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# taz.de -- SPD vor der Niedersachsen-Wahl: Zu viele Themen, aber kein Thema
> Egal, wie die Landtagswahl in Niedersachsen ausgeht, ihre Krise wird die
> SPD so schnell nicht los. Wie kann sie ihren Abstieg stoppen?
Bild: Kehrt die älteste demokratische Partei Deutschlands zurück zu roten Soc…
Berlin taz | Nieselregen, 13 Grad, der Asphalt der Marschallbrücke über der
Spree glänzt vor Nässe. Carsten Schneider fröstelt sogar drinnen, in seinem
Abgeordnetenbüro im Jakob-Kaiser-Haus in Berlin-Mitte. Der Mann, der die
SPD-Fraktion organisieren soll, zieht den Reißverschluss seiner schwarzen
Daunenjacke zu, bevor er sich an den Tisch in seinem Abgeordnetenbüro
setzt. „Die SPD ist in einer existenzbedrohlichen Krise“, sagt er. „Es ist
nicht garantiert, dass es nach der Opposition automatisch wieder bergauf
geht.“ Schneiders Sätze klingen wie Nieselregen.
Wie weiter, SPD? Die Wahl in Niedersachsen am Sonntag wird den nächsten
Wasserstand über das Ausmaß des Desasters liefern. Verlieren die
Sozialdemokraten noch ein westdeutsches Flächenland an die CDU, wäre das
ein neuer, harter Schlag. Nordrhein-Westfalen weg, Schleswig-Holstein weg,
da bleibt nicht mehr viel. Das mittelgroße Rheinland-Pfalz noch, die
Stadtstaaten Berlin, Bremen, Hamburg und der dünn besiedelten Nordosten der
Republik. Zwar hat die SPD im Bundesrat auch gegen eine Jamaika-Regierung
die Mehrheit. Aber nur auf dem Papier. Denn arme Landesregierungen wie
Bremen oder Sachsen-Anhalt lassen sich oft mit Geld ködern.
Aber auch wenn die SPD in Hannover stärkste Partei wird, hellt sich dieses
Bild nur wenig auf. Droht der Abstieg der SPD in die Bedeutungslosigkeit,
wie das in anderen europäischen Staaten bei sozialdemokratischen Parteien
zu besichtigen war?
Schneider, 41, sitzt sein halbes Leben lang im Bundestag. Er kennt die
Partei, hat sich als Finanzexperte einen Namen gemacht und wird als
Parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion beim Wiederaufbau mitreden.
Er gehört zu den Seeheimern, dem rechten Flügel und soll Andrea Nahles, der
Ex-Frontfrau der SPD-Linken und neuen Fraktionschefin, den Rücken frei
halten. Und, das ist der Anspruch, selbst das Bild der Partei prägen.
Nahles und Schneider sollen das neue Gesicht der SPD sein. Mann/Frau,
West/Ost, endlich jünger, endlich weiblicher, und irgendwie nach linkem und
rechtem Flügel quotiert, auch wenn das oft nur noch ein Label von gestern
ist.
Für die monochrome SPD bedeutet dieses Duo einen Pluralismusschub. Denn die
Partei war in den letzten 20 Jahren fest im Griff der Niedersachsen-Gang.
Also männlich, mittelalt, machtbewusst, rechts. Seit 1998 ging ohne Gerhard
Schröder und dann Frank-Walter Steinmeier, ohne Sigmar Gabriel, Thomas
Oppermann und Hubertus Heil nichts. Wer Fraktion oder Partei führen wollte,
musste offenbar sein Handwerk zwischen Hannover und Goslar gelernt haben.
Damit ist es nun vorbei. Allerdings wird, falls die SPD in Hannover
gewinnt, der sachlich bis zur Unauffälligkeit wirkende Stephan Weil
Vizeparteichef werden.
## Diversität ist ein Muss
So beginnt die SPD ein paar Jahrzehnte zu spät zu begreifen, was in
internationalen Konzernen längst selbstverständlich ist: Diversität ist
ein Muss. Und dazu passt nicht, dass nur Juristen und
Politikwissenschaftler aus Niedersachsen in den Chefsesseln sitzen.
Noch viel wichtiger als die zaghafte Modernisierung nach innen ist aber:
Wie weiter? Das Wahlergebnis gibt Rätsel auf. Denn die SPD hat rund je eine
halbe Million WählerInnen in alle Richtungen verloren. Protestklientel an
die AfD und Linksliberale an die Grünen, Gerechtigkeitsfans an die
Linkspartei, mobile Aufsteiger an die FDP.
Schneider, der in Thüringen zu Hause ist, hat mit seinem Team im Wahlkampf
an mehr als 57.000 Türen geklingelt. Seine Analyse: „Wir haben den Bezug
zum Plattenbau verloren. Da wohnt kaum noch einer unserer Funktionäre. Wir
müssen die normalen Leute, die 1.700 Euro brutto verdienen, vertreten.“ Das
heißt: bloß nicht der Bionade-Fraktion und „den Grünen hinterherlaufen“.
Also zurück zu den Wurzeln.
Als weiteren Grund für das Wahldesaster identifiziert er grün eingefärbte
Denkverbote. „Wer in der Flüchtlingsfrage skeptisch war, fühlte sich von
der SPD kaum verstanden. Volksparteien müssen aber die Debatten, die beim
Abendbrot geführt werden, abbilden.“
Also auf in die Plattenbauten, mit offenen Ohren für Skepsis gegenüber
Flüchtlingen. Wird das die SPD heilen? Es klingt selbstkritisch. Aber auch
bekannt. Sigmar Gabriel warnte früh, neben den Bedürfnissen der Flüchtlinge
die der Deutschen nicht zu vergessen. Und als die SPD 2009 nach der Großen
Koalition nur noch 23 Prozent bekam, gab er als Parteichef die Parole aus,
die SPD müsse wieder „raus ins Leben – dahin, wo es raucht und stinkt“. …
so könne man die Kluft zwischen der Klientel und der Partei wieder
schließen.
## Materielle Fragen
Der Jubel war damals groß. Doch es blieb beim Appell. Die SPD ist schon
seit Jahrzehnten eine Partei der Aufsteiger. Nur 17 Prozent der Genossen
sind Arbeiter, fast jeder zweite ist Beamter oder Angestellter im
öffentlichen Dienst. Die Lust, in die Plattenbauten und Fabriken der Eltern
zurückzukehren, ist überschaubar.
Heikel ist die Frage, ob die SPD sich von Merkel in deren
Flüchtlingspolitik hat einspannen lassen. Die Partei habe zugesehen, „wie
viele, die skeptisch waren, gleich in eine Schublade gesteckt wurden“, sagt
Schneider. Die sozial Schwachen erbrächten den größten Teil der
Integrationsleistung. „In den Kitas und Schulen in den besseren Vierteln
ist die Flüchtlingszuwanderung nahezu überhaupt nicht zu spüren.“ Die
Wahlniederlage wäre, so Schneiders Lesart, auch mit entschlossenen
Gerechtigkeitsparolen nicht zu verhindern gewesen. Denn: „Das war keine
ökonomische, sondern eine soziokulturelle Wahl.“
Hilde Mattheis, 63, sieht das ganz anders. „Ich denke, hinter dem
Flüchtlingsthema liegen materielle Fragen“, sagt sie. „Die Leute regen sich
auch deshalb über Flüchtlinge auf, weil sie Existenzängste haben.“ Angst
vor Altersarmut, Angst davor, den Job zu verlieren. Mattheis findet ihre
SPD zu vorsichtig. In der Steuerpolitik und anderswo eiere sie herum. „Die
SPD müsste sagen: Wir wollen nicht ein bisschen mehr Gerechtigkeit. Wir
wollen eine gerechte Gesellschaft. Punkt.“ Die Partei müsse sich endlich
von neoliberalen Einflüssen befreien, die tief eingesickert seien.
Mattheis ist die Chefin des Forums Demokratische Linke 21, eines
Diskussionszirkels, dem gut tausend GenossInnen angehören. Andrea Nahles
wurde der linkssozialdemokratische Club zu radikal. 2014 trat sie aus.
Seitdem gilt Mattheis als eine der letzten echten Linken in der Fraktion –
und als hoffnungslos vorgestrige Außenseiterin, die abgeschnitten von den
Machtzentren ist. So wie Corbyn in der Labour Party bis vor zwei Jahren.
## eine Konsensmaschine, die Interessen abwägt
Auch Marco Bülow, der in Dortmund für die SPD das Direktmandat gewann,
glaubt, dass die Affekte gegen Flüchtlinge nur „das Ventil sind, um
auszudrücken, dass man selbst nicht ernst genommen wird“. Um die AfD zu
bekämpfen, die gerade in Ex-SPD-Hochburgen im Ruhrgebiet erfolgreich war,
müsse sich die SPD endlich wieder auf harte Sozialthemen fokussieren –
Rente, Löhne, bezahlbare Wohnungen.
Muss die Partei angesichts von AfD und Jamaika sozialpolitisch entschlossen
nach links rücken? Oder lieber in der moderaten Mitte bleiben, um dieses
Feld nicht Grünen und CDU zu überlassen? Das ist eine Schlüsselfrage für
die Sozialdemokratie.
Vielleicht liegt das Problem aber auch tiefer. Denn seit 1959, seit
Godesberg, verstehen sich die Genossen als Volkspartei – offen für alle,
vom Arbeitslosen bis zum Unternehmer, vom Facharbeiter im Aluminiumbetrieb
bis zur Klimaschützerin. Das stellt keiner in Frage. Doch dieser Anspruch
wirkt in Wahlkämpfen wie eine Fußfessel. Die Partei ist eine
Konsensmaschine, die Interessen abwägt und ausgleicht, Forderungen
balanciert und rundschleift – mitunter, bis nicht mehr zu erkennen ist, was
die SPD will.
## Themen, kein Thema
„Die Themen waren nicht falsch. Aber die Zuspitzung fehlte“, sagt
Bundesvize Ralf Stegner, ebenfalls ein Parteilinker. „Die SPD muss sich
klar als linke Volkspartei definieren.“ Bernie Sanders oder Justin Trudeau
begeisterten so viele junge Leute, weil sie globale Gerechtigkeitsfragen
wie Reichtumsverteilung, Waffenexporte oder Klimaschutz in den Vordergrund
stellten. „Daran muss sich die SPD ein Beispiel nehmen.“ Auch Carsten
Schneider resümiert: „Wir hatten zu viele Themen, aber kein Thema.“
In Niedersachsen liegt die Dynamik im Moment bei den Genossen. Die
Tatsache, dass die grüne Überläuferin Elke Twesten die rot-grüne Regierung
stürzte, hängt dunkel über der Kampagne des CDU-Herausforderers. Lockte
Bernd Althusmann sie mit schmutzigen Angeboten? Dafür gibt es keinen Beleg,
aber der Verdacht steht im Raum.
Amtsinhaber Stephan Weil profitiert auch von lokalen Aufregern, etwa davon,
dass er das von seinem CDU-Widersacher eingeführte, unbeliebte Turbo-Abi
wieder abschaffte. Direkt nach Twestens Wechsel lag die CDU bei 40 Prozent,
die SPD nur bei 32. Inzwischen haben sich die Kurven gekreuzt. Ein Erfolg
dort würde in das Bild der Bundestagwahl passen. 27,4 Prozent holte die SPD
da zwischen Aurich und Göttingen. Mehr als in je dem anderen Bundesland.
Aber taugte ein Sieg als inspirierendes Vorbild? Das darf bezweifelt
werden. Die Niedersachsen-SPD weiß ja selbst nicht recht, wie sie die
verblüffende Trendwende erklären soll. Und eine Kombination lokaler
Gegebenheiten ergibt noch keine Strategie für den Bund. Die Zeiten, in
denen in Hannover über die Zukunft der SPD entschieden wurde, sind vorbei.
14 Oct 2017
## AUTOREN
Ulrich Schulte
Stefan Reinecke
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