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# taz.de -- Fehlende Schulen in Ostdeutschland: Drei Stunden Anfahrt mit dem Bus
> Ok, in Berlin läuft nicht alles glatt an den Schulen. Das ist aber oft
> nichts verglichen mit den Problemen vieler Schüler*innen etwa in
> Brandenburg.
Bild: Kommt noch ein Bus? Alltag in Ostdeutschland
Grimmen/Potsdam dpa | Um 6.12 Uhr steigen die Kinder in Millienhagen in den
Schulbus, um 16.40 Uhr sind sie wieder Zuhause. Dazwischen liegen ein
Schultag am Gymnasium in Grimmen und drei Stunden Gezuckel über die
Landstraßen Vorpommerns. Eineinhalb Stunden hin, eineinhalb Stunden zurück.
„Meine Tochter nimmt das soweit hin“, sagt Diana Nurkewitz, die mit ihrer
Familie im Dörfchen Millienhagen wohnt und in einer Elterninitiative für
kürzere Wegezeiten kämpft. „Aber als Mutter sehe ich, das ist schon ein
Problem.“ Ein Problem gleicher Bildungs- und Lebenschancen. Ein Problem,
das nicht leicht zu lösen ist.
Das System Schule ist fast überall unter Druck, weil Lehrer fehlen.
Vielleicht noch drastischer als in der Stadt spüren das viele auf dem Land
und da besonders in sehr dünn besiedelten Gegenden Ostdeutschlands. In der
brandenburgischen Uckermark ist die Rede von Pendelzeiten für Schüler von
270 Minuten pro Tag. Das sind viereinhalb Stunden.
Und selbst dieses löchrige Schulangebot ist nur mit Mühe aufrecht zu
erhalten. Brandenburgs Bildungsministerin Britta Ernst (SPD) [1][trat
jüngst im Streit über die richtigen Konzepte zurück]. In Thüringen wird um
Mindestklassengrößen gerungen. Sachsen lässt Miniklassen zu, um weitere
Schulschließungen zu vermeiden.
## Hunderte Schulen geschlossen nach 1990
Im Osten gingen nach der Deutschen Einheit Hunderte Standorte verloren –
damals, weil Kinder fehlten. In Mecklenburg-Vorpommern sank die Schülerzahl
von 300 000 zu Zeiten des Mauerfalls bis 2010 auf knapp 130 000. Die Zahl
der Schulen halbierte sich fast – von 960 auf 560. Die zumindest sollen
bleiben, verspricht Bildungsministerin Simone Oldenburg (Linke). Aber
reicht das? Seit 2009 steigen die Schülerzahlen wieder, seit Ankunft der
Flüchtlingskinder aus der Ukraine sogar deutlich.
So hat es auch Diana Nurkewitz erlebt. Auf dem Gymnasium ihrer Tochter in
Grimmen seien die Klassen voll, sagt die Mutter. Ihr Traum wäre es, das
2008 geschlossene Gymnasium in Franzburg wieder zu öffnen. Das liegt nur
wenige Autominuten von ihrem Wohnort Millienhagen entfernt, der
dreistündige Schulweg mit dem Bus hätte sich erledigt. „Aber das wird nicht
passieren“, sagt Nurkewitz. Denn auch sie weiß: „Da bewirbt sich niemand
hin.“ Die wenigen ausgebildeten Lehrer auf dem Markt bleiben lieber
stadtnah.
## Lehrermangel auf dem Land besonders groß
Der Lehrermangel treffe Schulen auf dem Land besonders, bestätigt die
Greifswalder Erziehungswissenschaftlerin Anne Heller. Ihre Universität
versucht, mit Programmen gegenzusteuern. In der „Lehrer-Landpartie“ fahren
Kurse in ländliche Räume. Bildungsministerin Oldenburg verweist auf Zulagen
von 20, ab Herbst sogar von 40 Prozent der monatlichen Bezüge für
Referendarinnen und Referendare an ausgewählten ländlichen Schulen.
Berufsanfängern in Mathematik, Informatik, Biologie, Chemie und Physik
winken auf dem Land Boni.
Aber selbst wenn junge Lehrer fürs Ländliche offen sind, angetan von
niedrigen Mieten und viel Luft zum Atmen – am Ende, so berichtet es Heller,
bleiben Fragen nach dem nächsten Laden, der nächsten Kneipe, dem nächsten
Theater, der Anbindung mit Bus oder Zug. Da beißt sich die Katze in den
Schwanz. „Das sind ganz fundamentale Probleme“, sagt die Bildungsexpertin.
## „Das nimmt Bildungschancen“
Die Folgen sind für sie klar: „Das nimmt Bildungschancen“. Die Auswahl sei
kleiner, etwa wenn man sich ein sprachlich oder naturwissenschaftlich
ausgerichtetes Gymnasium wünscht, berichtet Heller. „Es ist ein weit
verbreitetes Phänomen, dass nicht Bildungschancen für alle angeboten
werden.“ Die Wegezeiten nähmen den Kindern Zeit für Hobbys oder auch für
Nachhilfe.
In einem Beitrag für die Bundeszentrale für politische Bildung beschrieb
Heller 2021 zwei wunde Punkte: Die Zahl der Abgänger ohne Abschluss ist in
einigen entlegenen Gebieten besonders hoch. Und auf dem Land machen weniger
Schüler Abi. In kreisfreien Großstädten gehen demnach 40 Prozent der
Schulabgänger mit Hochschulreife. In dünn besiedelten ländlichen Kreisen
sind es nur 28 Prozent. Mancher scheut die endlosen Wege und Mühen.
## Wie den Unterricht sichern?
In entlegenen Ecken Brandenburgs ist das nicht anders. „Für mich ist ganz
klar, dass wir den Unterricht in allen Regionen des Landes Brandenburgs
sichern müssen“, betonte die nun ehemalige Ministerin Ernst in ihrer
Rücktrittserklärung. Den Schritt begründete sie damit, dass ihre eigene
Partei, die SPD, ihre Konzepte nicht mittrug.
Brandenburg braucht für das kommende Schuljahr nach offiziellen Prognosen
1.800 neue Lehrkräfte. Da so viele vollständig ausgebildete Pädagogen nicht
auf dem Markt sind, wollte Ernst 200 Lehrerstellen in Stellen für
Verwaltungsfachkräfte und Schulsozialarbeiter umwidmen. So sollten die
Lehrer in Schulen auf dem Land mit hohem Anteil an Seiteneinsteigern von
Verwaltungsaufgaben entlastet werden, um zumindest den vorgeschriebenen
Unterricht zu garantieren.
## Physik nur zwei Mal im Halbjahr
Der Knackpunkt waren geplante Kürzungen an anderer Stelle, nämlich bei
Ressourcen für Förder- und Ganztagsunterricht sowie für Inklusion. Da
rebellierten die SPD-Landtagsfraktion und die mitregierenden Grünen. Auch
der Landesschülerrat Brandenburg findet, dass es mit Umverteilung nicht
getan ist. „Das Land muss einfach mehr Geld in die Hand nehmen“, sagt
Schülervertreter Paul Neumann.
Was Lehrermangel heißt, kann der 18-jährige Abiturient recht plastisch
beschreiben: „Von der 7. bis zur 10. Klasse hatte ich fast kein Physik“,
erzählt Neumann von seinem Gymnasium in Erkner. „Fast kein“ heißt ein oder
zwei Stunden pro Halbjahr. „Es gibt sehr wenig Lehrer, und wenn dann noch
einer ausfällt, gibt es gar keinen Unterricht mehr“, sagt Neumann. Man kann
sich vorstellen, dass nach einer solchen Schulzeit nicht allzu viele Physik
studieren werden. Wieder so ein Katze-Schwanz-Problem.
## Sachsen mit Sonderregelungen
Auch Sachsen kämpft mit Lehrermangel und Stundenausfall, auch
Kultusminister Christian Piwarz (CDU) will aber keine Schulschließungen:
„Ein Basisnetz an Schulen im ländlichen Raum ist bereits festgelegt.
Weitere Reduzierungen sind seitens des Freistaates derzeit nicht
vorgesehen.“ Der Freistaat erinnert sich noch gut an die Proteste ab Mitte
der 1990er. Bis 2010 wurden auch hier rund 1.000 Schulen dicht gemacht.
Seither gewährt man lieber Ausnahmen, sollte die erforderliche Schülerzahl
unterschritten sein.
Laut Kultusministerium führen derzeit 20 Grundschulen gesetzeskonform eine
oder mehrere Klassen unterhalb der Mindestschülerzahl von 15. Davon sind 19
im ländlichen Raum. Bei einer Gesamtzahl von mindestens 60 Schülern pro
Schule ist auch eine Klasse mit weniger als 12 Kindern möglich. Wird auch
diese Zahl verfehlt, sind jahrgangsübergreifenden Klassen denkbar. Eine
offizielle Prognose geht aber von steigenden Schülerzahlen bis 2029/30 aus.
Mindestens bis dahin fehlen vor allem Lehrerinnen und Lehrer.
5 May 2023
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