# taz.de -- Italien vor den Regionalwahlen: Die Sucht nach der Krise | |
> Nicht erst Corona hat Italien schwer gebeutelt. Was es braucht, ist | |
> Zusammenhalt. Der aber erodiert seit Jahren. | |
„Krise? Sie sind am richtigen Ort. Damit kennen wir uns sehr gut aus“, sagt | |
Mirko Lami – und lacht. Der 56-jährige Gewerkschafter mit der imposanten | |
Figur hat mehr als 30 Jahre in einem Stahlwerk in der Industriestadt | |
Piombino an der toskanischen Küste gearbeitet. | |
Die deutschen Urlauber:innen, die am Hafen von Piombino auf die Fähre zur | |
Insel Elba warten, schnuppern die Luft und rümpfen die Nase. Ihre Blicke | |
wandern zu den Schornsteinen und rostigen Zisternen, die sich in der Bucht | |
spiegeln. | |
Nein. Piombino ist nicht die Postkarten-Toskana der Olivenhaine und | |
Weinberge. Aber es ist ein guter Ausgangspunkt, um zu verstehen, was in | |
Italien geschieht. | |
In der Toskana und in sechs weiteren Regionen finden am 20. und 21. | |
September Regionalwahlen statt. Einigen Umfragen zufolge könnten sie zu | |
einem Siegeszug der Rechts-rechts-Koalition aus Lega, Brüder Italiens und | |
Forza Italia werden. Das würde die Zukunft der regierenden Koalition aus | |
5-Sterne-Bewegung, Demokratischer Partei (PD), Italia Viva (IV) und | |
Italienische Linke infrage stellen. Hinzu kommt noch ein Volksentscheid | |
darüber, ob die zwei Kammern des Parlaments um insgesamt 345 Sitze | |
reduziert werden sollen. | |
Doch an diesem “election day“ geht es um mehr als um Parlamentssitze und | |
Regionalpolitik. Es geht darum, ob Italien auf die nächste politische und | |
soziale Krise zusteuert. | |
Im Umgang mit Krisen sind die Bewohner:innen Piombinos tatsächlich erprobt. | |
Als der junge Mirko Lami 1986 seine erste Schicht im Stahlwerk begann, war | |
die Stadt noch eine der wichtigsten Produktionsstätten für Gusseisen und | |
Walzstahl in Europa mit rund 5.000 Beschäftigten. Heute arbeiten gerade mal | |
700 Menschen in der Stahlhütte – die Hälfte von ihnen in Kurzarbeit. „Es | |
ist eine Geschichte, die viel zu viele Industriegebiete in Europa kennen“, | |
sagt Lami. Seit den 1990er Jahren folgte Krise auf Krise. Millionenschwere | |
Sanierungspläne wurden entworfen und wieder verworfen. Internationale | |
Investor:innen kamen und gingen. Dann kam die große Finanzkrise. 2014 wurde | |
der Hochofen endgültig ausgeschaltet. Seitdem sind mehr als 3.000 | |
Arbeitsplätze verloren gegangen – viel für eine Kleinstadt mit etwas mehr | |
als 30.000 Einwohner:innen. | |
„Das verändert das Leben der Menschen“, sagt Lami. Inzwischen hätten sich | |
viele Familien daran gewöhnt, mit den monatlichen 850 Euro der | |
Lohnausgleichskasse klarzukommen. Viele Arbeiter:innen seien durch die | |
erzwungene Inaktivität stumpf und lustlos geworden. Die Krise habe ihnen | |
jegliche Motivation genommen. Wie eine Droge. „Man lebt von Tag zu Tag“, | |
sagt Lami. „Und irgendwann wird die Krise zur Normalität.“ | |
Piombino ist Italien „[1][in nuce]“, in einer Nussschale. Wie in der | |
kleinen Industriestadt stagniert auch im Rest des Landes die Wirtschaft | |
seit Jahrzehnten. Schon vor der Finanzkrise hatte im Süden etwa die Hälfte | |
der Menschen keine Arbeit. Während andere europäische Länder im vergangenen | |
Jahrzehnt die Krise hinter sich gelassen haben, blieb Italien bis heute wie | |
gelähmt. | |
Und wie aus ganz Italien ziehen auch aus Piombino immer mehr Menschen weg | |
– vor allem junge, gut gebildete. Auch nach Deutschland. Wer bleibt, ist | |
oft verbittert und verzweifelt: „Man spürt einen tiefliegenden Hass. Die | |
Leute reden nicht mehr miteinander. Ab und zu ist es fast besser so“, sagt | |
der Gewerkschafter – und lacht wieder. Aber das Lachen wirkt forciert. | |
Wie so oft entlud sich der Hass der Piombinesi auf die Stadtverwaltung. | |
Mehr als 70 Jahre lang regierten in der stolzen Arbeiterstadt die | |
Kommunistische Partei und ihre Nachfolgerinnen. Dann, vor etwa einem Jahr, | |
setzte sich eine Mitte-rechts-Koalition durch – wie bereits in vielen | |
Kommunen der „roten“ Toskana. | |
Die einst revolutionäre Linke verkörpert hier wie an keinem anderen Ort in | |
Italien das Ancien Régime. Sie sei für den Stillstand verantwortlich, der | |
die Region und das Land lähmt – sagen aufstrebende, | |
Anti-Establishment-Politiker:innen, die gern eine radikale, jedoch etwas | |
ungenau ausformulierte Wende versprechen. Aufstrebende Politiker:innen | |
wie die Kandidatin der Lega bei der Regionalwahl, Susanna Ceccardi: „Vor | |
einem Jahr haben wir Piombino erobert“, sagt die 33-jährige | |
Ex-Bürgermeisterin von Cascina bei Pisa. „Ende September erobern wir die | |
ganze Region.“ | |
## Contes Team hat sich gar nicht schlecht geschlagen | |
Von ihrem Parteichef, [2][Matteo Salvini], hat Ceccardi viel gelernt – vor | |
allem darüber, wie man Politik in kleinen Gemeinden und Vorstädten macht. | |
Sie war den ganzen Sommer unterwegs – traf Unternehmer:innen, Arbeitslose | |
und Rentner:innen. Salvini war oft dabei. In Ceccardis Reden spielen | |
aber Salvinis Lieblingsthemen – Einwanderung und die Machenschaften der | |
Europäischen Union – eine untergeordnete Rolle. Kein Zufall: Die Toskana | |
ist eine der italienischen Regionen, die am meisten von der Arbeit der | |
Einwanderer:innen profitieren. Und die lokalen Unternehmen pflegen enge | |
Beziehungen zu europäischen Partnern. | |
Ceccardi gibt sich gern gemäßigt und bodenständig. Die Nationalpolitik | |
interessiere sie wenig, sagt sie. Sie denke in erster Linie an die Toskana. | |
Dass, wenn sie die „rote Hochburg“ erobern sollte, die Regierungskoalition | |
in Rom wahrscheinlich zerbrechen würde, beschäftige sie im Moment nicht. | |
In den jüngsten Umfragen liegt die junge Ex-Bürgermeisterin gerade mal 0,5 | |
Prozentpunkte hinter dem Kandidaten der regierenden Mitte-links-Koalition – | |
dem Politikveteranen Eugenio Giani. Giani ist ein Mann des Establishments: | |
Sein halbes Leben bekleidete der 61-Jährige verschiedene Ämter in der | |
regionalen Verwaltung. Seine öffentlichen Auftritte ziehen im Vergleich zu | |
den gut inszenierten Meet-and-greet mit Ceccardi und Salvini wenige | |
Zuschauer:innen an. | |
Salvini und sein Team haben viel Energie in den Wahlkampf in der Toskana | |
investiert. Denn die Region ist das strategisch wichtigste Schlachtfeld für | |
die Mitte-rechts-Koalition. Sollte die „rote Hochburg“ fallen, wären die | |
Tage der amtierenden Nationalregierung unter Giuseppe Conte gezählt. | |
Dabei hat sich Contes Team bis jetzt gar nicht mal so schlecht geschlagen: | |
Es hat [3][einen der virulentesten Covid-19-Ausbrüche weltweit] unter | |
Kontrolle gebracht, einen rigorosen Lockdown ohne große Aufregung | |
durchgesetzt und [4][eine starke Unterstützung der EU beim | |
Post-Covid-Wiederaufbau] gesichert. Contes Popularitätswerte sind so stabil | |
wie noch nie. | |
Die Regierungskoalition hingegen [5][ist alles andere als stabil]: | |
Demokraten und 5-Sterne-Bewegung sind im Dauerstreit. Bei den | |
Regionalwahlen treten die Partnerparteien gegeneinander an. Auch über den | |
Volksentscheid zur Reduzierung der Abgeordnetensitze gibt es Zoff: Viele | |
Demokrat:innen lehnen die Symbolreform der 5 Sterne als „populistisches | |
Hirngespinst“ ab. | |
Die scheinbare Richtungslosigkeit der Regierung wirkt sich auf die | |
Umfragewerte aus. Seitdem sie das Protestpartei-Image aufgegeben hat, um | |
mit den Demokraten zu koalieren, hat die 5-Sterne-Bewegung mehr als die | |
Hälfte ihrer Wähler:innen verloren. Derzeit liegt sie in den Umfragen | |
bei 15 Prozent. Die Demokraten bei knapp über 20 Prozent. | |
Wird es also in Italien bald eine Rechts-rechts-Koalition unter Salvinis | |
Führung geben? Eher unwahrscheinlich. Denn auch Salvinis Lager ist nicht | |
besser aufgestellt: Obwohl sie immer noch die stärkste Partei Italiens ist, | |
hat die Lega in einem Jahr 10 Prozentpunkte verloren und liegt derzeit bei | |
25 Prozent. Zusammen mit den Partnerparteien käme der Ex-Innenminister auf | |
rund 40 Prozent. | |
Die Wahrheit ist: Keine Partei kann derzeit dem Land eine neue Richtung | |
geben. Und die meisten wollen das auch nicht – zumindest nicht in dieser | |
Phase. | |
Italien ist das Land, [6][das wohl am meisten in Europa von der Pandemie | |
betroffen war]. Eine Halbe Million Arbeitsplätze sind seit Anfang des | |
Jahres verloren gegangen, schätzt das statistische Institut Istat. Deshalb | |
hat die Europäische Union der Conte-Regierung ein Rettungspaket von 209 | |
Milliarden Euro in Aussicht gestellt. Dieses ist allerdings an sehr strenge | |
Bedingungen gebunden. Unabhängig davon, welche Koalition das Land regiert, | |
werden die Brüsseler Buchhalter:innen darauf achten, dass Italien auf Kurs | |
bleibt. Nach dem Ausbruch der Pandemie hat sich die Situation auch in | |
Piombino zugespitzt: Mehrere Familien leben jetzt von Essensmarken. Die | |
Wende, die die neue Stadtregierung versprochen hat, blieb aus. | |
Es ist aber nicht nur die Covid-19- oder die Wirtschaftskrise, die das Land | |
lähmt. Das Problem liegt tiefer. | |
„Seit 25 Jahren ist die italienische Politik im Krisenmodus“, sagt | |
Politikwissenschaftler Michele Prospero. Schon in der glamourösen | |
Berlusconi-Ära sowie später unter verschiedenen Notstands- und | |
Zweckregierungen seien Allianzen und Parteien im Handumdrehen entstanden | |
und wieder auseinandergebrochen. Politik und Verwaltung hätten sich dabei | |
immer mehr voneinander entfernt. Conte hat die Krise gut verwaltet. Er und | |
seine Koalition haben aber kein politisches Profil. Salvini hingegen hat | |
eine klare politische Linie, kann das Land aber offensichtlich nicht | |
verwalten. | |
Dabei sei die Politik nur ein Spiegelbild der Gesellschaft, sagt Prospero: | |
„Es fehlt in Italien eine Gesellschaftskoalition: eine | |
Interessengemeinschaft aus Arbeitgeberin:innen und -nehmer:innen, | |
Angestellten und Unternehmer:innen, die sich gemeinsam vornehmen, die | |
Krise zu bewältigen.“ | |
Um aus der Dauerkrise zu kommen, bräuchte es also mehr Motivation und | |
Zusammenhalt – genau die aber sind durch die Krise am meisten erodiert. | |
Tatsächlich wirkt die Krise wie eine Droge: Man sagt sich gern, man will da | |
raus – doch je länger man drinsteckt, desto schwieriger wird das, desto | |
machtloser fühlt man sich. Bis man irgendwann ohne dieses Gefühl der | |
Ungewissheit nicht mehr leben kann. | |
14 Sep 2020 | |
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## AUTOREN | |
Fabio Ghelli | |
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