# taz.de -- Turbo-Abitur in Hamburg und Niedersachsen: Mehr Zeit für alle | |
> In Hamburg und Niedersachsen formieren sich die Kritiker des achtjährigen | |
> Abiturs. In Kiel ist man schon weiter: Dort hat der Bildungsminister | |
> Ekkehard Klug die Rückkehr zum alten Abitur in Aussicht gestellt. | |
Bild: "Politisch nicht korrekt": Wahlplakat der "Bürgerlichen Mitte" vor einem… | |
HAMBURG taz | Selbst unter ihren Bekannten traute sich Mareile Kirsch | |
anfangs nicht, die Sache anzusprechen: "Es schien mir nicht politisch | |
korrekt", erinnert sie sich. Aber dann tat sie es doch und so kam es, dass | |
ihre kleine Partei namens "Bürgerliche Mitte" mit einem Plakat in den | |
Hamburger Wahlkampf ging, das sie von anderen abhob: "Mehr Zeit, neun Jahre | |
Gymnasium". | |
Ins Rathaus hat es die Spitzenkandidatin, die Mutter von zwei Kindern ist | |
und bereits gegen die Primarschule kämpfte, damit wohl nicht geschafft. "Es | |
geht mir um die Sache", sagt die ehemalige CDU-Frau. Sie habe 2002 | |
versucht, in der alten Partei das Turbo-Abitur zu verhindern und sei auf | |
"eiskalte Abwehr gestoßen". | |
Sie schrieb Appelle an den damaligen CDU-Bürgermeister Ole von Beust. | |
Vergeblich. Als der nach seinem Rücktritt im Sommer auf die Frage, welche | |
Fehler er bedauere, die Schulzeitverkürzung nannte, war sie sehr erstaunt. | |
"Wieso hat man dann sieben Jahre lang die Kinder verheizt?" Sie hat den | |
Eindruck, Schüler würden bestraft, weil sie aufs Gymnasium gehen. | |
Auch in Niedersachsen gibt es eine Eltern-Bewegung gegen das achtjährige | |
Abitur (G8), das dort seit diesem Jahr auch zwangsweise für Gesamtschulen | |
gilt. | |
Bis zum Sommer braucht das Volksbegehren "für gute Schulen" über 600.000 | |
Unterschriften, um mehr Lernzeit für alle zu erstreiten (siehe Kasten). | |
"Wir wollen G9 als Regelfall", sagt Sprecherin Andrea Hesse. | |
Doch ausgerechnet vom Land Schleswig-Holstein, das auf den Elterndruck | |
reagiert, ist fast nur Negatives zu lesen. Zu kurzfristig, zu chaotisch sei | |
die Reform von FDP-Bildungsminister Ekkehard Klug. Der hat die 100 | |
Gymnasien des Landes aufgefordert, bis Ende März zu entscheiden, ob sie zum | |
G9 zurückkehren oder in einem "Y-Modell" beide Varianten anbieten wollen. | |
Klug ist das Feindbild der Opposition, Anfang Februar forderte die SPD gar | |
seinen Rücktritt, als der Entwurf für einen Erlass bekannt wurde, wonach | |
auch ärztliche Atteste über G8 oder G9 entscheiden sollten. | |
"Es ging um die ganz wenigen Fälle, wo es zu wenig G9-Plätze gibt und eine | |
Auswahl getroffen werden muss", erklärt sein Sprecher Thomas Schunck. Etwa, | |
wenn ein Schüler zur Dialyse müsse und dafür Zeit brauche. Die Formulierung | |
sei nicht tragbar gewesen, deshalb habe Klug sie sofort zurückgezogen. | |
Das Papier sollte ein Problem lösen. Zwar dürfen Eltern zwischen G8 und G9 | |
wählen, doch vor allem nach Letzterem ist die Nachfrage groß. "Es gibt in | |
Kiel Grundschulen, an denen sich 88 Prozent der Eltern gegen G8 | |
aussprechen", sagt Uwe Kock vom zuständigen Landeselternbeirat. | |
Er appelliert an Schulen und Schulträger, dies zu berücksichtigen. Doch nur | |
wenige Schulen sind bereit, das erst 2007 eingeführte G8-Modell zu ändern. | |
Dass diese Rückkehr machbar ist, hat das Friedrich-Weizsäcker-Gymnasium in | |
Barmstedt schon vorgemacht. Es ist eine von zwei Modellschulen, die schon | |
2010 neben zwei G8-Klassen eine G9-Klasse einrichteten. | |
"Die organisatorischen Probleme sind ausgesprochen überschaubar", sagt | |
Schulleiter Wolf-Rüdiger Salbrecht. Man sei mit der 2007 verfügten | |
Zwangseinführung des G8 unglücklich gewesen. Salbrecht: "Wir sind auf dem | |
Land und haben 80 Prozent Fahrschüler. Da stehen Elfjährige morgens um fünf | |
auf und sind erst um 17 Uhr wieder zu Hause." | |
In Barmstedt gab es einen Run auf die G9-Klasse. Per Los musste entschieden | |
werden, welche fünf Kinder gegen den Wunsch der Eltern im G8 starteten. Im | |
nächsten Jahr will Salbrecht vielleicht zwei G9-Klassen einrichten. | |
Allerdings wird das Gymnasium so zur Konkurrenz für die gerade erst | |
gestartete Gemeinschaftsschule am Ort. "Wir bieten auch das G9 an", sagt | |
deren Schulleiter Bernd Poepping. Die Gemeinschaftsschule nimmt alle Kinder | |
auf, vom Förderschüler bis zum Gymnasiasten. | |
Doch die Zahl der Kinder mit Gymnasialempfehlung kann Poepping fast an | |
einer Hand abzählen. Zweite Schwierigkeit: Auf dem Papier stehen ihm zwei | |
Gymnasiallehrer zu. Doch der Lehrermangel ist so groß, dass er die nicht | |
bekommt. | |
Poepping kann die Kritik am G8 nachvollziehen. Man müsse aber Stundentafel | |
und Lehrpläne entrümpeln und dafür sorgen, "dass jeder Gymnasialempfohlene | |
dies bewältigen kann". | |
Neun Jahre bis zum Abitur an Gesamt- und Gemeinschaftsschulen, acht Jahre | |
am Gymnasium, das ist eine vielerorts propagierte Formel. Eltern wie | |
Mareile Kirsch sind damit unzufrieden: "Ich verstehe nicht, warum ein Kind | |
am Gymnasium belastbarer sein soll als andere". | |
Die Initiative in Niedersachsen fordert bewusst für beide Zweige das G9. | |
"Alle Schüler brauchen das", sagt Andrea Hesse. | |
20 Feb 2011 | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
Kaija Kutter | |
## TAGS | |
Schule | |
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