| # taz.de -- Klimaforscherin über Kipppunkte: „Die Bauklötze stürzen ein“ | |
| > Klimaforscher:innen reden von unterschiedlich vielen Kipppunkten. | |
| > Ricarda Winkelmann erklärt, warum das so ist, und räumt mit Unklarheiten | |
| > auf. | |
| Bild: Eine Straße verbindet illegale Goldgräber-Gruben in einem der größten… | |
| taz: Frau Winkelmann, was sind „Kipppunkte im Weltklimasystem“? | |
| Ricarda Winkelmann: Das Überschreiten von Kipppunkten gehört zu den größten | |
| Risiken des menschengemachten Klimawandels. Denn zentrale Teile des | |
| Klimasystems – wie etwa die Eisschilde von Grönland und der Antarktis, die | |
| atlantische Ozeanzirkulation oder der Amazonas-Regenwald – können höchst | |
| nichtlinear reagieren: Wenn diese Systeme sich erst einmal in einem | |
| kritischen Zustand befinden, also nahe ihres Kipppunktes, reicht eine | |
| kleine Störung, wie zum Beispiel eine kleine Änderung in der Temperatur, | |
| aus, um weitreichende, teils unumkehrbare Folgen auszulösen. Man kann das | |
| auch mit einem Turm aus Bauklötzen vergleichen: Noch ein Klotz oben drauf | |
| und noch einer – das geht lange gut. Doch irgendwann fängt der Turm an zu | |
| wackeln und schließlich stürzt er ein. | |
| Wann wurden solche Kippelemente im Klimasystem entdeckt? | |
| Tatsächlich gab es bereits im vergangenen Jahrhundert ein tiefes | |
| Verständnis für Kippelemente und die Mechanismen, die | |
| selbstverstärkenden Änderungen im Klimasystem führen können. In einer | |
| [1][Studie im Jahr 2008] wurden dann erstmals systematisch eine ganze Reihe | |
| solcher potenzieller Klima-Kippelemente identifiziert. Seitdem sind | |
| zahlreiche Studien erschienen, die sowohl aus Beobachtungsdaten lange | |
| zurückliegender Zeiträume als auch mit immer ausgefeilteren | |
| theoretischen Methoden und Modellen die Existenz solcher Kippelemente | |
| immer weiter bestätigt haben. | |
| Eine Gruppe von Kippelementen sind Arktis und Antarktis. Was genau kann | |
| dort kippen und warum wäre das unumkehrbar? | |
| Beide Eisschilde haben über die letzten Jahrzehnte zunehmend an Masse | |
| verloren. In Grönland ist eine der Hauptursachen hierfür verstärktes | |
| Schmelzen an der Eisoberfläche – dieses kann ab einem bestimmten Punkt eine | |
| selbstverstärkende Dynamik auslösen. Den Mechanismus dahinter kennen wir | |
| vom Bergsteigen: Wenn man vom Gipfel ins Tal hinabsteigt, wird es immer | |
| wärmer um einen herum. Genauso ist es bei der Eisoberfläche. Durch das | |
| Schmelzen kann auch diese in tiefere Lagen und damit wärmere Schichten | |
| gelangen, dadurch kommt es zu weiterem Schmelzen, die Eisoberfläche sinkt | |
| weiter ab – und so weiter und so fort. Ab einem bestimmten Punkt lässt sich | |
| diese Rückkopplungsschleife vermutlich kaum noch aufhalten. Doch wichtig | |
| ist: Auch wenn der Eisverlust auf langen Zeitskalen geschieht, die | |
| entsprechende Menge von CO2 in unserer Atmosphäre, die diesen Prozess | |
| anstößt, könnten wir schon in naher Zukunft erreichen. [2][Unser Handeln | |
| heute entscheidet] daher darüber, wie sich das Gesicht unseres Planeten | |
| über Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende verändert. | |
| Was gibt es noch für Kippelemente? | |
| Zu den Kippelementen gehören neben den Eisschilden auch wichtige | |
| Ozean-Strömungssysteme wie die Atlantikzirkulation und Teile der Biosphäre, | |
| wie zum Beispiel der Amazonas-Regenwald. Ein großer Teil des Niederschlags | |
| dort stammt aus dem Wasser, das über dem Wald verdunstet. [3][Sterben Teile | |
| des Regenwalds] – durch Hitze und Dürre oder durch Abholzung –, können au… | |
| hier selbstverstärkende Prozesse in Gang gesetzt werden. Schlussendlich | |
| kann dies dazu führen, dass diese für uns alle so wichtige Kohlenstoffsenke | |
| zu einer Kohlenstoffquelle wird, also der Amazonas-Regenwald den | |
| gespeicherten Kohlenstoff wieder freigibt. Das heizt den Klimawandel weiter | |
| an. | |
| Sind die einzelnen Kippelemente in sich geschlossene Klimasysteme oder | |
| hängt alles miteinander zusammen? | |
| Das Klimasystem ist höchst interaktiv, die einzelnen Teile stehen in | |
| ständiger Wechselwirkung miteinander. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn | |
| große Teile [4][des grönländischen Eisschildes schmelzen] und das | |
| Schmelzwasser in den Ozean gelangt, kann dies die Atlantikzirkulation | |
| verlangsamen. Diese Zirkulation versorgt Europa wie eine Wärmepumpe mit | |
| Energie aus der Karibik. Eine Abschwächung der Atlantikzirkulation hätte | |
| damit direkte Konsequenzen auch für unser Klima hier in Deutschland. | |
| Die Wissenschaft benennt mal 16 Kippelemente im Weltklima, mal 17, dann | |
| wieder 19. Wie viele sind es denn nun? | |
| In einer unserer letzten Studien zum Thema identifizieren wir 16 | |
| Kippelemente. Sie sind unterteilt in globale Kippelemente, deren | |
| Veränderung sich auf das gesamte Weltklimasystem auswirkt, und in regionale | |
| Kippelemente, wie etwa [5][das Korallensterben] oder der Verlust von | |
| Gebirgsgletschern. Ob man insgesamt einige Kippelemente mehr oder weniger | |
| zählt, hängt im Detail von der jeweils verwendeten Definition ab. | |
| [6][Die Studie], an der Sie mitgeforscht haben, hat für recht viel Aufsehen | |
| gesorgt. Was war das Ergebnis? | |
| Unsere Studie zeigt, dass die Begrenzung auf zwei Grad Temperaturanstieg | |
| nicht ausreicht, um alle Kippelemente stabil zu halten. Insbesondere für | |
| die Eisschilde, die Korallen und den Permafrost könnte das schon zu viel zu | |
| sein. | |
| Ein Grad mehr, zwei Grad mehr oder drei Grad mehr – woher wissen wir, bei | |
| welcher Temperatur ein Kipppunkt liegt? | |
| Ganz genau können wir die kritischen Schwellenwerte zwar noch nicht | |
| abschätzen, klar ist jedoch: Jedes Zehntelgrad mehr erhöht das Risiko, dass | |
| einzelne Kipppunkte im Klimasystem überschritten werden. Insbesondere | |
| deuten erste Risikoanalysen darauf hin, dass die Gefahr von möglichen | |
| Klima-Domino-Effekten, bei der ein Kipppunkt einen anderen auslöst, bereits | |
| im Temperaturbereich des Pariser Klimaabkommens zwischen 1,5 und 2 Grad | |
| deutlich zunimmt. | |
| Ist das Pariser Klimaabkommen mit dem Beschluss, dass die globale | |
| Durchschnittstemperatur nicht mehr als „möglichst 1,5 Grad“ ansteigen darf, | |
| auch ein Erfolg für die Wissenschaft? | |
| Es ist ein entscheidender Anfang. Wenn die [7][Ziele des Pariser | |
| Klimaabkommens] erreicht werden, können die schlimmsten Konsequenzen | |
| vermutlich noch abgewendet werden. Doch dafür müssen wir unsere gemeinsamen | |
| Anstrengungen drastisch verstärken, um die Treibhausgasemissionen bis | |
| 2030 um die Hälfte zu reduzieren und bis 2050 netto null zu erreichen. | |
| 8 Jan 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.0705414105 | |
| [2] /Klimaforscher-ueber-Doomism/!5902230 | |
| [3] /Braende-in-Argentinien/!5901151 | |
| [4] /Eis-in-Groenland-schmilzt/!5891319 | |
| [5] /Aegyptischer-Klimaforscher-ueber-sein-Land/!5896040 | |
| [6] https://www.science.org/doi/10.1126/science.abn7950 | |
| [7] /Klimaneutral-2030-im-Parlament/!5855241 | |
| ## AUTOREN | |
| Nick Reimer | |
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