| # taz.de -- Küstenschutz mit Salzwiesen: Gegen die Flut wächst ein Kraut | |
| > Der Meeresspiegel steigt und damit auch das Risiko für Sturmfluten. Auf | |
| > Spiekeroog untersuchen Forschende, wie Salzwiesen Küsten schützen können. | |
| Bild: Bei welcher Wellenkraft bricht das Salz-Schlickgras? Dafür sammeln Forsc… | |
| Spiekeroog taz | Wasser spritzt gegen das Bullauge der Fähre, als sie auf | |
| den Hafen der ostfriesischen Insel Spiekeroog zuschaukelt. Im schummrigen | |
| Licht versammeln sich die Passagier*innen unter Deck. Kara Keimer | |
| unterhält sich mit ihren Kolleg*innen über ihre Vorhaben auf der Insel. | |
| Seit einem Jahr fährt sie jeden Monat für vier Tage nach Spiekeroog, um | |
| Daten für ihre Promotion an der Universität Braunschweig zu sammeln. Die | |
| 29-jährige Umweltingenieurin erforscht, wie Salzwiesen, eine natürliche | |
| Landschaft [1][zwischen Meer und Land], dabei helfen können, die Küsten | |
| trotz steigendem Meeresspiegel zu schützen. | |
| In dem Projekt „Gute Küste Niedersachsen“ untersuchen Forscher*innen, wie | |
| natürliche Ökosysteme in den Küstenschutz einbezogen werden können. Denn im | |
| Gegensatz zu klassischen Küstenschutzbauten wie Deichen oder | |
| Hochwasserschutzmauern schützen Salzwiesen nicht nur die Küste auf | |
| natürliche Weise, sondern das Klima gleich mit. | |
| Keimer ist vorbereitet für die grauen Novembertage auf der Insel. Sie trägt | |
| festes Schuhwerk und einen Anorak mit neonoranger Kapuze. Ihre Haare hat | |
| sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Auf dem Weg von der Fähre ins | |
| Nationalparkhaus Wittenbülten, wo die Forscher*innen schlafen und das | |
| Labor nutzen können, zeigt sich die Insel von ihrer schönsten Seite: Links | |
| fällt der Blick auf sandige Dünen, rechts rauscht am Horizont die Nordsee. | |
| Eine Landschaft, die zunehmend von der Klimakrise bedroht ist. | |
| ## Küstenregionen in der Klimakrise | |
| Noch liegt Spiekeroog drei Meter über dem Meeresspiegel. Aber der steigt – | |
| im letzten Jahrhundert um knappe 20 Zentimeter. Der Weltklimarat geht davon | |
| aus, dass sich der Anstieg in Zukunft beschleunigen wird. Hauptgründe für | |
| den Anstieg sind die [2][schmelzenden Eismassen in Grönland] und der | |
| Antarktis. Außerdem erwärmt sich das Wasser in den Ozeanen und dehnt sich | |
| dadurch aus. Selbst wenn Treibhausgasemissionen gebremst werden, ist mit | |
| einem Anstieg von bis zu 90 Zentimetern bis zum Jahr 2150 zu rechnen. | |
| Küstenregionen weltweit haben dadurch zunehmend mit großen | |
| Herausforderungen zu kämpfen. So auch die ostfriesischen Inseln, zu denen | |
| Spiekeroog gehört. Durch die höheren Wasserstände und stärkere | |
| Wellenenergie frisst sich das Meer immer weiter ins Land. Sturmfluten | |
| werden stärker und häufiger. Salzwasser dringt ins Grundwasser ein und | |
| [3][gefährdet dadurch die Trinkwasserversorgung] und landwirtschaftliche | |
| Nutzung der Regionen. | |
| Aktuelle Schutzmaßnahmen wie Deiche und Mauern könnten zukünftig nicht mehr | |
| ausreichend Schutz bieten. Sie zu sanieren und an die steigenden | |
| Wasserstände anzupassen, ist sehr kostspielig: Über 60 Millionen Euro | |
| stellte das niedersächsische Umweltministerium 2020 für Investitionen in | |
| den Küstenschutz bereit, beispielsweise um die Deiche sicherer zu machen. | |
| Hier kann die krautige Landschaft zwischen Meer und Land, die Kara Keimer | |
| untersucht, helfen. Sie dient als Pufferzone zwischen Meer und Deich. | |
| Wellen werden gebremst und verlieren dadurch an Energie. Folglich werden | |
| die Wellen kleiner und Deiche müssen weniger hoch gebaut werden. Dadurch | |
| könnten Millionenbeträge gespart werden. | |
| Als Schutz bei Sturmfluten haben sich Salzwiesen schon während der | |
| [4][Jahrhundertflut 1953] bewährt, die vor allem die niederländischen, | |
| englischen und belgischen Küsten traf. [5][Wissenschaftliche Berechnungen] | |
| stellten fest, dass die Salzwiesen vor den Deichen dafür sorgten, dass | |
| diese weniger tief durchbrachen. | |
| ## Salzwiesen erhalten die Artenvielfalt | |
| Das liegt vor allem an den über 45 Pflanzenarten, die auf den Salzwiesen | |
| wachsen. Oberirdisch bremsen ihre Halme heranrollende Wellen, ihre Wurzeln | |
| stabilisieren den Boden. Im Winter, wenn die Sturmfluten am gefährlichsten | |
| werden, sind zwei Pflanzen besonders dominant: das Salz-Schlickgras und die | |
| Kriech-Quecke. Sie werden über einen Meter hoch und sehen aus wie Getreide | |
| im Watt. Keimer bevorzugt die lateinischen Namen: Spartina anglica und | |
| Elymus. Diese zwei Arten untersucht sie für ihre Promotion. Doch bevor die | |
| Forscherin die Pflanzen im Labor analysieren kann, muss sie in die | |
| Salzwiesen und Proben sammeln. | |
| Es ist still auf der Insel, als sich Keimer und ihr studentischer | |
| Mitarbeiter aus dem Haus schleichen. Gegen sieben Uhr begegnen sie | |
| niemandem auf der Insel. Die beiden haben einen langen Tag vor sich. In | |
| Gummistiefeln laufen sie einen schmalen Weg entlang, auf dem jeder ihrer | |
| Schritte im Matsch schmatzt. In der Dämmerung sind kaum Farben zu erkennen. | |
| Der Pfad windet sich vorbei an Grasbüscheln und durch Schlammlöcher, ein | |
| falscher Schritt und man kann knietief im Boden versinken. Aber den beiden | |
| ist der Weg vertraut. | |
| Durch die häufige Überflutung der Salzwiesen mit Meerwasser hat der Boden | |
| hier einen sehr hohen Salzgehalt. Pflanzen wie das Salz-Schlickgras oder | |
| die Kriech-Quecke haben spezielle Strategien entwickelt, um trotz des | |
| vielen Salzes zu überleben. „Im Sommer sehen die Salzwiesen wunderschön aus | |
| – alles blüht“, erzählt Kara Keimer. Im November geben die Halme der Grä… | |
| ein eher tristes Bild ab und verschwimmen zu einer graubraunen Fläche. | |
| Für die Tier- und Pflanzenwelt sind sie ein besonders wertvoller | |
| Lebensraum: Rotschenkel und Ringelgans sind nur zwei der circa 50 | |
| Vogelarten, die Salzwiesen zum Brüten, Rasten oder als Futterplatz nutzen. | |
| Und auch ungefähr 1.650 Arten Krabbeltiere wie die Gelbe Wiesenameise oder | |
| der Prächtige Salzkäfer leben hier. | |
| Gleichzeitig tragen bewachsene Küstensysteme wie Salz- und Seegraswiesen | |
| oder [6][Mangrovenwälder] maßgeblich zum Klimaschutz bei, da sie CO2 aus | |
| der Atmosphäre aufnehmen. Das Kohlenstoffdioxid wird in organisches | |
| Material umgewandelt und in Biomasse, Böden und Sedimenten gespeichert. Die | |
| wässrigen, sauerstoffarmen Böden verlangsamen den Abbau des organischen | |
| Materials – und verhindern so, dass das CO2 wieder in die Atmosphäre | |
| gelangt. Durch die besondere Bedeutung dieser Küstensysteme für den | |
| Kohlenstoffkreislauf hat sich in der Wissenschaft der Begriff „Blue Carbon“ | |
| etabliert. | |
| „Ich schau mir mal die Boje an“, ruft Keimer ihrem Kollegen zu und läuft | |
| weiter Richtung Meer. Viele Worte wechseln die beiden nicht. Als | |
| eingespieltes Team kennen sie die Abläufe. Während er sich in die Wiese | |
| hockt und beginnt, einzelne Halme mit der Gartenschere abzuknipsen, läuft | |
| sie zur Wasserkante. Auf dem sandigen Boden reiht sich eine Pfütze an die | |
| nächste, die Luft riecht schlammig. Keimer bleibt stehen. Sie hat die | |
| unscheinbare kleine Plastikbox entdeckt, die mit einer Angelschnur an einem | |
| Anker befestigt ist – die Mini-Boje. | |
| Wenn die Flut kommt und die Wiese überspült, misst ein Sensor in der Boje, | |
| wie lange sie unter Wasser steht. Je nach Wetterbedingungen und Jahreszeit | |
| können es mehrere Stunden täglich oder keine Überflutung innerhalb von | |
| Tagen sein. Jedes Mal, wenn sich die Wellen über die Salzwiese wälzen, | |
| bringen sie kleine Sedimentteilchen mit, die sich absetzen und eine Schicht | |
| aus feinem Schlamm bilden. | |
| Durch diesen Vorgang wachsen die Salzwiesen Jahr für Jahr ein Stück in die | |
| Höhe. Bis zu einem Zentimeter wachsen sie in zwölf Monaten an. Sie steigen | |
| also – wie auch der Meeresspiegel. Ob sie mit dem Wasser mithalten können, | |
| ist allerdings noch unklar. | |
| ## Mit steifen Halmen gegen die Wellen | |
| Umso wichtiger ist es, den naturbasierten Küstenschutz zu verstehen. Als | |
| naturbelassene Insel eignet sich Spiekeroog dafür besonders. Denn nur da, | |
| wo sich die Natur frei entfaltet, kann sie auf ihre Umwelt reagieren. Im | |
| Gegensatz zu Stränden, an denen Menschen ein Bauwerk neben das nächste | |
| gesetzt haben, hat die Natur auf der kleinen Nordseeinsel Raum. So sprießen | |
| auf Spiekeroog nicht nur die Salzwiese, auch die weitläufige | |
| Dünenlandschaft, die Kolleg*innen von Keimer untersuchen, wächst. Sie | |
| bilden ein Bollwerk gegen den Sturm und dienen ebenfalls als Lebensraum für | |
| zahlreiche Tier- und Pflanzenarten, die am liebsten ungestört bleiben. | |
| Zurück im Labor schneidet Keimer die gesammelten Halme in acht Zentimeter | |
| lange Stücke. Sie möchte wissen, welcher Kraft die Halme standhalten, um | |
| herauszufinden, bei welcher Wellenkraft sie brechen. Um das zu messen, legt | |
| sie die Pflanzenschnipsel auf eine Materialprüfmaschine. Sie misst die | |
| Flexibilität – oder die Steifigkeit, wie die Forscherin sagt – vom unteren | |
| Teil der Pflanze bis zur Spitze. Mehrere Stunden lang legt sie beharrlich | |
| Schnipsel für Schnipsel auf die Maschine, dazwischen greift sie immer | |
| wieder nach Keksen und Gummibärchen hinter sich. | |
| Anhand der Ergebnisse wollen Keimer und ihre Kolleg*innen besser | |
| verstehen, wie die Pflanzen mit dem Meer interagieren: „Wenn wir die | |
| Pflanzen mechanisch analysieren, dann können wir die Interaktionen zwischen | |
| den Wellen und der Vegetation besser verstehen“, erzählt sie. | |
| Anhand von Pflanzenmodellen, die sie im Labor nachbauen, und mithilfe von | |
| künstlich erzeugten Wellen können sie simulieren, wie das Wasser die | |
| Pflanzen umströmt – und wie sich die Vegetation auf die Wellen auswirkt. So | |
| lernen sie von Salz-Schlickgras und Kriech-Quecke, wie die Küste geschützt | |
| werden kann und wie sich Salzwiesen in Zukunft noch besser in den | |
| Küstenschutz integrieren lassen. Stellenweise sei im [7][niedersächsischen | |
| Wattenmeer] schon zu beobachten, dass sich an künstlich angelegten | |
| Salzwiesen natürliche Salzwiesen bilden. | |
| 4 Feb 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Konferenz-zum-Schutz-des-Wattenmeeres/!5898268 | |
| [2] /Schmelzende-Gletscher/!5904265 | |
| [3] /Weltwasserbericht-der-Vereinten-Nationen/!5840188 | |
| [4] /Kuestenschutz-in-Grossbritannien-und-den-Niederlanden/!5909275 | |
| [5] https://www.nioz.nl/en/news/historic-floods-reveal-how-salt-marshes-can-sav… | |
| [6] /Ammoniakproduktion-in-Mexiko/!5882479 | |
| [7] /LNG-Terminal-in-Wilhelmshaven/!5884134 | |
| ## AUTOREN | |
| Thea Marie Klinger | |
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