu sichern. Die | |
Abwärtsspirale geht sonst weiter. Wie können wir uns zehntausende | |
Schulabgänger*innen ohne Abschluss und eine weitere Spaltung der | |
Gesellschaft leisten? | |
Denn das sind die eigentlichen Themen der Debatte: Bildungsgerechtigkeit | |
und Chancengleichheit. Der Lehrkräftemangel findet in einem schon | |
überlasteten und ungerechten Bildungssystem statt. Der Mangel betrifft zwar | |
alle, aber nicht alle gleich, er hat eine unsoziale Schlagseite. | |
Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit sind in der SWK-Stellungnahme | |
abgesehen von zwei Halbsätzen aber kein Thema. | |
Die Frage, wie der enorme Druck im Bildungssystem in der aktuellen | |
Mangellage reduziert, Lehrpläne entrümpelt und Schule umgestaltet werden | |
kann, kommt in den SWK-Überlegungen nicht vor. Dabei wäre eine solche | |
“Weniger ist mehr“-Debatte ein sinnvoller und notwendiger Baustein, um Wege | |
aus der aktuellen Bildungskrise zu finden. | |
Dass die Stellungnahme durchaus auch einige brauchbare Vorschläge wie zur | |
einfacheren Anerkennung von im Ausland erworbenen Lehramtsabschlüssen, | |
1-Fach-Lehrkräften oder zur Entlastung der Lehrkräfte von | |
Verwaltungsaufgaben enthält, ändert nichts daran, dass die Empfehlungen in | |
ihrer Gesamtheit nicht dafür sorgen werden, dass die Bundesländer das | |
Problem des Lehrkräftemangels lösen, schon gar nicht auf eine Weise, die | |
das Bildungssystem gerechter macht. Weder jetzt noch in zehn Jahren. | |
Hoffentlich nimmt die SWK die Kritik ernst und macht in ihrem ausführlichen | |
Gutachten Anfang 2024 sinnvolle Vorschläge für die Lehrkräftebildung. Weil | |
es daran nach der aktuellen Stellungnahme berechtigte Zweifel gibt, | |
formieren sich gerade alternative Projekte, um eigene, gerechtere | |
Vorschläge zum Umgang mit dem Lehrkräftemangel vorzulegen. | |
15 Feb 2023 | |
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[1] /Lehrkraeftemangel-in-Sachsen-Anhalt/!5911996 | |
[2] /Lehrermangel-in-Berlin/!5313329 | |
## AUTOREN | |
Philipp Dehne | |
Claudius Baumann | |
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