# taz.de -- Lehrermangel an Grundschulen: Leere statt Lehrer | |
> Um den Mangel an den Schulen zu decken, greifen die Bundesländer zu | |
> kreativen Maßnahmen. Besonders schlimm ist die Lage in NRW. | |
Bild: Doch die Prognose, die von sinkenden Schülerzahlen in Deutschland ausgeg… | |
„Wir haben ein Riesenproblem“, sagt Andrea Oppermann. Die Leiterin der | |
Gemeinschaftsgrundschule Marienstraße in Wuppertal bekommt den akuten | |
LehrerInnenmangel im Land heftig zu spüren: „Wenn ich Stellen ausschreibe, | |
bewerben sich darauf keine ausgebildeten LehrerInnen mehr“ – Oppermann | |
besetzt in der Not derzeit 5 von 17 Stellen mit StudentInnen – ohne | |
abgeschlossenes Studium. | |
Nicht nur in Nordhrein-Westfalen gibt es viel zu wenige LehrerInnen und | |
solche, die es werden wollen – besonders für das Grund- und Förderschulamt. | |
11 der 16 zuständigen Landesbehörden teilten der taz mit, dass sie zum | |
laufenden Schuljahr nicht alle Lehrerstellen besetzen konnten. Und das, | |
obwohl die Kultusministerien zum neuen Schuljahr mindestens 25.000 | |
LehrerInnen neu eingestellt haben. | |
Wozu der Personalmangel führen kann, sieht man im badischen Ort Yach. Dort | |
musste eine Grundschule schließen. Ob sie kommendes Jahr wieder öffnet, ist | |
unklar. In anderen Bundesländern sieht es noch viel düsterer aus. In | |
Nordrhein-Westfalen etwa blieben allein an Grundschulen knapp 1.000 Stellen | |
unbesetzt. Insgesamt fehlten dem Bundesland zum neuen Schuljahr mehr als | |
2.000 Lehrkräfte. | |
NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) wirbt deshalb um noch nicht | |
eingestellte GymnasiallehrerInnen. Sie sollen „prüfen“, schlug sie Ende | |
September vor, „ob Sie sich zu Beginn Ihres Berufslebens eine zweijährige | |
Tätigkeit an einer Grundschule vorstellen können“. Wer darauf eingehe, | |
werde unbefristet übernommen und bekomme die Garantie, zwei Jahre später an | |
ein Gymnasium oder eine Gesamtschule im Umkreis von 35 Kilometern versetzt | |
zu werden. NRWs Landesregierung will mit diesem Angebot kurzfristig die | |
klaffenden Lücken in den Lehrerkollegien schließen. | |
## Neueinstellungen steigen seit Jahren | |
„Das ist eine Notmaßnahme“, sagt Dorothea Schäfer, Vorsitzende der | |
Gewerkschaft für Bildung und Erziehung (GEW) in NRW. Es müsse dringend die | |
Besoldung von GrundschullehrerInnen an die der Sekundarstufe II angepasst | |
werden. Der Umstieg auf Bachelor- und Masterstudium hat die Studienzeit in | |
NRW für alle angehenden LehrerInnen angeglichen – die enormen | |
Gehaltsunterschiede hingegen nicht. „Unsere Hauptforderung bleibt die | |
gleiche Bezahlung“, so Dorothea Schäfer. | |
Die Länder haben sich diese missliche Lage selbst zuzuschreiben. In einer | |
Modellrechnung von 2015 bis 2025 sagte die Kultusministerkonferenz (KMK) | |
voraus: Für das Jahr 2015 gehe man zwar von zu wenigen Lehrkräften aus. Es | |
heißt darin allerdings weiter: „Im Anschluss übersteigt das Angebot den | |
Bedarf. Im Durchschnitt des gesamten Betrachtungszeitraums ist ein | |
Überangebot von 1.100 Personen errechnet worden.“ | |
Doch die Prognose, die von sinkenden Schülerzahlen in Deutschland | |
ausgegangen ist, war falsch: Die Schülerzahlen sind gestiegen, weil sich | |
die Geburtenrate anders entwickelt hatte als gedacht, und durch die | |
Zuwanderung kamen allein 2015 mehr als 200.000 neue Schulkinder hinzu. | |
Wie schwer die Bundesländer kurzfristig auf diese Entwicklung reagieren | |
können, zeigen die Zahlen der KultusministerInnen. Trotz der hohen | |
Neueinstellungen bleiben in einem Großteil der Bundesländer zum neuen | |
Schuljahr Stellen unbesetzt. Und das, obwohl die Neueinstellungen seit | |
Jahren steigen. 2004 wurden gut 23.000 LehrerInnen in den Schuldienst | |
übernommen, 2012 waren es 26.000, im vergangenen Jahr mehr als 36.000 – | |
davon etwa 6.200 an Grundschulen. | |
## Quereinsteiger und rückkehrende PensionärInnen | |
Wie erfinderisch die Not macht, zeigen die Tricks, mit denen sich ich die | |
Länder durch die Krise hangeln: Sie lassen plötzlich AkademikerInnen ohne | |
abgeschlossenes Lehramtsstudium – sogenannte Quereinsteiger – unterrichten | |
und locken PensionärInnen zurück in die Klassenräume. Sorgenkind | |
Niedersachsen hätte ohne die Alten und die Fachfremden nie 1.649 neue | |
Lehrkräfte gefunden: etwa jede und jeder Siebente von ihnen ist | |
Quereinsteiger, bis März traten fast 300 Pensionierte ihre alten Posten | |
wieder an. Auch in Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg und Sachsen kommen | |
RuheständlerInnen zum Einsatz. Andere Bundesländer dürften dem Beispiel | |
folgen. | |
Der Philologenverband Niedersachsen kritisiert die Landesregierung für den | |
Personalmangel. Rot-Grün verschärfe den Unterrichtsausfall im Bundesland. | |
Ein Kommentar, den Regierungschef Stephan Weil (SPD) nur ungern hören | |
dürfte. Am Sonntag wird in Niedersachsen eine neue Regierung gewählt. Weils | |
Lösung: Quereinsteigern sollte das Leben leichter gemacht werden, sagt der | |
Noch-Regierungschef in der WAZ. Und das Kultusministerium in NRW bestätigte | |
gegenüber der taz, dass bereits an Grundschulen die Fächer Sport, Kunst, | |
Musik und Englisch geöffnet wurden. | |
Quereinsteiger sind auch in Berlin und Sachsen das Allheilmittel. 41 | |
Prozent der neuen Hauptstadtlehrkräfte sind Quereinsteiger. In Sachsen | |
sogar jede und jeder Zweite. Selbst in Bayern hat man Hochschulabsolventen | |
„die Tür zur Qualifikation für eine Tätigkeit an beruflichen Schulen | |
eröffnet“, so das bayerische Bildungsministerium. | |
Neben den Notmaßnahmen suchen die Länder nach nachhaltigen Lösungen. | |
Schleswig-Holstein hat seine Studien- und Referendariatsplätze aufgestockt | |
und überlegt derzeit, wie es seine AbsolventInnen auch im Bundesland halten | |
kann. Thüringen führte die Verbeamtung wieder ein, Mecklenburg-Vorpommern | |
und Sachsen locken Lehrer mit erhöhten Gehältern in die eher unattraktiven | |
ländlichen Regionen. | |
## „Da muss was passieren“ | |
Doch ob das reicht? Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung vom Juli | |
werden bereits im Jahr 2025 deutschlandweit eine Million mehr Kinder in die | |
Schulen kommen als bisher erwartet. Die Schulsysteme seien auf den Boom | |
nicht vorbereitet, schließen die AutorInnen. Das glaubt auch | |
Gewerkschafterin Dorothea Schäfer: „Der Mangel wird weitergehen.“ Ihre | |
Lösung: den Lehramtsberuf für junge Menschen wieder attraktiver machen. Und | |
die Kapazitäten ausbauen. „Selbst wenn man die jungen Leute trotz | |
schlechterer Bezahlung zum Grundschullehramt motivieren kann, reichen die | |
Studienplätze nicht aus“, so Schäfer. „Da muss was passieren.“ | |
Einige Bundesländer haben bereits in den vergangenen Jahren reagiert. | |
Berlin kündigte im Frühjahr 2016 an, drei neue Profs an der FU für | |
Grundschullehramt einzurichten – und an HU und FU sollten die Plätze für | |
Grundschullehramt verdoppelt werden. NRW bietet das Lehramtsstudium künftig | |
an drei zusätzlichen Unis an. 2.300 neue Lehramtsplätze heißt: mögliche | |
2.300 neue Lehrkräfte. Auch Sachsen hat die Lehramtsplätze an den Unis | |
Leipzig, Dresden und Chemnitz in wenigen Jahren verdoppelt. „Wir haben zu | |
spät reagiert“, räumt Sachsens Wissenschaftsministerin Eva-Maria Stange | |
(SPD) ein. Denn: Die neuen AbsolventInnen sind frühestens in fünf Jahren | |
fertig. | |
Für den Schulunterricht im Land heißt das: Bis dahin müssen Rektorinnen wie | |
Andrea Oppermann vorerst weiter auf Studierende, PensionärInnen und | |
QuereinsteigerInnen bauen. | |
13 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Antonia Groß | |
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