| # taz.de -- Kritik an der geplanten Bafögreform: Zum Leben zu wenig | |
| > Der Bundestag stimmt am Donnerstag über die Bafögreform ab. Die Regierung | |
| > sieht eine Trendwende, viele Studierende sehen das anders. | |
| Bild: Zwei Drittel der Studierenden müssen neben dem Studium arbeiten | |
| Am Mittwoch vergangener Woche hat Kevin Kunze noch einmal alles versucht. | |
| Der 27-Jährige ist eigens aus Lüneburg nach Berlin gereist, um vor dem | |
| Bildungsausschuss des Bundestags als Sachverständiger auszusagen. Seit | |
| Monaten wälzt der Studierendenvertreter vom freien zusammenschluss von | |
| student*innenschaften (fzs) Referentenentwürfe, spricht mit Kommilitonen, | |
| formuliert Stellungnahmen, stellt sein eigenes Studium hinten an. Nun darf | |
| er sich noch einmal persönlich zur geplanten Bafög-Reform der | |
| Bundesregierung äußern, kurz vor der Abstimmung im Bundestag am Donnerstag. | |
| Kunzes Hoffnung: Im letzten Moment Einfluss auf den Gesetzentwurf nehmen zu | |
| können. | |
| Die Bafögreform ist eines der zentralen Bildungsversprechen aus dem | |
| Koalitionsvertrag. Darin hat Schwarz-Rot eine „Trendumkehr“ versprochen. | |
| Nach Jahren sinkender Empfängerzahlen soll der Anteil der Studierenden, die | |
| Bafög erhalten, endlich wieder steigen. Zuletzt waren es nur mehr 18 | |
| Prozent. Rechnet man auch die Schüler mit ein, ist die Zahl der | |
| Bafög-Empfänger zwischen 2014 und 2017 um 180.000 auf 782.000 geschrumpft, | |
| davon 557.000 Studierende. Gleichzeitig steigt die Gesamtzahl der | |
| Studierenden stetig, auf inzwischen 2,87 Millionen. | |
| Um diese Schere zu schließen, planen CDU, CSU und SPD unter anderem, die | |
| Beitragssätze und die Wohnpauschale kräftig zu erhöhen. Vor allem sollen | |
| die Grenzen für die Einkommens- und Freibeträge der Eltern so geändert | |
| werden, dass wieder mehr Studierende überhaupt Bafög beantragen können. | |
| „Besonders Familien, die bisher knapp über den Einkommensgrenzen liegen, | |
| werden in Zukunft vom Bafög profitieren“, verspricht Bildungsministerin | |
| Anja Karliczek (CDU). | |
| Eine Einschätzung, die Kevin Kunze nicht teilt. In den drei Minuten, die | |
| ihm vor dem Bildungsausschuss im Bundestag zustehen, rattert der Student | |
| die Mängel an dem Entwurf aus seiner Sicht runter: zu geringe Erhöhungen | |
| bei den Beitragssätzen und der Wohnpauschale, zu starre Förderzeiten. | |
| ## Jobben, Studienzeit verlängern, Bafög verlieren | |
| Dann beschreibt Kunze, was er als langjähriger AStA-Vetreter an der Uni | |
| Lüneburg und Koordinator der niedersächsischen Landesastenkonferenz immer | |
| wieder miterlebt hat: Weil das Bafög nicht zum Leben reicht, jobben | |
| Studierende nebenher. Weil sie nebenher jobben, verlängert sich die | |
| Studiumsdauer. Nach Ende der Regelstudienzeit aber, kritisiert Kunze, gebe | |
| es in der Regel kein Bafög mehr. „Wenn der Nebenjob nach sechs Semestern | |
| zum Hauptjob werden muss, wird es mit dem Bachelor auch nicht schneller | |
| gehen.“ | |
| Kunze spricht aus Erfahrung – zumindest was das Jobben angeht. Bafög erhält | |
| er keines, ebenso wenig Unterstützung durch seine Eltern. Seinen Abschluss | |
| in Kulturwissenschaften wird er deshalb nicht in der Regelstudienzeit | |
| schaffen. | |
| Tatsächlich gelingt dies nach Angaben des Statistischen Bundesamts gerade | |
| mal 37 Prozent der Absolventen. Und nach der jüngsten Sozialerhebung, in | |
| der das Deutsche Studentenwerk alle drei Jahre die wirtschaftliche | |
| Situation von Studierenden erfasst, müssen zwei Drittel neben dem Studium | |
| arbeiten. Der Wert nimmt seit Jahren beständig zu. Diese Realität, | |
| kritisiert Kevin Kunze, werde von der Bundesregierung nicht ausreichend | |
| berücksichtigt. | |
| Dass Bafög allein nicht zum Leben reicht, kann Klara Kadau bestätigen. Die | |
| 27-Jährige hat an der Humboldt-Universität Berlin auf Lehramt studiert. | |
| Sowohl im Bachelor- als auch im Master-Studiengang erhielt sie den | |
| Bafög-Höchstsatz. Aktuell liegt der – inklusive Wohnpauschale und Zuschuss | |
| zur Krankenkasse – bei 735 Euro. Dennoch jobbte Kadau während des gesamten | |
| Studiums auf 450-Euro-Basis und teilte sich ein WG-Zimmer mit ihrem Freund. | |
| „450 Euro zu zweit“, sagt sie und lacht. „So hat es insgesamt gut | |
| gereicht.“ Kadau findet trotz ihrer Einschränkungen das Bafög „total | |
| grandios“. Aber davon leben? „Sehr schwierig.“ | |
| ## Steigende Mieten sind für Studierende gravierend | |
| Denn seit Jahren wurden die Bafögsätze nicht mehr an die steigenden | |
| Lebenshaltungskosten angeglichen. Die letzte Erhöhung der Beitragssätze zum | |
| Herbst 2016 betrug zwar 7 Prozent. Allerdings sind zwischen 2012 und 2016 | |
| die durchschnittlichen Gesamtausgaben der Studierenden um bis zu 55 Prozent | |
| gestiegen, stellt das Berliner Forschungsinstituts für Bildungs- und | |
| Sozialökonomie (FiBS) in einer Studie fest. Demnach benötigten Studierende, | |
| die nicht mehr im Elternhaus wohnen, bereits 2016 im Schnitt 819 Euro zum | |
| Leben, fast 100 Euro mehr als der aktuelle Bafög-Höchstsatz. | |
| Beschließt der Bundestag am Donnerstag die Reform, steigt dieser Satz bis | |
| 2020 zwar schrittweise auf 861 Euro. Das sei aber immer noch zu wenig, um | |
| den Bedarf zu decken, sagt Michael Cordes, der an der FiBS-Studie | |
| mitgearbeitet hat. Die geplanten Erhöhungen seien aus seiner Sicht | |
| „lediglich eine Anpassung, keine Verbesserung“. | |
| Besonders hart trifft Studierende die [1][rasante Entwicklung der Mieten]. | |
| Im vergangenen Jahr kostete ein WG-Zimmer an deutschen Hochschulstädten im | |
| Schnitt 363 Euro, rechnete das Moses Mendelssohn Institut in Kooperation | |
| mit dem Online-Portal WG-gesucht.de nach – bisher zahlt die Bafögbehörde | |
| pauschal 250 Euro aus. Doch auch die geplanten 325 Euro reichen vielerorts | |
| nicht mehr für ein WG-Zimmer aus. In beliebten Unistädten wie München, | |
| Frankfurt, Hamburg und Berlin liegen die Zimmerpreise schon heute deutlich | |
| über 400 Euro. Und sie steigen und steigen. | |
| Bildungsministerin Karliczek vermittelt jedoch nicht den Eindruck, dass sie | |
| die Sorgen der Studierenden, etwas Bezahlbares zum Wohnen zu finden, ernst | |
| nimmt. So meinte sie im Februar gegenüber dem Magazin Spiegel salopp, man | |
| müsse zum Studieren ja nicht in die teuersten Städte gehen. Eine | |
| Flapsigkeit, mit der sich die Bildungsministerin nicht gerade beliebter | |
| gemacht hat. | |
| ## Trendwende unwahrscheinlich | |
| „Die Bundesregierung nimmt die steigenden Lebenshaltenskosten der | |
| Studierenden sehr ernst“, versichert der bildungspolitische Sprecher der | |
| SPD-Bundestagsfraktion, Oliver Kaczmarek. Die Wohnpauschale habe man | |
| deshalb überproportional um ganze 30 Prozent erhöht. Eines will Kaczmarek | |
| aber klarstellen: Der Fokus der Novelle liege nicht allein bei den | |
| Beitragsätzen. „Was nutzt es, das Bafög perfekt auszubauen, wenn die Zahl | |
| der Berechtigten immer weiter sinkt?“ | |
| Die schrittweise Erhöhung der Freibeträge um insgesamt 16 Prozent werde den | |
| Rückgang der Bafögempfänger stoppen. Rechenmodelle, wie viele Studierende | |
| davon in Zukunft genau profitieren, haben sich laut Kaczmarek als nicht | |
| verlässlich erwiesen. Deswegen habe die Koalition als Zielvorgabe die | |
| Erhöhung der Zahl der Berechtigten festgelegt. Wie viele das konkret sein | |
| könnten, ließ Kaczmarek aber offen. | |
| Dass der Regierung mit dem vorliegenden Entwurf die versprochene Trendwende | |
| gelingt, bezweifelt die Opposition: „Die Bedarfssätze bleiben unterhalb der | |
| Armutsgrenze, und die zu geringe Wohnpauschale reicht vorne und hinten | |
| nicht“, sagt Nicole Gohlke von der Linkspartei. | |
| Der Grünenabgeordnete Kai Gehring befürchtet, dass auch „mit der geplanten | |
| Novelle der Bedeutungsverlust des Bafög nicht gestoppt“ werde. Notwendige | |
| Strukturveränderungen packe Ministerin Karliczek gar nicht erst an. Dazu | |
| gehören aus Sicht der Grünen eine automatische Erhöhung der Bafögsätze, die | |
| Unterstützung pflegender Studierender oder die Förderung eines | |
| Orientierungssemesters an der Hochschule. | |
| ## Keine einzige Forderung wurde übernommen | |
| Punkte, die so oder so ähnlich auch Gewerkschaften, das Deutsche | |
| Studentenwerk und der Bundesrat beanstandet haben. Im März schickte | |
| Letzterer ein ganzes Bündel an Änderungsanträgen an die Regierung. Auch | |
| Linkspartei, AfD und FDP haben eigene Anträge gestellt. Angenommen hat die | |
| Regierung nach Informationen der taz bisher nur einen Vorschlag des | |
| Bundesrats: Künftig sollen Studierende, die nahe Angehörige pflegen, länger | |
| Bafög erhalten. | |
| „Das ist sehr begrüßenswert“, sagt Armin Willingmann der taz. Willingmann | |
| ist SPD-Wissenschaftsminister von Sachsen-Anhalt und hat sich im Bundesrat | |
| besonders für die Öffnung des Bafög für ein Orientierungssemester für | |
| Studienanfänger stark gemacht. „Die Studierenden kommen jung an die | |
| Hochschulen und sollen sich ohne Bedenken Zeit nehmen können, das passende | |
| Studienfach zu finden.“ Dass die Bundesregierung diesen und weitere | |
| Nachbesserungswünsche der Länder nicht aufgegriffen hat, bezeichnet | |
| Willingmann als „bedauernswert“. | |
| Er hätte es zum Beispiel sehr begrüßt, wenn sich der Mietzuschuss an das | |
| Mietenniveau der jeweiligen Stadt anpassen würde. Aber das sei nun mal der | |
| Preis dafür, dass der Bund seit 2015 allein die Bafögkosten trage und | |
| dadurch die Länder mit etwa 2,9 Milliarden Euro im Jahr entlaste. Seither | |
| kann der Bundestag allein über Änderungen am Baföggesetz entscheiden. | |
| Auch Studierendenvertreter Kevin Kunze ist enttäuscht über den finalen | |
| Gesetzentwurf. Von den Forderungen, die er bei der Anhörung im Bundestag | |
| vorgetragen hat – etwa die Verlängerung der Bafögförderdauer um zwei | |
| Semester –, wurde keine einzige übernommen. Dabei dachte er, dass nur einer | |
| seiner Vorschläge utopisch gewesen sei: ein Bafög, das unabhängig vom | |
| Einkommen der Eltern gezahlt wird und von dem der Staat keinen Cent | |
| zurückverlangt. | |
| 15 May 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ralf Pauli | |
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