# taz.de -- Schmelzende Gletscher: Grönland bald grün | |
> Der Eisschild der größten Insel der Welt schmilzt schneller, als viele | |
> dachten. Das Gletscherwasser enthüllt dabei lange Verborgenes. | |
Bild: Für viele Schollen wird das Eis dünner | |
BERLIN taz | Wissenschaftler:innen, die im T-Shirt und Shorts Volleyball | |
spielen, eine Landebahn, die so angetaut ist, dass mit Kufen ausgestattete | |
Flugzeuge nicht auf ihr landen können: Schon wieder gab es in diesem Sommer | |
Nachrichten über Temperaturrekorde in Grönland. | |
Auf der Forschungsstation Summit Station, auf der die | |
Durchschnittstemperaturen auch in den wärmsten Monaten des Jahres nicht | |
über minus 10 Grad Celsius steigen, wurde 2012 der bislang ungeschlagene | |
Rekord von 2,2 Grad gemessen. Auch im Sommer 2021 lagen die Temperaturen | |
knapp über null, und es regnete – extrem ungewöhnlich für die 3.216 Meter | |
Höhe, auf denen die Station liegt. | |
Seit einem Vierteljahrhundert schmilzt in den grönländischen Sommern | |
[1][mehr Eis weg], als in den Wintern dazukommt. Allein zwischen dem 15. | |
und dem 17. Juli dieses Jahres schmolzen pro Tag sechs Milliarden Tonnen | |
Wasser, also über 7,2 Millionen olympische Schwimmbecken an einem | |
Wochenende. „Unsere [2][Vorstellung vom ewigen Eis] müssen wir überdenken�… | |
sagt Angelika Humbert, Glaziologin am Alfred-Wegener-Institut in | |
Bremerhaven. | |
Mit Hilfe von Computermodellen erforscht Humbert das Abschmelzen des | |
Grönlandeises. Neben Flugzeugradar- und Satellitenbildern kommen für diese | |
Modelle auch Daten aus Eisbohrkernen zum Einsatz. Ihre langen Zylinder sind | |
wie ein 2.000 Jahre altes Klimaarchiv. Winter- und Sommerschnee sehen | |
unterschiedlich aus und markieren so die einzelnen Jahre. In einem Bohrkern | |
aus dem Bereich der Summit Station sind neun einzelne Jahre erkennbar, in | |
denen eine Schmelzschicht aus Wasser auf dem Eis lag. Die ersten sechs | |
Jahre sind 244, 753, 758, 992, 1094 und 1889. Die letzten drei sind 2012, | |
2019 und 2021. | |
## Große Wasserflächen in Grönland | |
2014 tropfte in Grönland plötzlich Wasser aus einem dieser Kerne. | |
„Skurril“, sagt Angelika Humbert. Denn normalerweise, erklärt sie, sei der | |
Firn kalt genug, dass das über den Sommer in den Gletscher hineingelaufene | |
Wasser im Winter wieder gefriere. | |
Firn ist mindestens ein Jahr alter Schnee, der zwischen dem Gletschereis | |
und der frischen Schneedecke liegt. Durch Druck wird er über die Jahre zu | |
neuem Gletschereis. | |
Die Wassertafel erstreckt sich in Grönland über Tausende von | |
Quadratkilometern und ist für die Wissenschaft ein weiteres Indiz, dass die | |
Gletscher immer schneller schmelzen. Während in der Antarktis Eis vor allem | |
durch das Kalben der Gletscher, also ihr Abbrechen ins Meer, verloren geht, | |
ist es in Grönland das Schmelzen an der Oberfläche. | |
Allein durch die Kraft des Nordöstlichen Eisstroms, genannt Negis, könnte | |
der Meeresspiegel um 13 bis 15 Millimeter ansteigen. Dieser transportiert | |
Eis und Schmelzwasser aus dem Landesinneren an die Küste. Bis vor Kurzem | |
ging die Forschung noch von 1,5 bis 3 Millimeter Anstieg durch den Negis | |
aus. Denn normalerweise bremsen ihn Gletscher wie der Zachariae Isstrøm. | |
Wenn diese schmelzen, schwindet jedoch ihre Bremskraft. Das Fachblatt | |
[3][Nature veröffentlichte im November eine Studie] zu dem Thema. | |
## Rechenmodelle bilden Unsicherheiten nicht ab | |
Co-Autorin Angelika Humbert ist frustriert, wie weit ihre Computermodelle | |
immer noch danebenliegen: „Wir haben uns diese Systeme lange zu einfach | |
vorgestellt.“ Das Problem sei, dass Modelle zum Rechnen oft eine Linearität | |
bräuchten, also dass die Veränderung eines Faktors zu einer proportionalen | |
Veränderung eines weiteren Faktors führe. | |
Das sei in der Realität aber oft nicht so. „Die Abschätzung von | |
Unsicherheiten ist unglaublich schwer“, erklärt Humbert. Die Forschung | |
müsse dafür noch viel genauer verstehen, wie Gletscher sich bewegen und wie | |
ihr Kalben funktioniert. | |
Das [4][Abschmelzen der Grönländischen Gletscher] wird, wie andere | |
Klimaereignisse auch, durch sogenannte Feedback-Loops bestimmt. Ein | |
besonders wichtiger Mechanismus ist das sogenannte Melt-elevation Feedback, | |
das man mit Schmelz-Höhen-Rückkopplung übersetzen könnte. | |
Wissenschaftler:innen benutzen bei der Erklärung dieses Kreislaufs das | |
Bild vom Bergsteigen: Je tiefer man von oben ins Tal steigt, desto wärmer | |
wird es. Ähnliches passiert mit dem Eis: Je mehr in den hohen Lagen | |
schmilzt, desto tiefer sinkt der Gipfel und erreicht wärmere Luftschichten, | |
was das Schmelzen wiederum beschleunigt. | |
## Grönlandeis ist als Kipppunkt relativ gut erforscht | |
Dieser sich selbst verstärkende Effekt ist ein sogenannter positiver | |
Feedback-Loop. Ein negativer Feedback-Loop ist, dass wärmere Luft mehr | |
Feuchtigkeit aufnimmt und es dadurch auf dem grönländischen Eisschild mehr | |
schneit. Dieser Schnee wird im Laufe der Zeit nicht nur zu neuem Eis. Seine | |
Helligkeit sorgt außerdem dafür, dass mehr Sonnenlicht reflektiert wird, | |
als das bei grauem Eis der Fall ist. Ein solcher Kreislauf wirkt der | |
Erwärmung des Eises also entgegen. | |
„Positive und negative Feedback-Loops spielen gegeneinander“, erklärt | |
Niklas Boers. Der Physiker forscht am Potsdam Institut für | |
Klimafolgenforschung und an der Technischen Universität München zu | |
[5][Erdsystemen und deren Kipppunkten]. Das globale Klimasystem hat | |
unterschiedliche überregionale Bestandteile wie das Grönlandeis oder den | |
[6][Amazonas]. Wenn durch den menschengemachten Klimawandel bei einem | |
dieser Bestandteile eine kritische Schwelle erreicht wird, führt das zu | |
großskaligen, praktisch unumkehrbaren Veränderungen im Klimasystem. | |
Trotz der Überraschungen, mit denen sich die Glaziolog:innen in den | |
letzten Jahren herumschlagen mussten, sei das Grönlandeis laut Boers noch | |
einer der relativ gut verstandenen Kipppunkte. „Die Modelle zeigen, dass es | |
einen kritischen Temperaturwert gibt, an dem der aktuelle Zustand des | |
Eisschilds seine Stabilität verliert.“ | |
Doch anders als etwa beim Kipppunkt des Amazonas-Regenwalds sind die | |
Zeitskalen, auf denen die Gletscherschmelzen ablaufen, sehr groß. Das macht | |
es für die Forschung kompliziert. Boers benutzt das Bild einer Treppe: | |
„Möglicherweise haben wir zunächst einen Meter Meeresspiegelanstieg, | |
gefolgt von einer Stabilisierung des Systems bei geringerer Höhe des | |
Eisschilds, bis der nächste kritische Schwellenwert erreicht wird und so | |
weiter.“ | |
## Schmelzendes Grönlandeis hat anderswo Folgen | |
Wie sehr die Erdsysteme miteinander zusammenhängen, zeigt der Einfluss des | |
schmelzenden Grönlandeises auf einen anderen Kipppunkt: die Atlantische | |
Umwälzzirkulation, auch AMOC genannt. Sie verbindet die Ozeane auf dem | |
Planeten zu einem globalen Kreislauf. Warmes Wasser fließt im Atlantik aus | |
den Tropen in Richtung Norden. Dort kühlt es ab und sinkt nach unten, weil | |
kaltes und salzhaltiges Wasser schwerer ist. | |
Süßwasser aus den schmelzenden Gletschern verändert jedoch den Salzgehalt | |
im Meer und könnte so dazu beitragen, dass diese Zirkulation gestört wird | |
oder sogar abbricht. Wann das passieren wird, ist unklar. Sicher ist, darin | |
sind sich weltweit Wissenschaftler:innen einig, dass jedes Gramm CO2 | |
in der Atmosphäre die Wahrscheinlichkeit für das Erreichen dieser | |
Kipppunkte erhöht. | |
Wann genau also Grönland grün wird, ist ungewiss. Umso klarer ist jedoch, | |
dass der große weiße Fleck am nördlichsten Ende der Welt nicht auf ewig | |
weiß bleibt – und viele Küstengebiete weltweit verschwinden werden. | |
20 Jan 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Eis-in-Groenland-schmilzt/!5891319 | |
[2] /Die-Wahrheit/!5898985 | |
[3] https://www.nature.com/articles/s41586-022-05301-z | |
[4] /Folgen-des-Klimawandels/!5907127 | |
[5] /Klimaforscherin-ueber-Kipppunkte/!5904202 | |
[6] /Studie-zur-Klimakrise/!5839664 | |
## AUTOREN | |
Teresa Wolny | |
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