| # taz.de -- Künftiger Kanzler Olaf Scholz: Der Unauffällige | |
| > Olaf Scholz' Karriere verlief ohne Brüche und Dramen – am Mittwoch will | |
| > sich der Sozialdemokrat zum Bundeskanzler wählen lassen. Wie wird er | |
| > regieren? | |
| Bild: Leben in Schwarz-Weiß: Olaf Scholz am 11.11. im Bundestag | |
| Bis vor vier Tagen war Olaf Scholz öffentlich in der Coronadebatte fast | |
| unsichtbar. Seit Dienstag ist der Mann, der bald der vierte SPD-Kanzler der | |
| Republik wird, medial omnipräsent. Am Dienstag verteidigt er [1][in den | |
| „Tagesthemen“] leicht gereizt die Coronamaßnahmen der Ampel. Am Mittwoch | |
| wirbt er [2][bei Joko und Klaas auf Pro 7] fürs Impfen. „Es ist mir | |
| bewusst, dass jung sein und Abstand halten nicht gut zusammenpassen“, sagt | |
| er. Ein lässiger, konzentrierter Auftritt. Am Donnerstag erklärt er im | |
| [3][Zeit-Interview], wie er regieren wird. „Es soll ums Machen gehen“. | |
| Scholz, der Macher. So sieht er sich selbst gern. | |
| Am Dienstag tritt er auch bei Bild-TV auf und erklärt, warum er als Kanzler | |
| eine Impfpflicht einführen wird. Die hatte er vor drei Monaten noch für | |
| überflüssig gehalten. Warum, fragt der Bild-Journalist, soll man ihm | |
| vertrauen, wenn er als Kanzler dieses Versprechen bricht? Scholz hebt den | |
| Finger, zeigt auf sein Gegenüber und sagt: „Sie sollen mir vertrauen“. | |
| Die Geste, mit dem Finger meist auf das Publikum zu zeigen, benutzen | |
| US-Politiker oft, um tatkräftig zu wirken. Bei Scholz wirkt diese Gebärde | |
| wie ausgeliehen. Wie einstudierte Spontanität. Olaf Scholz arbeitet an | |
| sich. Er will nicht mehr so steif wirken, weniger gedrechselt reden. Er hat | |
| seinen Dresscode verändert. Öfter mal keine Krawatte und ein offenes Hemd. | |
| Es ist die Art von Lockerheit, die hart erarbeitet wirkt. | |
| Es gibt über den künftigen Kanzler der Ampelregierung keine Biografie. Das | |
| ist erstaunlich, denn an Politikerbiografien herrscht kein Mangel. Es gibt | |
| Bücher über Armin Laschet und Markus Söder, Wolfgang Kubicki und Sahra | |
| Wagenknecht und über Robert Habeck gleich zwei. | |
| ## Nix Privates | |
| Scholz fehlt in dieser Reihe. Er redet ungern und wenig über sich selbst. | |
| Fragen nach seinen Eltern und Brüdern, ein Arzt und ein Geschäftsführer in | |
| einer IT-Firma, blockt er ab. Das Bild, das jene entwerfen, die sich an ihn | |
| als Schüler, als dogmatischen Stamokap-Juso und Anwalt für Arbeitsrecht | |
| erinnern, wirkt graustichig. Keine farbigen Anekdoten, keine Prägungen, die | |
| Besonderheiten erklären. | |
| Privates ist über ihn kaum zu erfahren. Er ist mit dem Auto zu schnell | |
| unterwegs. „Fahr nicht mit Olaf“ war bei Hamburgs SozialdemokratInnen ein | |
| geflügeltes Wort. Früher neigte er zum Dicklichen, jetzt wirkt er drahtig. | |
| Er joggt und rudert regelmäßig. Er hat seinen Körper in Form gebracht. | |
| Nicht wie Joschka Fischer, als Drama von abwechselnden Sport- und | |
| Essensexzessen, sondern diszipliniert und planmäßig. Das Leben von Olaf | |
| Scholz hat nichts Grelles. | |
| Es gibt nur einen Bruch in seiner politischen Biografie – er hat sich vor | |
| 30 Jahren vom dogmatischen Marxisten in eine Mitte-Sozialdemokraten | |
| verwandelt. Auch das geschah still, ohne Drama. Sonst gibt es bei Scholz | |
| keine Höhenflüge, keine Abstürze. Ein Leben in Schwarz-Weiß. Auffällig an | |
| Olaf Scholz ist seine Unauffälligkeit. | |
| Aber man kennt ihn. Er gehört seit 20 Jahren zum politischen Inventar der | |
| Republik. Nach 2002 war er Gerhard Schröders Generalsekretär. Ein Job im | |
| Hintergrund, ohne Ruhm, aber mit Einfluss. Scholz’ Neigung, mit Floskeln | |
| die Agenda 2010 zu verteidigen, war berüchtigt. In der SPD wurde er nie | |
| sonderlich gemocht, bei Parteitagen bekam er oft miese Ergebnisse. | |
| Allerdings lobten alle Sozialdemokraten seine Arbeit in der | |
| Antragskommission vor Parteitagen. | |
| Ab 2007 war er zwei Jahre ein effizienter Arbeitsminister, der in der | |
| Finanzkrise mit Kurzarbeitergeld Jobs rettete. 2011 wurde er mit absoluter | |
| Mehrheit zum Ersten Bürgermeister von Hamburg gewählt, wo er wie ein König | |
| regierte – bis er 2018 als Vizekanzler und Finanzminister zurück in die | |
| Bundespolitik ging. Man kennt Olaf Scholz, so wie ein Möbelstück, das schon | |
| immer im Flur stand. Gewöhnlich, funktional, vertraut. | |
| Wie wird er regieren? Wie Merkel, zurückhaltend, und im Vertrauen auf die | |
| Macht der Moderation? Oder härter, riskanter, „männlicher“? Es gibt ein | |
| paar widersprüchliche Geschichten über ihn, die sich zu Bildern verdichtet | |
| haben. Der Besserwisser. Der Machtmensch, der alles kontrolliert. Oder: Wie | |
| Merkel, aber mit Plan. | |
| Der Grüne Till Steffen kennt Olaf Scholz aus seiner Zeit in Hamburg. Die | |
| Koalitionsverhandlungen 2015 hat Steffen, unter Scholz Justizsenator, in | |
| unschöner Erinnerung. Scholz dozierte stundenlang, die Grünen machten | |
| keinen Stich. „Er wollte uns zeigen, wo der Hammer hängt“, so Steffen. | |
| Das politische Handwerkszeug für solche Machtdemonstration hatte Olaf | |
| Scholz bei den Jusos gelernt. Dazu gehört auch, vor Sitzungen immer | |
| Vorgespräche zu führen. Nie unvorbereitet zu sein. Und lange zu reden, um | |
| wenig Zeit für Einsprüche zu lassen. Auch manche Sozialdemokraten haben | |
| Scholz’ ausufernde Referate in unguter Erinnerung. Scholz war in Hamburg | |
| ein Kontroll-Freak. SPD-Senatoren mussten sich bei Bund-Länder-Gesprächen | |
| auch Kleinigkeiten von ihm absegnen lassen. Für die Anweisung von oben gab | |
| es in der Hamburger Verwaltung ein Kürzel. OWD. Olaf will das. | |
| Dieses Bild hat zwei Seiten: Positiv gesehen ist er ein Perfektionist wie | |
| Angela Merkel. Jemand, der gut informiert ist und auch das Kleingedruckte | |
| gelesen hat. Negativ gewendet ist er der König, der niemandem traut und | |
| allen zu verstehen gibt, dass er es besser weiß. Und der wie in einem Spiel | |
| testet, wie weit er seine Macht ausdehnen kann. | |
| Ein Drehpunkt in diesem Spiel war der G20-Gipfel in Hamburg im Juli 2017. | |
| Scholz hatte alle Zweifel, ob Hamburg der richtige Ort dafür wäre, beiseite | |
| gewischt. Er strebte nach der gescheiterten Olympiabewerbung auf die große | |
| Bühne. Die Hamburger, so sein Versprechen, würden von dem Gipfel nichts | |
| merken. Es kam anders. Es gab Randale, Verletzte, brennende Autos. Ein | |
| Debakel für Scholz. G20 war anders [4][als die Warburg-Cum-Ex-Affäre], bei | |
| der Scholz eisern seine Unschuld behauptet. Anders [5][als der | |
| Wirecard-Skandal], bei dem die Bafin versagte, die dem Finanzministerium | |
| unterstand. | |
| Das G20-Chaos war ein Dementi seines Selbstbilds – der Macher, der plant, | |
| präzise abwägt, der alles kontrolliert und im Griff hat. Er entschuldigte | |
| sich widerwillig in der Bürgerschaft für das Debakel. Seitdem hat | |
| allerdings das Wort Demut Eingang in seinen Wortschatz gefunden. Vielleicht | |
| hat Scholz verstanden, dass auch seine Hybris ein Störfaktor in seinen | |
| Plänen sein kann. | |
| Das Selbstherrliche hat jedenfalls Grenzen. Loyalität zum Beispiel. „Er hat | |
| sich nie öffentlich negativ über Senatoren und Senatorinnen geäußert“, sa… | |
| Steffen, der als Hamburger Justizsenator oft unter Beschuss stand. | |
| Seine Fans halten Scholz für Merkel mit Plan. Das hat der Stern 2015 über | |
| ihn geschrieben. Merkel und Scholz sind ultrapragmatisch und schauen | |
| distanziert auf ihre Parteien. Scholz aber, so die freundliche These, | |
| handle nicht nur situativ wie Merkel, sondern weitsichtiger. | |
| Dafür gibt es Beispiele. 2017 hat Scholz die SPD-Niederlage analysiert. Die | |
| Löhne der Niedrigverdiener würden sinken, die Mittelschicht stagniere, die | |
| Reichen profitieren. Damit der Fortschritt unten wieder ankomme, müsse ein | |
| höherer Mindestlohn her. Und das sei der Job der SPD. Scholz promotete als | |
| erster Spitzensozialdemokrat 12 Euro Mindestlohn, damals eine Forderung der | |
| Linkspartei. Das ist der Scholz’sche Dreischritt: Analyse, Forderung, | |
| Umsetzung. Sagen, was man tut. Tun, was man sagt. Das ist auch seine | |
| Kurzfassung des Lernprozesses der SPD nach dem Agenda-Absturz. Sein Ehrgeiz | |
| in Sachen soziale Gerechtigkeit scheint mit dem Mindestlohn allerdings | |
| wieder erschöpft zu sein. | |
| Wird er in Sachen Führungsstil Merkel II. oder wird das Autoritäre der | |
| Hamburger Zeit wieder hervortreten? Eher das Erste. Die | |
| Koalitionsverhandlungen hat Scholz, wie aus allen drei Parteien zu hören | |
| war, fair moderiert. Sie sind so gelaufen, wie er es geplant hatte. Nichts | |
| drang nach außen. Alles war pünktlich fertig. Vielleicht ist er am Ziel | |
| seiner Karriere auch gelassener als früher. Vor allem aber muss er | |
| moderieren. Anders lässt sich das Dreierbündnis gar nicht managen. | |
| Bei Grünen und FDP rumort es. Die grüne Basis ist unglücklich über den | |
| [6][FDP-Verkehrsminister], für die Liberalen ist der Weg von der | |
| Oppositionsrhetorik zur Regierungspartei weit. Hier Marktradikale, dort | |
| Klimaretter – die Spannung ist groß. Scholz muss diese Fliehkräfte bändigen | |
| und ausgleichen. Mit Endlosreferaten oder als Helikopterkanzler, der alle | |
| Ministerien kontrolliert, wird er scheitern. Scholz kann früher als Merkel | |
| somit eine eher präsidiale Rolle spielen. Als Schiedsrichter und Moderator. | |
| Schon vor der Vereidigung des Kabinetts nächste Woche ist die erste | |
| Härteprobe in Sicht: Corona und die Impfpflicht. Man sieht nun die Lücken | |
| in Scholz’ Dreischritt. Tun, was man sagt heißt auch: Schweigen, wenn man | |
| es nicht weiß. Als die Coronazahlen explodierten, hielt Scholz eine | |
| belanglose Rede im Bundestag. Die Aufregung über die Coronapolitik, den Ruf | |
| nach rasch wirksamen Maßnahmen, bezeichnete er in den „Tagesthemen“ | |
| abfällig als „Grundrauschen“, Gerede ohne Folgen. Grundrauschen, das ist | |
| für Scholz die Diskussion, die er nicht kontrolliert. Die Debatte, die er | |
| noch nicht entschieden hat. | |
| Als Scholz sich klar war, was zu tun ist, kündigte er die Impfpflicht an. | |
| Das ist jetzt der Plan. In der FDP-Fraktion halten manche die Impfpflicht | |
| für eine Grundrechtseinschränkung. Deshalb wird der Fraktionszwang | |
| aufgehoben. Wenn es für die Ampel dumm läuft, braucht sie bei ihrem ersten | |
| zentralen Gesetz Stimmen von Union oder Linkspartei. Es wäre kein | |
| souveräner Start. | |
| 4 Dec 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.tagesschau.de/inland/bund-laender-corona-plaene-105.html | |
| [2] https://www.youtube.com/watch?v=sFKYA8EdZyI | |
| [3] https://www.zeit.de/2021/49/olaf-scholz-kanzler-corona-klima | |
| [4] /Neue-Indizien-im-Steuer-Skandal/!5815561 | |
| [5] /Reform-der-Finanzaufsicht-Bafin/!5804149 | |
| [6] /Kuenftiger-FDP-Minister-provoziert-Gruene/!5814750 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Reinecke | |
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