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# taz.de -- Wahlkampf in Niedersachsen: Bei Bildung ungebildet
> Bildungspolitik ist das Top-Wahlkampfthema. Denn es mangelt an Lehrern.
> Woher die kommen sollen, weiß niemand.
Bild: Bildung ist anderswo: Wahlkampf in Niedersachsen
Hannover/Berlin taz | „Schulchaos beenden“, steht auf einem meterhohen
CDU-Wahlplakat an einer Autobahn irgendwo in Niedersachsen. Klar, wenn ein
Ex-Kultusminister in den Wahlkampf zieht, versucht er das Thema Bildung zu
spielen. So richtig gezündet hat die Kampagne von Bernd Althusmann, dem
Herausforderer von SPD-Ministerpräsident Stephan Weil, bisher trotzdem
nicht. Zwar ist die Bildungspolitik das wichtigste Thema im Wahlkampf,
viele Wähler sind gespannt, wie es weitergeht mit der Inklusion, und
schimpfen über den Unterrichtsausfall.
Doch anders als in Schleswig-Holstein oder Nordrhein-Westfalen, wo im
Frühjahr gewählt wurde und die Bildungspolitik wahlentscheidend war,
polarisiert das Thema in Niedersachsen nicht so stark.
Das liegt zum einen daran, dass ein Klopper bereits vom Tisch ist: der
Streit um das acht- oder neunjährige Gymnasium, G8 versus G9. Die
niedersächsische rot-grüne Landesregierung hat als erstes Bundesland das
sogenannte Turboabi, das G8, abgeschafft. Schüler von Leer bis Braunlage
machen ihr Abitur seit vier Jahren wieder nach Klasse 13. Auch die CDU und
Althusmann, der das G8 damals als Kultusminister eingeführt hatte, wollen
daran nichts mehr ändern.
Zum anderen sind die Probleme in Niedersachsen vielschichtig und keine
Partei hat eine einfache Formel, wie sie gelöst werden können. Da ist der
Stundenausfall. Die Unterrichtsversorgung liegt bei nur 98,9 Prozent,
Kinder werden häufig früher nach Hause geschickt. Da ist der Dauerbrenner
Inklusion, der gemeinsame Unterricht von Kinder mit und ohne Handicap.
Viele Eltern sind mit der inklusiven Beschulung von Kindern mit
Förderbedarf unzufrieden. Da ist die Unzufriedenheit der Lehrer: An vielen
Schulen klagen sie über eine zu hohe Arbeitsbelastung, die Gewerkschaft
Erziehung und Wissenschaft geht dagegen jetzt gerichtlich vor.
All diese Probleme gehen meist auf eine Ursache zurück: es fehlen
bundesweit Lehrer. In Niedersachsen konnten zum neuen Schuljahr über 600
Stellen noch nicht besetzt werden.
## Keine Unterrichtsgarantie
Das liegt nicht nur am Zuzug von Geflüchteten, sondern vor allem daran,
dass die Kultusminister der Länder die steigende Geburtenrate in ihren
Prognosen vernachlässigt haben. Im Zuge der Inklusion und des Ausbaus der
Ganztagsschulen werden außerdem mehr Lehrkräfte, Sonderpädagogen und
Sozialarbeiter an den Schulen gebraucht.
Als ehemaliger Kultusminister kennt Althusmann dieses Problem und hat damit
gekämpft. Als Spitzenkandidat der CDU verspricht er den Eltern im Wahlkampf
eine Unterrichtsgarantie. Er sieht dafür noch Reserven im System.
Althusmann möchte Lehrer von Verwaltungsaufgaben entlasten und verstärkt
Quereinsteiger einstellen, um den Unterrichtsausfall zu reduzieren. „Es
müssen deutlich mehr Lehrerstunden im konkreten Unterrichtseinsatz, also
direkt beim Kind, ankommen“, heißt es in einem Positionspapier der CDU.
Im Fernsehduell, das sich Herausforderer und Amtsinhaber am Dienstag
lieferten, machte Ministerpräsident Weil noch einmal deutlich, dass er von
einer Unterrichtsgarantie nichts hält. „Ich verspreche nichts, das ich
hinterher nicht zu 100 Prozent einhalten kann“, sagte er. Denn es sei
schwierig, Krankheiten, Schwangerschaften oder Lehrer, die vorzeitig in den
Ruhestand gingen, in eine solche Planung einzubeziehen.
Trotzdem ist Weil beim Thema Unterrichtsversorgung optimistisch und
verweist auf steigende Absolventenzahlen.
## Personalmangel bei der Inklusion
Personalmangel herrscht in Niedersachsen auch bei der Inklusion.
Statistisch gesehen liegt Niedersachsen hier unter den Bundesländern im
vorderen Bereich: über 60 Prozent der Schüler mit Förderbedarf besuchen
eine Regelschule. Doch die Qualität stimmt nicht. „Die Kinder leiden“, sagt
eine Sonderpädagogin der taz. Sie will ihren Namen nicht in der Zeitung
lesen, sie habe Angst vor einer Abmahnung, wenn sie die Inklusion
kritisiert. Weil es zu wenige Stunden gibt, in denen Kinder mit
Förderbedarf von Sonderpädagogen betreut würden, fielen diese Schüler an
Regelschulen hintenrunter.
In Niedersachsen stehen Grundschulen wöchentlich zwei Förderschulstunden
pro Klasse zu; an weiterführenden Schulen sind es drei Stunden pro Kind.
Die Schulen können die Stunden bündeln und etwa, wenn drei Kinder mit
Förderbedarf in einer Klasse sind, neun Stunden Förderunterricht für alle
anbieten – dann klappt das inklusive Lernen oft gut. Sitzt ein Kind mit
Behinderung allerdings allein in einer Klasse, ist die Förderung dürftig –
und Eltern und Lehrer verunsichert.
Herausforderer Althusmann will auf die Probleme mit einem einjährigen
Moratorium reagieren. „Wir brauchen dringend eine Atempause“, sagt er.
Sonst drohe die von ihm selbst eingeführte Inklusion in Niedersachsen vor
die Wand zu fahren. „Wir werden diese Zeit nutzen, um festzulegen, wie wir
mit den vorhandenen Ressourcen umgehen“, meint der CDU-Landesvorsitzende.
Sein wichtigstes Anliegen ist aber, die Förderschulen zu erhalten. Diese
seien ein „geschützter Raum“ für die Kinder.
## „Abgrundtief unseriös“
Die SPD ist über die Zukunft der 288 Förderschulen noch uneins. Während
sich der Landesverband eine Abschaffung der Doppelstrukturen wünscht, sagte
Spitzenkandidat Weil im TV-Duell: „Die Förderschule Lernen ist ausgelaufen.
Es ist nicht vorgesehen, die anderen Förderschulen zu schließen.“ So
bestätigt es auch das SPD-geführte Kultusministerium.
„Wir können es uns auf Dauer nicht leisten, beide Systeme parallel laufen
zu lassen. Dafür gibt es auch nicht genug Personal“, meint hingegen
Christian Hoffmann, Sprecher der GEW Niedersachsen.
Bei der Gewerkschaft und anderen Verbänden stößt Althusmanns Forderung nach
einer Atempause auf heftigen Widerstand. 17 Verbände und Organisationen,
darunter auch der Sozialverband Deutschland oder der
Behindertensportverband Niedersachsen, protestieren in einem gemeinsamen
„Bündnis Inklusion“ gegen „einen Rückschritt“ beim gemeinsamen Unterr…
GEW-Landesvorsitzende Laura Pooth bezeichnete die Bildungspolitik der CDU
sogar als „abgrundtief unseriös“.
## Zu viele Überstunden
Aber auch mit der rot-grünen Landesregierung ist die Gewerkschaft
unzufrieden. Laut einer Studie der Universität Göttingen machen Lehrer
aller Schulformen zu viele Überstunden. Nun hat die GEW für die
Grundschullehrer dagegen geklagt. Für Gymnasiallehrer ist das Verfahren in
Arbeit. Die Gewerkschaft will erreichen dass die Pflichtstundenzahl sinkt
Auch der Landeselternrat kritisiert die aktuelle Bildungspolitik. „Die
Schulen waren noch nicht auf die Inklusion vorbereitet“, sagt der
Vorsitzende Mike Finke. „Es gibt bis heute keine hinreichenden
Handreichungen für Lehrkräfte, wie sie mit den verschiedenen
Beeinträchtigungen umgehen sollen.“ Eine Pause hält er trotzdem für falsch.
„Es gibt kein Zurück.“
Den fünffachen Vater ärgert, dass das Thema Bildung mit solchen Forderungen
in den Wahlkampf gezogen wird. „Die Leidtragenden davon sind alle fünf
Jahre die Kinder und die Eltern“, sagt Finke. Denn nach der Wahl machte die
neue Landesregierung dann entweder eine Rolle rückwärts oder zwei vorwärts.
An die entscheidenden Themen trauten sich die Parteien aber nicht heran.
„Keiner fragt sich, ob die Bildung unserer Kinder inhaltlich und methodisch
überhaupt noch zeitgemäß ist.“
13 Oct 2017
## AUTOREN
Andrea Scharpen
Anna Lehmann
## TAGS
Niedersachsen
Bildung
Lehrermangel
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