# taz.de -- Debatte Sozialdemokratie in Europa: Jetzt hilft nur Radikalität | |
> Die europäische Sozialdemokratie kommt nur mit einer echten Erneuerung | |
> wieder auf die Beine. Sie sollte auf eine konsequente Europäisierung | |
> setzen. | |
Bild: Herbert Wehner, adressierte den CDU-Abgeordnete Wohlrabe einst mit „Sie… | |
Die Wahlergebnisse in Österreich und Niedersachsen bestätigen, dass Europas | |
Sozialdemokraten keine eigenen, linken Regierungsoptionen mehr haben. Sie | |
demonstrieren die trostlose Lage der Sozialdemokratie insgesamt. Es | |
bewahrheitet sich einmal mehr, was der Soziologe Ralf Dahrendorf schon in | |
den 1960er Jahren als „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“ | |
charakterisiert hat. | |
Begonnen hatte das sozialdemokratische Jahrhundert mit der Gründung der SPD | |
1875, woran die traditionsreichste Partei Deutschlands sich und uns immer | |
wieder gern erinnert. Auch Dahrendorf, FDP-Abgeordneter und später auch | |
EU-Kommissar, wusste: „In seinen besten Möglichkeiten war das Jahrhundert | |
sozial und demokratisch. An seinem Ende sind wir (fast) alle | |
Sozialdemokraten geworden. Wir haben alle ein paar Vorstellungen in uns | |
aufgenommen und um uns herum zur Selbstverständlichkeit werden lassen, die | |
das Thema des sozialdemokratischen Jahrhunderts definieren: Wachstum, | |
Gleichheit, Arbeit, Vernunft, Staat, Internationalismus.“ | |
Auch wenn François Mitterrand zu der Zeit gerade die Linksunion bildete und | |
in Europa Sozialdemokraten in vollem Saft standen, ahnte Dahrendorf | |
bereits, dass deren Epoche vorbei war. Nachdem Blair, Schröder und Hollande | |
das Ruder vermeintlich noch einmal herumwarfen, sind Sozialdemokraten fast | |
aller OECD-Länder auf einem historischen Tiefpunkt gelandet. Auch mit den | |
Linksnationalisten Jeremy Corbyn und Jean-Luc Mélenchon oder mit Syriza und | |
Podemos scheint kein Licht am Ende des Tunnels auf. | |
Wer von der Koalitionsoption R2G – Rot-Rot-Grün – die Wiedergeburt | |
erwartet, greift zu kurz. Das Gleiche gilt für die, die die SPD (SPÖ etc.) | |
nur taktisch oder personell falsch aufgestellt sehen. Man muss den | |
historischen Verfall der Themen in den Blick nehmen, welche die | |
demokratische Linke einmal stark gemacht haben. Auch, wer nicht | |
SozialdemokratIn ist, sollte die Brisanz des Themenwechsels nach rechts | |
begreifen. | |
Bringen wir also Dahrendorfs Liste auf den aktuellen Stand. Wachstum: | |
Sozialdemokraten entstammen dem Industriezeitalter und haben dessen a | |
priori asymmetrischen Nutzen durch Umverteilung auszugleichen gewusst. Die | |
Herausbildung einer ökologischen Bewegung, die auf globale Naturzerstörung | |
reagierte und eine postindustrielle Ordnung anstrebt, ignorieren die | |
meisten bis heute als Nebenwiderspruch. | |
## Besitzstandswahrung aufgestiegener Mittelschichten | |
Gleichheit: Sozialdemokraten haben verstanden, dass gewaltsam ausgetragener | |
Klassenkampf in totalitäre Verhältnisse führt. Sie haben richtigerweise auf | |
Reformen gesetzt, die den Gegensatz von Kapital und Arbeit durch | |
Mitbestimmung und Bildungs- und Geschlechtergerechtigkeit abgeflacht haben. | |
Solidarität bleibt ein Eckpfeiler, aber sie muss globaler und auch im | |
Generationsverhältnis gedacht werden. Sonst würde sie nur der | |
Besitzstandswahrung aufgestiegener Mittelschichten dienen. | |
Arbeit: Als „Partei der Arbeit“ repräsentieren Sozialdemokraten nicht mehr | |
das Gros der Lohnabhängigen und der prekär Selbständigen. Automatisierung | |
und Digitalisierung werden zur weiteren Zerklüftung des Arbeitsmarkts | |
führen, was nicht länger (und schon gar nicht im Weltmaßstab) mit | |
Vollbeschäftigungsparolen aufzuhalten ist. Das auf (betriebliche) Arbeit | |
setzende sozialpolitische Transferkonzept verfängt nicht mehr. | |
Vernunft: Das universalistische Rationalitätsideal ist technokratisch | |
verkürzt worden und hält der „Politik der Gefühle“ und dem Identitätswa… | |
von rechts (und postlinks) nicht stand. Politik wird in paranoiden | |
Verschwörungsszenarien erfahren und ausgeübt. | |
Staat: Dahrendorfs Diagnosen setzten an der von Thatcher und Reagan | |
herbeigeführten, von Clinton, Schröder und anderen imitierten | |
Entstaatlichung an. Diese Entstaatlichung ging über die Beschneidung | |
bürokratischer Auswüchse des Wohlfahrtsstaats hinaus. Der öffentliche | |
Dienst und die nur vom Staat zu leistende Daseinsvorsorge sind als Idee | |
verloren gegangen und Infrastruktur wurde mutwillig zerstört. | |
Internationalismus: Wer einmal bei Sitzungen der Sozialistischen | |
Internationale dabei war, weiß, welch geringe Bedeutung der | |
Internationalismus, auch die europäische Idee bei den S-Parteien de facto | |
haben. Gedanklich sind sie Nationalisten geworden, und genau deswegen | |
lassen sie sich vom Nationalpopulismus leicht beerben. | |
Ein Ausweg aus der Misere wäre die konsequente Europäisierung. Auf | |
„Gerechtigkeit“ zu setzen ist nur in diesem (und im globalen) Maßstab | |
sinnvoll. Alles andere kann ganz offensichtlich Menschen nicht für die SPD | |
mobilisieren. Sie wenden sich stattdessen wegen allerhand gefühlten und | |
echten Ungerechtigkeiten der Linkspartei und den Rechtspopulisten zu. | |
## Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft | |
Innerparteilich ist zudem alles wichtig, was den totalen Absturz wie in | |
Frankreich verhindert: Loyalität zur (geschlagenen) Parteiführung und | |
Sicherung des Mitgliederzuwachses der letzten Monate durch eine | |
demokratische Programmdebatte. Und natürlich muss Schluss sein mit dem | |
endemischen Selbstzerlegungstrieb. | |
Mittelfristig darf die SPD in der Opposition nicht nur Machtlosigkeit | |
ausstrahlen, sondern eine soziale Gegenbewegung anzeigen, die entschieden | |
zur Macht drängt. Dass sich die SPD nicht nur gegen eine Regierung der | |
bürgerlichen Mitte, sondern auch der antibürgerlichen Rechten positioniert, | |
ist ehrenwert. Langfristig wird der Sozialdemokratie aber nur helfen, wenn | |
sie das von beiden Seiten zerrüttete Verhältnis zwischen Staat und | |
Gesellschaft neu zu knüpfen versteht. | |
Die Sozialdemokraten müssen außerdem die neue soziale Frage ins Zentrum | |
rücken, die – ich wiederhole das gerne – im Verfall der öffentlichen | |
Infrastruktur in den Städten wie im Hinterland besteht. Die | |
Sozialdemokratie muss europaweit wieder die Partei des erneuerten | |
öffentlichen Dienstes werden – das reicht von den Pflegeleistungen über die | |
digitale Sphäre bis zu Mobilität. Damit ist keine Verstaatlichung gemeint, | |
sondern eine Ausrichtung am Gemeinwohl, die auch Private und | |
Genossenschaften leisten können. | |
17 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Claus Leggewie | |
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