# taz.de -- Lehrermangel in Niedersachsen: Rechenschieber statt Algebra | |
> Zum neuen Schuljahr werden viele GymnasiallehrerInnen in Niedersachsen an | |
> Grundschulen abberufen. Politik und Gewerkschaft suchen Schuldige | |
Bild: Grundschülern ist es wahrscheinlich egal, von wem sie unterrichtet werde… | |
Komplizierte Algebra im Mathe-Leistungskurs in der Oberstufe vermitteln | |
oder mit siebenjährigen Schulanfängern erste Grundsteine in der Welt der | |
Zahlen legen. Das ist ein Unterschied. Und genau um den geht es jetzt für | |
niedersächsische GymnasiallehrerInnen. Sie werden wegen des Lehrermangels | |
an Grundschulen kurzfristig abberufen. Zur genauen Zahl der abberufenen | |
Pädagogen wollte das niedersächsische Kultusministerium auf taz-Anfrage | |
keine Angaben machen. | |
Der Grundschullehrermangel insbesondere in ländlichen Regionen ist laut | |
Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Niedersachsen (GEW) ein großes | |
Problem, dass sich schon vor mehr als zehn Jahren abzeichnete. „Die | |
Landesregierung hat derzeit kein anderes Instrument als die Abordnung der | |
Lehrkräfte von den Gymnasien, um den Mangel an Grundschulen auszugleichen“, | |
sagt Eberhard Brandt, GEW-Vorsitzender in Niedersachsen. „An Gymnasien | |
werden nur Lehrer abgezogen, wenn diese überproportional versorgt sind.“ In | |
erster Linie würden bereits erfahrene Lehrer angefordert. | |
Neben den niedersächsischen Gymnasien sind auch Gesamtschulen von den | |
Abberufungen betroffen. Harsche Kritik kommt von Seiten des | |
Philologenverbandes. „Große Unsicherheit und großer Ärger“, mit diesen | |
Worten beschreibt Horst Audritz, Vorsitzender des niedersächsischen | |
Philologenverbandes, die Reaktionen vieler LehrerInnen, die kurzfristig per | |
Mail über ihre Abberufung informiert wurden. Insbesondere das Fehlen eines | |
vorhergehenden Gesprächs habe viele Betroffene gestört. Die LehrerInnen | |
fühlen sich laut Audritz wie auf einem „Verschiebebahnhof“. GEW-Funktionär | |
Brandt kann nachvollziehen, dass die meisten PädagogInnen etwas geschockt | |
seien. Eine Alternative für das Kultusministerium und die Schulbehörde | |
sieht er allerdings derzeit nicht. | |
Das niedersächsische Kultusministerium erklärt die Maßnahmen ebenfalls für | |
dringend notwendig, da man „auf eine ausgewogene Unterrichtsversorgung“ an | |
den verschiedenen Schulformen achten müsse. Auf taz-Anfrage verweist das | |
Kultusministerium darauf, dass beispielsweise an einer Gesamtschule der | |
Pflichtunterricht bei einem Versorgungswert von gut 70 Prozent | |
gewährleistet sei. Die abgebenden Schulen können laut Auskunft des | |
Ministeriums zusätzliche Stellen für Abordnungen erhalten. | |
Heftige Kritik an der Bildungspolitik der rot-grünen Landesregierung kommt | |
vom schulpolitischen Sprecher der CDU-Landtagsfraktion, Kai Seefried: „Die | |
aktuellen Probleme bei der Unterrichtsversorgung hat sich Kultusministerin | |
Frauke Heiligenstadt selbst zuzuschreiben.“ Er bemängelt, dass allein zum | |
1. Februar dieses Jahres 340 ausgebildete Gymnasiallehrkräfte nicht | |
eingestellt wurden. Die Hauptleittragenden des „Aktionsplans“ sind für den | |
CDU-Politiker SchülerInnen, LehrerInnen und Eltern. | |
Auch in der FDP herrscht Unverständnis: „Die Chaospolitik der | |
Kultusministerin erreicht mit Schuljahresbeginn abermals eine neue | |
Qualität“, sagt der FDP-Landtagsabgeordnete Björn Försterling. Auf | |
eventuelle Versäumnisse während ihrer Regierungszeit gehen die | |
Oppositionsparteien nicht ein. | |
„Die ehemalige CDU-Landesregierung hat damals in der Schulpolitik total | |
versagt und uns die Suppe eingebrockt, die wir jetzt auslöffeln müssen“, | |
sagt Gewerkschafter Eberhard Brandt. Als wesentliche Ursache hat die | |
Gewerkschaft eine fehlerhafte Lehrerausbildung an Universitäten ausgemacht. | |
Rund 40 Prozent der Lehramtsstudierenden brechen ihr Studium wieder ab. Es | |
gebe zu wenige AbsolventInnen, um die freien Stellen zu besetzen. | |
„Um alle Lehrerstellen in Niedersachsen auszufüllen, müssen derzeit | |
jährlich rund 40 Prozent junge PädagogInnen aus anderen Bundesländern | |
angeworben werden“, bemängelt Brandt. Einer der Hauptkritikpunkte an der | |
akademischen Lehrerausbildung sind vor allem die fehlende individuelle | |
Betreuung der Studierenden sowie die befristeten Arbeitsverträge der | |
Uni-Dozenten. Die Lehramtsausbildung müsse attraktiver gemacht werden. | |
Durchaus auch positive Aspekte findet Mike Finke, Vorsitzender des | |
Landeselternrates Niedersachsen: „Junge PädagogInnen sind ja generell | |
schwer für die ländlichen Regionen zu begeistern, und mit einem Austausch | |
könnten durchaus auch mal eingefahrene Strukturen überwunden werden.“ Ob | |
alle GymnasiallehrerInnen auch in der täglichen Praxis empathisch und | |
pädagogisch in der Lage sind, Grundschulkinder zu unterrichten, vermag er | |
aus Elternsicht nicht zu beurteilen. | |
1 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Philipp Nicolay | |
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