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# taz.de -- Kriminalitätsschwerpunkt Straßenverkehr: Mit aller Brutalität
> Autofahrer:innen stellen ein Viertel aller Verurteilten in
> Deutschland. Doch vielen fehlt Bewusstsein für ihre Taten.
Bild: Mehr als 1.200 Menschen starben im ersten Halbjahr 2024 im Straßenverkehr
Wie viele Menschen, glauben Sie, wurden in den ersten sechs Monaten dieses
Jahres durch Verkehrsunfälle in Deutschland verletzt?
a) 1.000
b) 10.000
c) 100.000
Tatsächlich gab es l[1][aut Statistischem Bundesamt] 174.000 Unfallopfer,
mehr als 950 pro Tag, rund 80 Prozent davon durch motorisierten Verkehr.
Wäre man der Friedrich Merz unter den Verkehrspolitikern, müsste man
[2][den nationalen Notstand ausrufen]. Tatsächlich ist das aber der
akzeptierte Normalzustand in all seiner Brutalität: der Preis, den die
Gesellschaft stillschweigend zu zahlen bereit ist, damit wir alle Auto
fahren können.
Zu den 174.000 Verletzten kommen übrigens noch 1.292 Tote. Und nein, es ist
kein Trost, dass diese Zahl minimal niedriger ist als im Vorjahr. Oder
würde jemand bei den Angehörigen und Freund:innen der Getöteten um
Verständnis bitten? Weil es doch insgesamt etwas besser geworden ist?
## Aktivist mit Schwimmnudel
[3][Damit wären wir bei Natenom.] Unter diesem Pseudonym hatte sich der
43-jährige [4][Andreas Mandalka] auf Onlinekanälen einen Namen gemacht als
der Fahrradaktivist, der eine Schwimmnudel auf seinen Gepäckträger klemmte,
damit überholende Autofahrer:innen wenigstens auf die Idee kommen
könnten, den eigentlich vorgeschriebenen Abstand von 1,5 Metern
einzuhalten.
Am 30. Januar hatte er sich nach einer Einkaufstour über die Landstraße von
Schellbronn nach Neuhausen in Baden-Württemberg [5][auf Mastodon] über die
Fahrerin eines „Riesenarschlochpanzers SUV Geländewagens“ aufgeregt, die
ihn erst abgedrängt und beim anschließenden Wiedertreffen auf dem
Supermarktparkplatz auf ihrem Recht zum Vorbeidrängeln bestanden habe.
[6][Eine Stunde später war Natenom tot. Auf dem Rückweg überfahren von
einem damals 77-Jährigen]. Der Fall [7][löste deutschlandweit Entsetzen
unter Verkehrsaktivist:innen aus] – und ein Ermittlungsverfahren der
Staatsanwaltschaft.
Acht Monate später ist die zu einem klaren Ergebnis gekommen: Der
Autofahrer habe den Radler „trotz guter Sichtverhältnisse aus Unachtsamkeit
gänzlich übersehen“ und sei „ungebremst mit einer Geschwindigkeit zwischen
80 und 90 km/h auf den Fahrradfahrer aufgefahren“. Die Staatsanwaltschaft
ist davon überzeugt, dass sich Natenom „vorschriftsmäßig verhalten hat und
insbesondere durch seine Warnweste sowie die eingeschaltete
Fahrradbeleuchtung ausreichend für andere Verkehrsteilnehmer sichtbar war“.
## Hartes Durchgreifen?
[8][Sie erwirkte daher einen Strafbefehl] wegen fahrlässiger Tötung. Der
Pkw-Fahrer soll eine Geldstrafe in Höhe von 150 Tagessätzen zahlen und zwei
Monaten auf den Führerschein verzichten. Das klingt nicht gerade nach
hartem Durchgreifen. Eher wie ein Appell: Fahr lässig weiter; nicht so
schlimm.
Doch was macht der Fahrer? Er legt Widerspruch ein – wie so viele in
ähnlich gelagerten Fällen. Bleibt es dabei, kommt es zum Prozess. Aber man
darf dem Sturkopf dankbar sein. Denn ein öffentliches Gerichtsverfahren
bietet die Möglichkeit, über Verkehrsunfälle wie diesen zu reden.
Das ist unbedingt nötig. Weil nur so die Debatte geführt werden kann, wie
angemessen zwei Monate Führerscheinentzug nach der Tötung eines Menschen
sind. Und ob es nicht dringend eines anderen Umgangs mit einem der größten
Kriminalitätsschwerpunkte der Republik bedarf: [9][Jede vierte Verurteilung
in Deutschland erfolgt wegen einer Straftat im Straßenverkehr].
Und dabei geht es nicht mal um die nur als Ordnungswidrigkeiten
eingestuften Taten wie zu hohe Geschwindigkeit oder zu geringer Abstand. Es
geht um weitaus schwerwiegendere Vergehen und Verbrechen. In einer
utopischen Welt ohne motorisierten Individualverkehr würden nicht nur die
Umwelt und die Kliniken, sondern auch die Justiz radikal entlastet.
## Autofahrer:innen schaden nicht nur sich selbst
Dabei sind Autofahrer:innen keinesfalls schlechtere Menschen als etwa
Fahrradfahrer:innen. Im Gegenteil, man darf die These in den Raum
stellen, dass sie sich sogar häufiger als Radler:innen an die – meist
eigens für ihr flottes Fortkommen aufgestellten – Regeln halten. Aber sie
nutzen nun mal das weitaus gefährlichere Instrument.
Wer sich – mal als Beispiel – vier Wochen nach eine Gehirn-OP auf ein Rad
setzt und in einer Stresssituation einen epileptischen Anfall bekommt,
nimmt meist selbst den größten Schaden. Wer in der gleichen Situation aber
am Steuer eines hoch motorisierten Pkw sitzt, rast vier Menschen tot.
[10][So geschehen vor fünf Jahren in Berlin].
In der aktuell erregt geführten Debatte über die gesellschaftliche
Bedrohung durch Besteck redet niemand über Löffel. Es geht n[11][ur um die
Messer.] Da aber ist man quer durch die Parteien [12][mit Verboten] schnell
bei der Hand. Kann sich jemand eine ähnliche Diskussion über die weitaus
größere Gefahr auf Deutschlands Straßen vorstellen, über die Straftäter am
Steuer? Sie scheint undenkbar. Und genau das ist das Problem.
Anm. der Redaktion: In einer früheren Version hieß es, dass die 174.000
Verletzten der ersten sechs Monate dieses Jahres mehr als 230 pro Tag
entsprächen. Tatsächlich ist es viel schlimmer: Es sind es mehr als 950 pro
Tag. Wir haben den Fehler korrigiert. Merke: Nicht mit erkältetem Kopf
rechnen, da kommt Mist bei raus.
12 Oct 2024
## LINKS
[1] https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/08/PD24_322_46241…
[2] https://youtu.be/ekxkveEnE2k?si=BTSTR3gTuQSLrbvd
[3] /Fahrradaktivist-Natenom-tot/!5989820
[4] https://bw.adfc.de/artikel/nachruf-natenom
[5] https://social.anoxinon.de/@[email protected]/111846185197146070
[6] /Fahrradaktivist-Natenom-tot/!5989820
[7] /Gedenken-an-Radaktivist-Natenom/!5991609
[8] https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/137462/5879216
[9] https://www-genesis.destatis.de/datenbank/beta/statistic/24311/table/24311-…
[10] /SUV-Unfall-mit-vier-Toten-in-Berlin/!5876338
[11] /Massnahmen-gegen-Messer-Gewalt/!6030369
[12] /Waffenrecht-soll-verschaerft-werden/!6027042
## AUTOREN
Gereon Asmuth
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